Schweizerisches Theatertreffen mit „transkantonalem“ Anspruch

Letzen Mittwoch bis Sonntag fand das Schweizer Theatertreffen in Fribourg statt, Ensemble hat sich mit  Julie Paucker getroffen. Sie ist seit 2022 als künstlerische Leitung engagiert und hat mit der damaligen Geschäftsleitung die Veranstaltung konzeptuell vorangetrieben. Ein Gespräch über die dringliche Rolle der Mehrsprachigkeit im Theater und Kollaborationen über die Kantonsgrenzen hinweg.

Julie Paucker ist von Haus aus Dramaturgin, sie arbeitete in der Schweiz als auch in Deutschland am Theater Basel, am Deutschen Nationaltheater in Weimar und anderen. Mit ihrer transnationalen Kompanie Kula produziert sie mehrsprachige Stücke, diesem Schwerpunkt widmet sie sich nun auch in der Schweiz. Sie meint: „Sowohl die Ästhetik als auch die Theatervorgänge, -abläufe und -prozesse werden inzwischen international anders gedacht und bergen spezielle Herausforderungen.“ Darauf war die 47-Jährige bestens vorbereitet, sie begreift den Unterschied zwischen den Kantonen als Chance, voneinander zu lernen.

„Sowohl die Ästhetik als auch die Theatervorgänge, -abläufe und -prozesse werden inzwischen international anders gedacht und bergen spezielle Herausforderungen.“

Paucker arbeitete während ihres Studiums bei Migros Kulturprozent und weiss daher, dass die Thematik um die Mehrsprachigkeit die Förderer schon längere Zeit beschäftigt. „Diese Frage lässt einen nicht los, sowohl auf künstlerischer Ebene als auch auf struktureller Ebene. Ein Produktionsprozess ist generell spannender, wenn man mit unterschiedlichen Auffassungen arbeitet». Transnationales, oder eben „transkantonales“ Theater interessiert die gebürtige Zürcherin in vielen Aspekten. Es schärfe den eigenen Blick hinsichtlich dessen, was man aus anderen „Theater-Systemen übernehmen, angleichen und verbessern könne“.

„Diese Frage lässt einen nicht los, sowohl auf künstlerischer Ebene als auch auf struktureller. Ein Produktionsprozess ist generell spannender, wenn man mit unterschiedlichen Auffassungen arbeitet.“

Dies gelte auch für die Schweiz, wo verschiedene Systeme wie kleinere Stadttheater, Häuser von nationaler Ausstrahlung und freie Szene nebeneinander existieren. Dazu komme die Romandie, wo man eher auf das Touring-System mit produzierenden und einladenden Häusern setze. Gerade in den Bereichen „Theater-Markt“, Verkauf und Werbung, wie auch bei der Förderung, könne man viel voneinander lernen. Wegen der Sprachdifferenz stehe die Schweiz modellhaft für Europa oder sogar die Welt – eine riesige Chance also, mit kultureller Diversität umzugehen, sie zu begreifen und sich zu Nutze zu machen. Paucker meint dazu: „Danach ist man auch international fit, denn es sind dieselben Fragen, die sich zwischen unterschiedlichen Ländern stellen!“ Es ist somit auch die Kernmission des Theatertreffens, Theater aus allen Regionen zu versammeln und an ein lokales Publikum heranzutragen, zu wachsen zwischen Landesteilen und Theaterschaffende zusammenzubringen. „Es ist immer ein Erlebnis, zu sehen, wie wenig man sich kennt, obwohl man im selben Business, auf vergleichbarem Niveau, und Bekanntheitsgrad arbeitet. Da kann man etwas bewegen!“, ist Paucker überzeugt.

Es ist somit auch die Kernmission des Theatertreffens, Theater aus allen Regionen zu versammeln und an ein lokales Publikum heranzutragen, zu wachsen zwischen Landesteilen und Theaterschaffende zusammenzubringen.

„Mit dem Titel des Rahmenprogramms „Umbruch, Aufbrauch“, möchte ich ein Zeichen setzen. Besonders wächst die Bewusstheit darüber, dass man sich verbinden kann, gemeinsam über Kultur nachdenken und sich inspirieren lassen.“ Ein weiteres Beispiel für die Stärkung ist die diesjährig neue, kooperative Idee des „Salon d’artistes“, eine Tradition aus der Romandie, bei dem Stücke vor Veranstalter*innen präsentiert werden. Damit wird ein Markt generiert und Interesse geweckt, bevor das Stück überhaupt produziert ist. Ausserdem entstehen daraus Ko-Produktionen und Einladungen, nachdem die Stücke gepitcht wurden.

Die Sélection hat als marktorientierteste Veranstaltung das Potenzial, Künstler*innen auf Tour zu bringen. «Es wird viel produziert und zu wenig gezeigt, obwohl das verdient wäre!».

Paucker entscheidet im Alleingang, welchen Künstler*innen sie eine Plattform geben möchte, sie erhält dafür im Vorfeld Unterstützung von Scouts aus den verschiedenen Regionen. Für die Sélection werden fünf Positionen vergeben, die Shortlist dient dazu, den Künstler*innen zu mehr Sichtbarkeit zu verhelfen. Es besteht das Potenzial, „über die Sprachgrenze“ hinaus eingeladen zu werden, die Sélection hat als marktorientierteste Veranstaltung das Potenzial, Künstler*innen auf Tour zu bringen. Paucker meint: „Es wird viel produziert und zu wenig gezeigt, obwohl das verdient wäre!». Primärer Aspekt sei es, den Spagat zwischen Festival, einem lokalen, plus ein gesamtschweizerisches Publikum zu meistern. „Darunter gibt es ganz unterschiedliche Ansichten und Rezeptionen zu Stücken – Theater-Kosmen und Ästhetiken werden teils anders interpretiert und finden nicht immer bei allen Landesteilen Gefallen. Es müssen also Stücke gefunden werden, die dazu verführen, sich mit Theater der anderen Kantone zu beschäftigen. Sie müssen solide sein, einen ästhetischen Anspruch erfüllen und von ganzem Herzen vertretbar!“ Aus diesem Grund hat man sich auch vom Kuratorium und Jury entfernt, Paucker verleiht der Auswahl ihr Profil, „Ich suche in der Gemengelage passende Stücke“, sagt sie und schmunzelt.

