Reale Begegnungen schlagen virtuelle Castings

Corinne Soland geniesst den persönlichen Kontakt zu Kolleg*innen in einer zunehmend digitalen Welt. Durch Beziehungen entstehen Projekte, durch Festivals entstehen Beziehungen – Mensch zu Mensch.

Diesen Monat hatte ich die grosse Freude, für das Ensemble Magazin ein Gespräch mit Cheryl Burniston führen zu können. Die Schauspielerin aus England ist zusätzlich ausgebildet in Kampfchoreografie für Film und Fernsehen sowie Stuntarbeit. Sie spielte bereits in grossen Games wie „Final Fantasy XVI“ und „The Dark Pictures Anthology: Little Hope“.

Nicht nur war das Gespräch per Videocall wahnsinnig bereichernd, wir haben uns dann auch persönlich kennengelernt an der ZFICTION Tagung zum Thema «Future Bodies. Screen Acting in the Digital Age». Das ist schon beeindruckend: Auch wenn vieles heute über E-Castings läuft und für Games sogar über LinkedIn und/oder X (ehemals Twitter) nach der passenden Besetzung gesucht wird – es geht doch fast nichts über eine persönliche Begegnung. Egal wie toll wir unseren Instagram Feed kuratieren, wenn es in einem Gespräch klickt, dann klickt es. Und dann hat mensch Lust, miteinander zu arbeiten.

Wenn ich zum Schauspiel der Zukunft schreibe, so ist immer auch zu berücksichtigen, dass, trotz all der Digitalität, sehr vieles von dem, was einem Jobs verschafft oder Sichtbarkeit garantiert, offline passiert. An Ausstellungen, welche Digitale Kunst ins Zentrum stellen, die aber mit dem Körper „in person“ besucht werden müssen, damit die von den Aussteller*innen gewünschte Immersion funktioniert.

Im Kino, im Theater, beim Kaffee, durch Empfehlung einer*s Bekannten, in Filmjobs- und Theaterjobs-Chatgruppen, auf Foren und Servern wie Discord. Vielleicht weniger an Premieren, wie allgemein angenommen. Vor ein paar Wochen habe ich mit zwei Spielpartner*innen überlegt, wie wir Premierenfeiern in etwas verwandeln können, was nicht nur denjenigen, die Geld haben oder gegeben haben, zugutekommt, sondern vor allem dem Ensemble und dem künstlerischen Team. Vielleicht eine interne Feier zuerst? Auch dieses Gespräch entstammt dem Wunsch, sich noch länger etwas nah zu sein nach der Übergabe des „Babys“, nach der künstlerischen Geburt, als Elternteile noch etwas gemeinsam wehmütig zu sein über diesen Transformationsprozess.

Natürlich brauchen nicht alle das gleiche, für einige Darstellende ist es eine grosse Erleichterung, nicht mehr immer nach Züri fahren zu müssen für ein kurzes Casting, sondern erstmal eine Videodatei einsenden zu können. Dennoch: haben wir die sehr seltene Gelegenheit, persönlich in den Raum eingeladen zu werden, in dem Regie und Casting sitzen, dann ist das nicht nur eine tolle Gelegenheit, eine Rolle zeigen zu dürfen, es schenkt uns auch Erinnerungen, an die wir physisch zurück”denken“ können. Unsere Zellen werden sich erinnern, weil wir in Beziehung standen zu anderen Zellen im Raum, Menschen, die gefühlt, gedacht und mit uns interagiert haben. Die sich – wie wir uns auch – eingegeben haben, eingelassen auf ihr Gegenüber. Zugehört. Nachgedacht. Spontan rausgelacht. Oder noch kurz umarmt oder zugewinkt am Schluss.

Sich persönlich zu treffen, hat einen wichtigen Stellenwert. Was aber, wenn die Rollen, die ich möchte, nicht in Züri zu bekommen sind? Wenn sie im benachbarten Ausland sind – oder im zeitlich und reisetechnisch sehr weit entfernten Ausland? Wie kann ich diese Kontakte pflegen, ausser in ihre privaten DMs in den Sozialen Medien zu „sliden“ (sie dort persönlich anzuschreiben :)) oder mich zurückzuhalten, nochmals das Kontaktformular ihrer Website abzuschicken, nachdem sie auf die ersten zwei Versuche nicht reagiert haben?

