1000 Entscheidungen. 1000 Wege. 1000 Abenteuer.

Als freischaffende*r Bühnenkünsler*in bedeutet das «frei» zwar eine gewisse Flexibilität und Selbstbestimmung. Es beinhaltet aber auch, sich jeden Tag aufs neue selbst entscheiden zu müssen. Für alles, in jede Richtung.

von Corinne Soland

Dieses Mal tippse ich in New York City. 9 Wochen habe ich mir Zeit genommen, um in den USA Verwandte und Freund*innen zu besuchen sowie neue Kontakte zu knüpfen. 9 Wochen – das ist mehr als eine Probezeit für ein abendfüllendes Stück! Zahlende Jobs davor und danach erlauben mir diese Reise.

Es ist ein Traum, so flexibel sein zu können. Unsichtbar und auch real ist, dass in der Zeit auch E-Mails beantwortet, Anfragen gelesen, Bücher studiert, Texte gelernt und – okay, eigentlich alle meine Jobs der nächsten Spielzeit bis Ende Sommer 2024 organisiert sein wollen.

Freischaffende*r Schauspieler*in zu sein, heisst oft auch, selbst zu produzieren, Agent*in zu spielen und zu verhandeln, wenn nötig in unterschiedlichen Sprachen, mit drei verschiedenen Teams und einem zeitlichen Vorlauf von ein paar Stunden bis zu zwei Jahren. Mit vier Kolleg*innen habe ich mich ausgetauscht über Fragen bezüglich Verträgen, die wir unterschreiben sollten.

Kann sie*er das tun, obwohl wir wissen, dass es zu wenig Gage ist – und dürfen wir dann trotzdem öffentlich dafür einstehen, dass Gagenrichtlinien eingehalten werden sollen? Kann ich den Vertrag unterschreiben mit der Produktionsfirma, die mit dem grossen Streaming-Dienst zusammenarbeitet, gegen dessen Umgang mit Künstlicher Intelligenz ich letzte Woche demonstriert habe? Die Gründe für unsere Entscheidungen sind so unterschiedlich wie wir als Menschen und Künstler*innen.

Vielleicht seid ihr gerade fest an einem Haus und die Zeit des Herumreisens ist endlich hinter euch. Vielleicht singt ihr seit 20 Jahren im Chor und liebt die Stabilität, die euch euer Beruf gibt. Vielleicht seid ihr Deutsche Bahn Dauergäste und lebt quasi von den Waffeln im obersten Regal des Selecta-Automates. Vielleicht macht ihr pro Jahr eine Produktion, die ihr auch noch selber mitproduziert, aufzieht, betreut, verkauft und auswertet.

Vielleicht habt ihr euch in der Stadt, in der ihr spielt, eine Familie aus Künstler*innen aufgebaut, mit denen ihr gerne zusammenarbeitet. Vielleicht habt ihr Familie und übt das Singen nicht mehr hauptberuflich aus. Vielleicht unterrichtet ihr. Vielleicht arbeitet ihr in einem Geldjob, um die Miete zu bezahlen und habt 3 Drehtage pro Jahr. Oder einen.

Vielleicht investiert ihr viel Geld in Weiterbildungen jedes Jahr und fragt euch: Wohin fliesst eigentlich dieser Effort? Vielleicht seht ihr Kolleg*innen, die irgendwohin in der Welt herumjetten oder konstant drehen und fragt euch: Wie schaffe ich das? Vielleicht bist du in einem Stück nach dem anderen und irgendwie kommt dir aber alles so ein bisschen schal vor. Vielleicht stehst du seit 10 Jahren wieder zum ersten Mal auf der Bühne und fühlst das Glück, das durch deine Muskeln jagt, als ob du die Welt umarmen könntest.

Vielleicht schaffst du es gerade, dich von ganz schlimmen Erfahrungen zu distanzieren, die du mit einer Gruppe gemacht hast. Vielleicht hast du gerade eine Schule abgeschlossen und bist unendlich gespannt und aufgeregt und voller Hoffnung sowie Zweifeln, ob das, wovon du träumst, sich einlösen wird. Vielleicht hast du dich gerade nach ein paar Berufsjahren entschieden, das Tanzen an den Nagel zu hängen.

Vielleicht triffst du deine Freund*innen einmal pro Woche, um an deinen Fähigkeiten zu arbeiten. Vielleicht leistest du dir zweimal im Monat ein Kino- oder Ballett Ticket, um dir “die ganz grossen Meister*innen” – die GOATs – anzuschauen.

Vielleicht liest du deinen Kindern aus Büchern vor und ihr habt die grösste Freude, den Figuren unterschiedliche Stimmen zu geben. Vielleicht bist du in einer Tanzcompagnie, die gerade mit der neuesten Technologie ihre Bewegungen in ein 3D Partikel-Meer übersetzen möchte.

Vielleicht suchst du mehr Jobs, vielleicht sehnst du dich nach weniger zu tun, vielleicht hast du so harte Wangenmuskeln, weil du bei Lohnverhandlungen immer wieder auf die Zähne beissen musst. Vielleicht fragst du dich, wo deine Zeit hingegangen ist, vielleicht fragst du dich, ob es jemals einen roten Teppich gibt, über den du laufen wirst, vielleicht vermisst du die Zusammenarbeit mit Kolleg*innen. Vielleicht hältst du deinen Körper mit Sport fit, vielleicht brauchst du Abstand, vielleicht ist eigentlich alles gut, nur die Premierenfeiern sind immer eine emotionale Überforderung.

Vielleicht fühlst du dich manchmal komplett alleine und hilflos und so unglaublich unglaublich ausgeliefert. Vielleicht arbeitest du gerade mit einem Team, das sich auf Regeln geeinigt hat, wie mensch miteinander umgehen möchte und welche Pronomen ihr benutzt. Vielleicht arbeitest du gerade an einem Stück, von dem du hoffst, dass es die ganze Welt sehen könnte. Vielleicht wird dein Horizont erweitert durch den Dreh, vielleicht wirst du wütend, wenn das Publikum interagiert.

Vielleicht wolltest du eigentlich immer Theater ohne Worte machen.

Egal, wie unterschiedlich unsere Wege sind, egal wie unterschiedlich unsere Karrieren, unsere Ziele, unsere Träume und die realen Möglichkeiten: Vielleicht ist es jetzt Zeit für den mutigen Schritt. Vielleicht ist es jetzt Zeit für die Veränderung, diese Weiterbildung, diesen Rückzug oder diese Reise. Vielleicht jetzt.

Corinne Soland schreibt im ENSEMBLE zum Leben in einer als Darsteller*in im 21. Jahrhundert. Corinne spielt “Anna” in Neumatt, “Isabelle” in Monsieur Claude und seine Töchter (Bernhard Theater), “Emma” im VR Game Amazing Monster! und spricht als “Jimmy” und “Dimitri” im Guetnachtgschichtli. Corinne lebt in Basel und unterrichtet Motion Capture Schauspiel an interessierte Spielende.

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