„Darunter gibt es ganz unterschiedliche Ansichten und Rezeptionen zu Stücken, Theater-Kosmen und Ästhetiken werden teils anders interpretiert und finden nicht immer bei allen Landesteilen Gefallen. Es müssen also Stücke gefunden werden, die das können und dazu verführen, sich mit Theater der anderen Kantone zu beschäftigen.“

Die Sélection auf einen Blick

Darunter hat „Ödipus Tyrann„…

überzeugt, es handelt sich um ein Powerplay von zwei Frauen unter der Regie von Nicolas Stemann. «Ich habe Frauen noch nie so spielen sehen – die Tragödie wird mit einem grossen Stadttheatergestus vertreten, die Rollen schauspieltechnisch auf hohem Niveau und mit einem extremen Selbstbewusstsein gespielt – was überzeugt und gleichzeitig berührt.» Mit der Eröffnung möchte Paucker ein Zeichen setzen für die grossartigen schauspielerischen Leistungen und Regiehandschriften.

„EWS“

ist eine deutsch-schweizerische Produktion vom Theater Neumarkt, wie der Titel sagt „- Der einzige Politthriller der Schweiz“, und war bisher immer ausverkauft. „In dieser Produktion versammelt sich vieles, was ich persönlich gerne mag. Es ist gleichsam Revue, musikalische Choreografie und „Marthalerisch“ vom Stil her – schräg und skurill mit einem poetisch-dokumentarischen Boden. Für das Theatertreffen ist das Stück wie gespuckt – die Schweiz behandelt einen Politfall, das passt auf vielen Ebenen gut! Gleichzeitig ist das Stück EWS ein Kind unserer Zeit!“ Ein grosser Anteil der Schauspielerinnen sind Laien. «Expert*innen und Zeug*innen des Alltags sind als Praxis neuerdings beliebt!» Ausserdem tritt mit Lara Stoll eine sehr gute Slam-Poetin auf und rundet das Ganze ab.

„In dieser Produktion versammelt sich vieles, was ich persönlich gerne mag. Es ist gleichsam Revue, musikalische Choreografie und „Marthalerisch“ vom Stil her – schräg und skurill mit einem poetisch-dokumentarischen Boden. Für das Theatertreffen ist das Stück wie gespuckt – die Schweiz behandelt einen Politfall, das passt auf vielen Ebenen gut! Gleichzeitig ist das Stück EWS ein Kind unserer Zeit!“

„The Game of Nibelungen“…

findet in Klassenzimmer statt, Paucker sagt dazu: «das Stück ist aber nicht für Kinder – das ist schon der Witz». Laura Gambarini erteilt eine Deutschlektion vor einem vorwiegend frankophonen Publikum, «eine grosse Komödie in a Nutshell – das muss man nicht weiter begründen, es geht um den Röstigraben und die schlechte Sprachkompetenz der Romands».

Bei „Le relazione pericolose“

ist die italienische Version des französischen Briefromans «Gefährliche Liebschaften», Künstlerische Leitung hat der Direktor des Theaters, Carmelo Rifici, übernommen. Paucker erklärt: «Er hat mit verschiedenen Texten gearbeitet, um die philosophische Auseinandersetzung mit Macht, Liebe, Kampf und Krieg anhand der Hauptfiguren durchzuspielen – idealer Stoff für die Kriegsführung in der Erotik!» Es handelt sich um eine aussergewöhnlich schöne, installative Bühnengeschichte, mit einfachen theatralen Mitteln werden grosse Bilder erzeugt. «Ich wollte unbedingt eine grosse Bühnenproduktion aus der italienischen Sprache ans Theatertreffen bringen, wo im Tessin vorwiegend kleinere erarbeitet werden – oder Abgänger*innen der Scuola Dimitri, deren Produktionen eher verspieltere Formen annehmen. Italienisch ist ausserdem eine grossartige Bühnensprache!»

„Bias aller retour“ …

– «das Vorurteil» ist eine Familienposition, die sich an junge Leute richtet, aber auch für Erwachsene unterhaltsam ist. Das Théâtre Am Stam Gram ist berühmt für Familien- und Kinderproduktionen, das grosse Ensemble erzählt eigene Geschichte über die Problematik des Alterns der Grossmutter. Aber das Besondere an der Produktion ist der politische Horizont, „das Stück hat gleichzeitig eine humorvolle Ebene und ist spektakulär auf technischem Niveau- es ist etwas los! Es geht um die Themen Tod, Armut und was Fantasie bewegen kann.“ 

Das Stück „Rendez-vous„…

stammt direkt von Eugénie Rebetez, die, in der Deutschschweiz noch kaum bekannt, in der Romandie ein gefeierter Star ist. Sie arbeitet primär mit Künstler*innen, die nicht aus ihrem Metier kommen – genau diese Begegnungen sucht sie auf der Bühne. Dies passiert physisch wie musikalisch, über Bewegung, und ist in jedem Fall sehr unterschiedlich. «Es hat mit den Realitäten zu tun, die diese Personen mitbringen. Das Resultat ist sehr zart und berührend, und trägt den Charme ihrer Person, aber auch eine gewisse Bescheidenheit, da Rebetez wirklich das Verborgenen sucht, was zwischen ihr und den Künstler*innen liegt. Es wirkt repräsentativ für den Wunsch nach dem Erfahren andere Realitäten.“, erzählt Paucker.