Natürlich kommen da Festivals ins Spiel! An Festivals ist es wohl am offensichtlichsten: Da zu sein heisst, sichtbar zu sein. Vielleicht wäre es gut, in Zukunft Förderung anzubieten für Spielende, auf Festivals gehen zu können. Das Schweizer Theatertreffen macht das mit dem Forum junger Theaterschaffender. Das ist ein Stipendienprogramm, welches es jungen Theaterschaffenden bis 35 ermöglicht, an das Theatertreffen zu gehen – und kein Geld dafür ausgeben zu müssen. 15 Menschen dürfen Vorstellungen und Workshops besuchen sowie kostenfrei am jeweiligen Ort leben und essen. Diese Möglichkeit richtet sich laut der Ausschreibung „ausdrücklich“ an „Studierende von Kunsthochschulen und kunstwissenschaftlichen Fächern“. Das ist wahnsinnig toll – gleichzeitig wünsche ich mir, dass es auch Theatermenschen und Spielenden, welche nicht den klassischen Weg über eine Hochschulausbildung gehen, leichter gemacht wird, Kontakte in die Szene knüpfen zu können.

Mit wem wir in Berührung kommen, ist entscheidend für unsere Professionalisierung. Wer mit wem spielt und wer wem welche Möglichkeit eröffnet, sichtbar zu werden, ist wichtig. Wer gibt mir immer die gleiche Rolle und wer lässt mich auch mal über meinen „Typecast“ hinausspielen? Wer wen unterstützt in Foren, Chatgruppen, wer wem welche Ausschreibung weiterleitet – es geht immer darum, wer mit wem in Beziehung ist.

Zwischenmenschliche Beziehungen sind laut Alfred Adler das, was uns als Menschen prägt. Vor allem anderen. „Adler betrachtet den Menschen nicht nur als Reflex auf die Einflüsse der Aussenwelt, sondern als eine schöpferische Auseinandersetzung des Individuums mit seiner Umwelt.“ Sehr spannend finde ich in diesem Zusammenhang folgendes: „Adler weist besonders darauf hin, dass der nicht verbundene Mensch seine Geltung in der Macht oder Unterwerfung suchen kann, die Menschen in Oben und Unten einteilt und bei entsprechenden Möglichkeiten Macht ausübt.“

Salopp gesagt, kann Verbundensein mit einer Gemeinschaft also dabei helfen, dieselbe Gemeinschaft um nicht noch mehr Egozentrismus und Machtgehabe zu bereichern. Vielleicht ist es wichtig, sich die Menschen hinter den  Machtstrukturen zu denken. Wahrscheinlich hilft es, die menschliche Beziehung in den Vordergrund zu rücken, das Verhältnis. Egal, welche Beziehung: wir möchten immer etwas. Und sei es nur, gesehen oder gehört zu werden. Manchmal ist es auch, gehalten zu werden.

Ich glaube, die Zukunft des Schauspiels liegt in unseren Beziehungen. Wie wir füreinander einstehen, wenn die Gagen wieder sinken (omg, ich hoffe nicht noch mehr). Wen wir mit ins Boot ziehen für ein Projekt, weil wir mit diesen Menschen Lebenszeit verbringen möchten. Wen wir anderen empfehlen, unabhängig davon, ob uns das gerade nützt oder nicht. Wen wir informieren über etwas, was wir herausgefunden haben, Tipps und Tricks.

Wenn wir füreinander da sind, fängt das vieles auf, was die Strukturen ruinieren. Und dann sind wir etwas weniger müde, gegen diese Strukturen anzugehen oder selber neue zu bauen. In der Hoffnung, dass ich das jetzt nicht verkitscht habe, weil es echt auch manchmal undankbare Arbeit ist, freue ich mich, euch in Chats zu begegnen oder eure Arbeiten zu sehen und danach im persönlichen Gespräch darüber zu sprechen – oder über Alfred Adlers Individualpsychologie, haha. In dem Sinne schliesse ich jetzt mal mit einem Buchtipp: The Courage to be Disliked von Ichiro Kishimi und Fumitake Koga.

Corinne Soland schreibt im ENSEMBLE zum Leben in einer als Darsteller*in im 21. Jahrhundert. Corinne spielt “Anna” in Neumatt, “Isabelle” in Monsieur Claude und seine Töchter (Bernhard Theater), “Emma” im VR Game Amazing Monster! und spricht als “Jimmy” und “Dimitri” im Guetnachtgschichtli. Corinne lebt in Basel und unterrichtet Motion Capture Schauspiel an interessierte Spielende.

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