„Ich hoffe sehr auf Folgeeinladungen, denn dies ist sehr dringlich. Es handelt sich um eine Koproduktion, das un-schweizerischste und schweizerischste Stück gleichzeitig – die Thematik ist schweizerisch, das Ensemble international.“

„The Ghosts Are Returning“

wird von einem deutsch-schweizerisch-kongolesischem Ensemble gespielt, die Leute müssen extra hierfür engagiert werden. Bisher wurde das Stück erst in der Kaserne Basel mit grossem Erfolg aber vor wenig Publikum gespielt. «Ich hoffe sehr auf Folgeeinladungen, denn dies ist sehr dringlich. Es handelt sich um eine Koproduktion, das un-schweizerischste und schweizerischste Stück gleichzeitig – die Thematik ist schweizerisch, das Ensemble international.» Paucker freut besonders die Mehrsprachigkeit, die Sprachen aus dem Kongo, die Musik, der Sprechgesang – ein grosses Konzert mit dokumentarischem Inhalt. Es dreht sich um das Verhalten der Schweiz in Kolonialzeiten, Paucker erklärt: «Im Fokus stehen traditionelle Trauerrituale, welche aufgrund von Grabschändungen zelebriert wurden. Es geht um den Ernst des Themas und die Restituierungs-Debatte. Aber auch um die längerfristigen Folgen von Kolonialismus und Ausbeutung. Zusätzlich ist während der Produktionszeit ein Ensemblemitglied gestorben und damit spielt eine persönliche Trauer mit in den Abend, was man spürt und auch explizit erwähnt wird. Und dennoch erlebt man einen schönen, lustvollen und musikalischen Theaterabend mit einem moralischen, aber nicht belehrenden Apell, der sich nicht zu ernst nimmt und sehr leicht und versöhnlich wirkt.“

„Deshalb auch die Klammern „Umbruch“ – Sachen sind nicht mehr gewiss – und „Aufbruch“ mit einer positiven Note, und dem Ziel, eine Umfunktionierung vom einen zum andern herbeizuführen.“

Für die künstlerische Leiterin des Schweizer Theatertreffen Julie Paucker steht die aufwühlende Zeit, in der wir leben, sinnbildlich dafür, dass Gewohnheiten und Gewissheiten auch in der Schweiz sich verändern und sogar wegbrechen können. Sie sagt: „Wir haben hier eine sehr privilegierte Lage, es stellt sich oft die Frage, wie es weiter geht, wie sich das System verändert, und wie man die positiven Veränderungen nutzen kann. Deshalb auch die Klammern „Umbruch“ – Sachen sind nicht mehr gewiss – und „Aufbruch“ mit einer positiven Note, und dem Ziel, eine Umfunktionierung vom einen zum andern herbeizuführen. Das hat viel mit den Stücken zu tun, die absichtlich nicht nach einer Thematik ausgewählt sind, jedoch der Realität für uns alle entsprechen, dass Dinge auseinanderbrechen! Die Kooperation mit „Tasty Future“ rundet das Programm ab den Anspruch, Dinge zum Positiven verändern zu können, darunter einen Umbruch in den Medien herbeizuführen, Richtlöhne im Markt zu setzen und das allgemeine Prekariat unter den Künstler*innen zu vermindern.“

 

 

„Existenzen sind bedroht, Arbeitsplätze gehen verloren“

Die beiden Kleintheater Keller62 und STOK verlieren voraussichtlich ihre städtische Kulturförderung. Das kann das Ende für diese Bühnen bedeuten. ENSEMBLE Magazin im Gespräch mit dem Leiter des Keller62, Lubosch Held-Hrdina. Er ist neben seiner leitenden Funktion am Theater auch als Regisseur, Autor, Übersetzer, Coach, Workshopleiter und Trainer tätig und setzt sich gezielt für den Erhalt der beiden Spielorte ein. Held-Hrdina ist davon überzeugt, dass genau solche Kleinsttheater den eigentlichen Charme der Stadt Zürich ausmachen.

Bilder: zvg Theater Keller62

Einführend das Statement von Salva Leutenegger, Geschäftsführerin von SzeneSchweiz (Verband Darstellende Künste):

„Als Berufsverband der Darstellenden Künstler*innen bedauern wir den Entscheid der Stadt Zürich, zwei Kleintheatern (Stok und Keller62) die Subventionen zu streichen. Mit diesem Entscheid baut die Stadt Arbeitsplätze für professionelle Künstler*innen ab, welche schon in prekären Verhältnissen leben müssen. Mit dem neuen Programm Konzeptförderung Tanz und Theater führt die Stadt einen ungesunden Wettbewerb unter Theaterhäusern ein, der letztlich zu Lasten der Theaterschaffenden und des Publikums geht. Corinne Mauch beklagt im Artikel „Zürcher Kultur-Subventionen – Für den Keller62 und das Theater Stok wird es eng“ im Tages-Anzeiger vom 18.04. die mangelnde Vielfalt der betroffenen Theater. Aber gleichzeitig wird mit der Streichung der Subventionen die Vielfalt der Kleinkunst vernichtet. Am Ende gibt es nur Verlierer.“

Interview

 

Ensemble Magazin: Wie sah die bisherige Situation des Theaters aus und was hat sich geändert?

Lubosch Held-Hrdina: Seit mehreren Jahrzehnten leisten die beiden kleinsten Zürcher Theater, Keller62 und STOK, grosse und engagierte Arbeit im Bereich Sprech- und Tanztheater. Sie haben sich ein Publikum erspielt, ohne jegliche Unterstützung begonnen, dann eine erste öffentliche Unterstützung bekommen, bis die Kontinuität und die Qualität ihrer Arbeit schliesslich in Form von (zunächst sehr kleinen) Subventionsbeiträgen gewürdigt wurde. Die Qualität ihrer Arbeit wurde stets geprüft und für unterstützungswürdig befunden.

Nun haben die Stadt Zürich und Frau Corine Mauch entschieden, sie ab 2025 nicht mehr unterstützen zu wollen. Laut Stadtrat tragen die beiden Theater und ihre Konzepte zu wenig zur Vielfalt des kulturellen Angebots, zur Innovation und zur Vernetzung der Tanz- und Theaterlandschaft bei. Man stuft die Bedeutung der beiden Theater für die Gesamtlandschaft als zu wenig dringlich und überzeugend ein.

Was bedeuten die Veränderungen spezifisch für euch und was ist daran ungerecht?

Wir sind schockiert. Existenzen sind bedroht, Arbeitsplätze gehen verloren, auch die Tradition scheint nicht viel zu zählen. Von dem ganzen Herzblut gar nicht zu reden.

Was, denken Sie, passiert mit dem Publikum?

Es ist ein Trugschluss, zu denken, dass sich das Publikum auf andere Häuser umlenken lässt. Und: Wenn diese zwei traditionsreichen „Kleinsthäuser“ wirklich zugehen sollten, würden die Theaterschaffenden zwei Spielorte verlieren, die für sie ebenfalls existenziell sind. Es bereitet mir grosse Sorgen, wo die Betroffenen in Zukunft ihrer Arbeit nachgehen sollen. Der Keller62 decke eine Nische ab, die alle anderen geförderten Theater nicht bespielen — all die Produktionen, die von den stark durchprogrammierten, beziehungsweise kuratierten Häusern nicht berücksichtigt werden können, finden hier eine Bühne.

Es werden Existenzen bedroht, Arbeitsplätze gehen verloren, auch die Tradition scheint nicht viel zu zählen.

Hier spielen besonders der Nachwuchs eine Rolle, als auch Theaterschaffende, die im „normalen“ Theaterbetrieb oftmals keinen Stand mehr finden, weil sie beispielsweise zu alt sind. Der Keller62 kann somit als Schnittpunkt in der Kulturlandschaft verstanden werden und erzeut eine unheimlich wertvolle Energie und Kreativität. Das merkt auch das Publikum, welches gerne solche Kleinode besucht, auch weil sie fern von jeglichem Schickschnack sind, und das pure Herz ist hier zum Greifen nah ist. Intimer geht es kaum. Konkret und ohne Emotion lässt sich die Situation so zusammenfassen: In den beiden Kleintheatern finden pro Saison zusammengerechnet etwa 280 Aufführungen mit allen Konsequenzen (Arbeitsplatz, Spielort, Publikum, Kurse, etc.) statt. Es stellt sich für mich die dringliche Frage, wie die Zukunft der beiden Kleintheater aussieht.

Der Keller62 kann somit als Schnittpunkt in der Kulturlandschaft verstanden werden und erzeut eine unheimlich wertvolle Energie und Kreativität.

Was zeichnet den Keller62 desweiteren als Spielstätte im Hinblick auf die Kulturlandschaft in Zürich aus?

Der Keller62 ist zudem auch eine zuverlässige Anlaufstelle für auswärtige Gastspiele. Zum Beispiel die Bündner Theaterschaffenden, die ihre Stücke auch in Zürich zeigen wollen. Es gibt auch regelmässige Kontakte zum Rätoromanischen, oder ins Tessin, Freiburg, Berlin, und Prag. Zudem gibt es  zwei Festivals, wo die verschiedenen Sprachen sich kreuzen. Ich frage mich, wo all diese Projekte nun gespielt werden sollen? Was passiert mit dem Publikum, das all diese Stücke sehen will? Und eben, die Newcomer und „Oldcomer“, die sich gegenseitig in ihrem Schaffen befruchten. Wir fördern neue Gruppen, haben auch einen speziellen Kanal dafür, wir wollen das Theater ins Leben bringen. Wir machen Workshops. All das stärkt die Diversität und Teilhabe ungemein. Soll das alles verschwinden?

Wir fördern neue Gruppen, haben auch einen speziellen Kanal dafür, wir wollen das Theater ins Leben bringen. Wir machen Workshops. All das stärkt die Diversität und Teilhabe ungemein.

Die Absurdität der Entscheidung wird einem bewusst, wenn man aus der stadträtlichen Begründung erfährt, was die Jury empfieht. Sie möchte den Keller62 und das Theater STOK als Spielorte für die Freie Szene aufrecht erhalten. Diese Orte würden benötigt, weil der Bedarf an geeigneten Räumlichkeiten in der Zürcher Tanz- und Theaterlandschaft gross ist und deswegen ihre Schliessung für die Gesamtlandschaft und ihre potenzielle Vielfalt nicht förderlich wäre. Was ja auch stimmt, die Not an Spielorten ist gross, gerade nach Corona. Aber gleichzeitig wird uns die Subvention gestrichen? Wie geht das zusammen?

Wie begründet die Jury diesen Entscheid?

Den beiden Häusern würde es an Vielfalt und Vernetzung fehlen, meint die Jury des Stadtrats. Der Keller62 würde zu wenig zur Vielfalt des Angebots, zur Innovation und zur Vernetzung der Tanz- und Theaterlandschaft beitragen. Beim STOK wird ein ähnliches Urteil gefällt – was beides befremdlich ist.

Das neue Förderungsmodell hinterlässt viele Fragen und viele unschöne Baustellen, auch bei den Institutionen, die weiterhin gefördert werden sollen.

Wie fallen die Reaktionen darauf aus?

Wie man hört, herrscht nach diesen Entscheiden fast in der ganzen Szene ein Erwachen. Das neue Förderungsmodell hinterlässt viele Fragen und viele unschöne Baustellen, auch bei den Institutionen, die weiterhin gefördert werden sollen. Denn auch bei ihnen decken sich Versprechungen und Erwartungen nicht mit dem Resultat. Ich finde folgenden Umstand bemerkenswert: Am Anfang der neuen Förderung vor 7 Jahren vergab die Stadt Zürich einen grossen Auftrag an eine externe Firma, die „Integrated Consulting Group“ aus Graz, Österreich. Sie sollte für viel Geld die gesamte Theaterlandschaft auf Herz und Nieren prüfen. Dies tat sie auch. Das Resultat war eigentlich sehr erfreulich, denn die Befürchtung, es gäbe ein Überangebot bestätigte sich überhaupt nicht. Im Gegenteil, es bescheinigte Zürich einen guten Wachstum und eine gesunde, diverse und gut entwickelte Theaterszene. Warum hat sich der Stadtrat nicht daran orientiert und streicht nun ausgerechnet den zwei kleinsten, schwächsten und billigsten Kleintheatern die Subvention? Was ist der Sinn und die Logik? So viel Theater für so wenig Geld liefert sonst keine andere Bühne der Stadt.

Nicht nur die Vielfalt von Inhalt, Häusern, Gruppen und Publikum wird durch die neue städtische Förderung beschnitten, sondern es wird auch die Entwicklung der ganzen Theaterlandschaft erheblich erschwert, bis verhindert.

Was könnten mögliche Konsequenzen darauf sein?

Bei der nächsten Subventionsvergabe wird wohl wieder ein Theater gestrichen werden, denn dies ist das Prinzip des neuen Fördermodells – der Wettbewerb an sich. Aber darf man Kunst überhaupt in einen existentiellen Wettbewerb schicken? In Zukunft wird jede Weiterentwicklung eines Hauses nur auf Kosten eines anderen Theaters möglich sein. Das soll Fortschritt und Innovation sein? Nicht nur die Vielfalt von Inhalt, Häusern, Gruppen und Publikum wird durch die neue städtische Förderung beschnitten, sondern es wird auch die Entwicklung der ganzen Theaterlandschaft erheblich erschwert, bis verhindert.

Die positive Energie, die dieses aussergewöhnliche Theater besitzt, ist einmalig. Dieser mauersteinige Keller hat uns, und vielen anderen, so viel gegeben, jetzt ist es an der Zeit, ihm etwas zurückzugeben.

Wie sieht die mögliche Zukunftsplanung aus und/oder was sind Lösungsansätze für die bestehende Problematik?

Ich denke, (auch wenn ich jetzt nur für den Keller62 spreche, weil die Situation im STOK noch viel komplizierter ist,) der Keller62 wird auch diese Katastrophe umschiffen und oder lösen können. Die positive Energie, die dieses aussergewöhnliche Theater besitzt, ist einmalig. Dieser mauersteinige Keller hat uns, und vielen anderen, so viel gegeben, jetzt ist es an der Zeit, ihm etwas zurückzugeben. Wir kämpfen, damit er am Leben bleibt! Auch weil so viel daran hängt. Nicht nur Einzelschicksale mit Kindern und Familien, sondern auch ganze Entwicklungen. Es ist klar, ein Theater ohne eine Subvention zu betreiben ist praktisch unmöglich. Aber wir werden versuchen, auch mit der Stadt Zürich, eine andere, oder neue Lösung zu finden. Und wir werden sofort mit dem Aufbau einer Lobby beginnen. Diese beiden Theater müssen erhalten bleiben, da sind wir uns ja mit der Jury einig. Auch die enorme Solidarität ist gut spürbar. Und wird immer stärker. Gleich nach der Bekanntmachung haben sich die ersten Menschen gemeldet, die uns helfen wollen. Leider war bisher kein Grossgönner dabei – dann wären wir unabhängig.

Was ist sonst noch geplant im Rahmen aktivistischer Arbeit?

Wir werden zudem eine Kampagne starten. Und in neue Richtungen denken, beispielsweise die Grossen für die Kleinen begeistern. Neue Szenarien entwickeln. Aber selbst dann wird es knapp, eine echte Zukunft ohne Subvention ist kaum möglich. Kein Theater der Welt kann das stemmen. Aber eine Subvention ist relativ. Wir sprechen da von etwa 300 Subventionsfranken pro Vorstellung, mit denen die beiden Kleinstbühnen im Schnitt und pro Vorstellung von der Stadt bisher unterstützt wurden. Für den Vergleich, beim grössten Zürcher Theater sind es etwa 78 000.- Franken und bei den übrigen kleinen Häusern beträgt dieser Mittelwert etwa 3 500.- Subventionsfranken pro Vorstellung. Wo ist die Logik? Der Keller62 und das STOK bekommen im Schnitt 300 Subventionsfranken pro Vorstellung. Die Stadt Zürich möchte nun dieses Geld für sich gewinnen. Und verliert dabei so viel.

Also lautet mein Wunsch an die Politik, bitte züchten sie keine kulturellen Hochleistungsbetriebe, die einander immer ähnlicher werden. Richten sie Ihren Blick nicht nur an die Spitze und ihre Topleistungen, folgen Sie nicht nur dem Glanz. Jede Pyramide braucht ein gutes Fundament. Unterstützen sie die Basis, die kleinen und kleinsten Spielorte der Kunst, des Theaters. Denn sie sind es, die Ihnen aus tiefster Überzeugung die späteren Erfolge bringen, die nach ganz Europa strahlen.

Wie sehen eure Wünsche seitens Politik aus?

Die Kreativität, aber auch die Leistung, entsteht an der Basis. Also lautet mein Wunsch an die Politik, bitte züchten sie keine kulturellen Hochleistungsbetriebe, die einander immer ähnlicher werden. Richten sie Ihren Blick nicht nur an die Spitze und ihre Topleistungen, folgen Sie nicht nur dem Glanz. Jede Pyramide braucht ein gutes Fundament. Unterstützen sie die Basis, die kleinen und kleinsten Spielorte der Kunst, des Theaters. Denn sie sind es, die Ihnen aus tiefster Überzeugung die späteren Erfolge bringen, die nach ganz Europa strahlen. Viel Mondänes und Übersattes zeigt Zürich der Welt – aber sind es nicht Orte wie der Keller62, die den wahren Zauber dieser Stadt ausmachen? Schenken Sie dem Keller62 und dem Theater STOK Ihr Herz.

Die Stadt Zürich spart durch die Streichung der beiden Subventionen Sfr. 83 500.- jährlich ein und verzichtet dafür auf zwei dringend benötigte, etablierte Spielorte mit durchschnittlichen 279 Vorstellungen und 86 Produktionen pro Jahr. Die Vorstellungen im Keller62 und im Theater STOK werden von der Stadt Zürich zusammengerechnet mit Sfr. 299 pro Vorstellung subventioniert. Durchschnittlich werden die übrigen Zürcher Kleintheater mit Sfr. 3 476.- pro Vorstellung subventioniert, das Schauspielhaus mit Sfr. 78 000. (Quelle hier)

Theater Keller62 

  • Seit 1999 fanden hier 1086 Produktionen mit 2890 Vorstellungen statt.
  • Das sind im Schnitt 45 Produktionen und 121 Vorstellungen pro Jahr.
  • Weiter veranstaltete Keller62 zusätzlich an die 35 Workshops. Sie wurden von über 220 Menschen in insgesamt 26 400 Stunden besucht.
  • Der interne Proberaum wird kostengünstig der Freien Szene zur Verfügung gestellt.
  • Der Keller62 hat eine Selbstfinanzierungsquote von über 70%. Die Auslastung beträgt 71,3 %.
  • Jährliche Gesamteinnahmen/Ausgaben Verein Keller62: ca. Sfr. 180 000.-
  • Das Theater wird mit einem städtischen Beitrag von Sfr. 50 000.- unterstützt.

Theater STOK

  • In den letzten 10 Jahren fanden hier 403 Produktionen mit 1584 Vorstellungen statt.
  • Das sind im Schnitt 40 Produktionen und 158 Vorstellungen pro Jahr.
  • Das Theater STOK hat eine Selbstfinanzierungsquote von über 75%. Die Auslastung beträgt 75,0 %.
  • Jährliche Gesamteinnahmen/Ausgaben Verein STOK: ca. Sfr. 180 000.-
  • Das Theater wird mit einem städtischen Beitrag von Sfr. 33 500.- unterstützt (exkl. Miete)

 

SzeneSchweiz: Dance Passport und Weiterbildungsangebote (Workshops)

Im Rahmen von Dance Passport unterstützt SzeneSchweiz Tänzerinnen und Tänzer aus dem Ausland, die für kurzzeitige Engagements in der Schweiz sind. SzeneSchweiz beantwortet unter anderem Fragen zu Gagen, Arbeitsverträgen, Arbeitsbedingungen und Versicherungen. Für Mitglieder, die für kurze Zeit im Ausland engagiert sind, gilt umgekehrt dasselbe Angebot: Sie können bei Fragen die lokalen Künstlerverbände in Europa kontaktieren. Die häufigsten Fragen (FAQ) werden auf der interaktiven Europakarte von Dance Passport beantwortet.

„Ziel des Tanzpasses ist es, eine Quelle der Unterstützung für professionelle Tänzer im Zusammenhang mit der Mobilität zu sein. Er ist ein gewerkschaftliches Solidaritätsnetz für Tänzer im Ausland. Tänzerinnen und Tänzer, die in ihrem Heimatland Mitglied einer Gewerkschaft sind, können während eines kurzen Arbeitsaufenthalts in einem europäischen Land, in dem es eine teilnehmende Gewerkschaft gibt, die Unterstützung und die Dienste der örtlichen Gewerkschaft in Anspruch nehmen.“

Hier geht es zu den Angeboten des Dance Passports.


Weiterbildungsangebote für Mitglieder

SzeneSchweiz unterstützt Ihre Weiterbildung mit folgenden Angeboten:

CHF 100: Individuelle Weiterbildung für Mitglieder, sofern sie einen beruflichen Hintergrund hat. Eine entsprechende Bestätigung muss eingesendet werden. Diese Unterstützung ist einmalig und kann nicht mit anderen Angeboten (Kulturmarkt und Gesang) kumuliert werden.

CHF 200: Stay tuned – Coaching in Kooperation mit dem Kulturmarkt

Ein neues Angebot für alle festangestellten und freischaffenden SzeneSchweiz-Mitglieder, die NICHT beim RAV angemeldet sind. Diese Angebot richtet sich an Mitglieder pro Jahr für ein individuelles Coaching beim Kulturmarkt. Diese Unterstützung ist einmalig und kann nicht mit anderen Angeboten (individuelle Weiterbildung und Gesang) kumuliert werden.

CHF 200: Training mit KorrepetitorInnen pro Mitglied und Jahr – gilt für alle festangestellten und freischaffenden SängerInnen, die NICHT beim RAV angemeldet sind. Sänger*innen haben die vornehme Pflicht, ihre Stimme stets im Training zu halten, ob für das Vorsingen oder für das bevorstehende Engagement: Sechs KorrepetitorInnen stehen in Basel,  St. Gallen und Zürich zur Verfügung (1 Std. zu CHF 80). Für die gebuchten Stunden muss eine Bestätigung eingereicht werden, das Angebot gilt einmalig und kann nicht mit anderen Angeboten kumuliert werden.

D und F | Suisseculture: Finanzbeschlüsse des Bundesrats vom letzten Freitag

Version français ci-dessous

Der Bundesrat verkauft Kürzungen als Wachstum!

Zürich, den 13.3.2023

Mit den am Freitag veröffentlichten Eckwerten für das Zielwachstum mehrjähriger Finanzbeschlüsse kürzt der Bundesrat in unverantwortlicher Weise die Budgets für notwendige Investitionen, unter anderem in der Kultur massiv. Damit verunmöglicht er der Branche, die Herausforderungen nach der Pandemie angehen zu können.

Es ist unbestritten, dass der Kulturbereich von der Pandemie besonders hart getroffen wurde und sich jetzt in einer Erholungsphase befindet. Kulturschaffende und -unternehmen müssen nach wie vor ums wirtschaftliche Überleben kämpfen. Nicht zuletzt dank den gemeinsamen Anstrengungen von Branche, Publikum und öffentlicher Hand konnte trotz enormer Schwierigkeiten bis anhin ein substantieller Verlust an kultureller Vielfalt verhindert werden. Dass nun, inmitten der Wiederaufbauphase, schmerzliche Kürzungen vorgenommen werden sollen, ist absolut unverständlich. Denn mit diesen Kürzungen laufen wir Gefahr, die Unterstützungsanstrengungen der letzten Jahre wieder zunichtezumachen.

Was in der Medienmitteilung des Bundesrates als «temporärer Rückgang» des Wachstums bezeichnet wird, bedeutet in Zahlen für das Jahr 2024 Kürzungen des Budgets um 2%. Kürzungen, welche die Kultur im schlechtmöglichsten Zeitpunkt treffen. Die nun vorgegebene Obergrenze für das Zielwachstum der Finanzbeschlüsse für die Jahre 2025–2028 wird im Bereich Kultur vom Bundesrat auf 1,2% festgesetzt. Das Zielwachstum gleicht damit die Kürzungen von 2024 bei Weitem nicht aus. So können weder die Herausforderungen für den Kulturbereich in Angriff genommen noch die Teuerung kompensiert werden. Der Bundesrat streicht das Budget für die Kultur für die nächsten fünf Jahre massgeblich zusammen und gibt so ein falsches Signal.

Tatsache ist, dass auch in der Schweiz in nächster Zukunft von der grössten Teuerung seit Jahrzehnten ausgegangen werden muss. Zu einem Zeitpunkt, da über einen Teuerungsausgleich von mehreren Prozenten auf die Lohnsumme verhandelt wird, ist eine Kürzung der Kulturausgaben (die zum allergrössten Teil direkt in Lohnzahlungen fliessen) nicht vertretbar. Vielmehr wäre es an der Zeit, nachhaltige Massnahmen zur Verbesserung der sozialen Sicherheit für Kulturschaffende einzuleiten – mit entsprechenden Anpassungen in den Vorsorgesystemen der ersten und zweiten Säule. Diese betreffen nicht nur den Kulturbereich, sondern alle «prekären» Arbeitsformen, also befristet Angestellte, mehrfach Beschäftigte, teilweise Selbstständigerwerbende oder auch Personen in arbeitgeberähnlichen Positionen. Hier besteht akuter branchenübergreifender Handlungsbedarf!

Im Mai 2023 wird der Vernehmlassungsentwurf der Kulturbotschaft 2025–2028 vorliegen mit konkreten Massnahmen für die verschiedenen Förderbereiche. Dann wird bekannt werden, welche finanziellen Mittel für die nationale Kulturförderung 2025–2028 zur Verfügung gestellt werden sollen. Angesichts der Herausforderungen, die der Kultursektor insbesondere nach der Pandemie zu meistern hat, und unter Berücksichtigung der Inflation ist nicht eine Kürzung, sondern vielmehr eine Erhöhung des Kulturbudgets unumgänglich.

Die Kulturschaffenden der Schweiz können nicht nachvollziehen, was den Bundesrat zu diesen Kürzungen im Kulturbereich veranlasst hat. Sie rufen das Parlament auf, die für das Überleben der Branche dringend notwendigen Korrekturen am Budgetvorschlag des Bundesrates vorzunehmen.

 

Für weitere Auskünfte:

Alex Meszmer, Geschäftsleiter Suisseculture alexmeszmer@suisseculture.ch, 043 322 07 30

Omri Ziegele, Präsident Suisseculture oziegele@gmx.ch; 076 462 42 96


Le Conseil fédéral fait passer des réductions pour de la croissance!

Zurich, le 13.3.2023

En publiant vendredi les chiffres clefs sur les taux de croissance cibles pour les arrêtés financiers pluriannuels, le Conseil fédéral propose une réduction massive et irresponsable des budgets d’investissements nécessaires, notamment dans la culture. Il empêche ainsi le secteur de relever les défis qui se posent après la pandémie.

Il y a consensus pour dire que le secteur culturel a été particulièrement touché par la pandémie et qu’il se trouve à présent dans une phase de récupération. Les acteurs/actrices et entreprises culturel·les luttent aujourd’hui encore pour leur survie économique. Jusqu’à présent, en dépit d’énormes difficultés, et grâce aux efforts du secteur, du public et des pouvoirs publics, on a pu éviter une perte substantielle de la diversité culturelle. Il est absolument incompréhensible d’effectuer maintenant des coupes douloureuses alors qu’on se trouve justement en pleine phase de reconstruction. Ces réductions risquent de réduire à néant les efforts de soutien de ces dernières années.

Dans son communiqué de presse, le Conseil fédéral indique que ces taux de croissance « devraient baisser temporairement en 2024 », ce qui se traduit en chiffres par des réductions de 2 % du budget. Ces coupes touchent la culture au plus mauvais moment possible. Le Conseil fédéral a fixé à 1,2 % la limite supérieure de la croissance visée par les arrêtés financiers pour les années 2025-2028 dans le domaine de la culture. Les taux de croissance cibles ne compensent donc pas, et de loin, les réductions de 2024 et ne permettent pas de relever les défis posés au secteur culturel ni de compenser le renchérissement. Le Conseil fédéral réduit considérablement le budget de la culture pour les cinq prochaines années ; c’est un mauvais signal.

On sait que l’avenir nous réserve le renchérissement le plus important que l’on ait vécu, en Suisse également, depuis des décennies.. À l’heure où une compensation du renchérissement de plusieurs pour cent est négociée sur la masse salariale, une réduction des dépenses culturelles (dont la plus grande partie est directement affectée au paiement de salaires) n’est pas défendable. Il serait plutôt temps d’introduire des mesures durables d’amélioration de la sécurité sociale des acteurs/actrices culturel·les — avec des adaptations adéquates dans les systèmes de prévoyance du premier et du deuxième pilier. Cela ne concerne d’ailleurs pas seulement le secteur culturel, mais aussi toutes les formes de travail « précaires », à savoir les personnes employées à durée déterminée, les personnes ayant des emplois multiples, les personnes partiellement indépendantes ou encore les personnes occupant des positions assimilables à celles d’un employeur. Il y a là un urgent besoin d’agir avec une vision intersectorielle!

Dès mai 2023, le projet de Message culture 2025-2028 sera en consultation avec des mesures concrètes pour les différents domaines d’encouragement. On saura alors quels moyens financiers seront mis à disposition pour l’encouragement de la culture 2025-2028 au niveau fédéral. Au vu des défis que le secteur culturel doit relever, notamment après la pandémie, et compte tenu de l’inflation, il ne convient actuellement pas de réduire le budget de la culture, mais plutôt de l’augmenter.

Les acteurs et actrices culturel·les suisses ne comprennent pas ce qui a poussé le Conseil fédéral à procéder à ces coupes dans le secteur culturel et appellent le Parlement à apporter au projet de budget du Conseil fédéral les corrections urgentes nécessaires à la survie de la branche.

Contacts:

Alex Meszmer, secrétaire général de Suisseculture, alexmeszmer@suisseculture.ch, 043 322 07 30

Omri Ziegele, président de Suisseculture, president@suisseculture.ch, 076 462 42 96

 

Julia Schiwowa – Opernsängerin und Wegbereiterin

Ensemble trifft die selbständige Sängerin Julia Schiwowa zum Interview, und spricht mit ihr darüber, wie sie ihre berufliche Tätigkeit und ihr persönliches Umfeld gekonnt unter einen Hut bringt und dabei feministische Werte vertritt. Sie kommt ursprünglich aus dem Zürcher Seefeld, lebt aber seit vielen Jahren in Thalwil mit ihrem Mann, der als Fotograf arbeitet und ihren zwei Kindern (13 und 11).

Schiwowa hat seit Ende 2019 den mutigen Schritt in die Selbständigkeit gewagt – kurz bevor die Pandemie einsetzte und auch ihr Vorhaben auf den Kopf gestellt hat. Sie war davor in Teilzeit Geschäftsführerin des Singstimmzentrum Zürich in Schlieren. Ursprünglich als klassische Opernsängerin und Sopranistin an der Zürcher Hochschule der Künste und im Schweizer Opernstudio ausgebildet, hat sie sich seit Abschluss ihres Studiums auch immer dem Chanson und anderen Stilrichtungen der Unterhaltungsmusik gewidmet. Diese „zweigleisige“ Laufbahn sei zu ihrem persönlichen Arbeitsstil geworden, so Schiwowa.

Seit 2019 hat sie ein Musiktheaterduo menze&schiwowa mit der Bayerischen Cellistin Lucia Schneider-Menz, mit welcher sie eigene Musiktheaterprogramme schreibt. Im neuen Programm „Wer hätte das gedacht?“ haben sie Musiktheater verdichtet und so treten neben den Künstlerinnen zwei lebensgrossen Klappmaul-Puppen auf. Die Arbeit mit den Puppen hat eine neue künstlerische Ausdrucksweise in ihr Schaffen gebracht. Schiwowa hatte diesen Dezember zudem ihr eigenes Weihnachtsprogramm „Törli uf, Törli zue“ herausgebracht. Daneben singt sie in verschiedenen Opernproduktionen und ist in diversen klassischen Werken zu hören.

Ursprünglich war nicht geplant, dass sie diese unterschiedlichen Stimmrichtungen in ihrer beruflichen Karriere vereint, da dies auch stimmtechnische Herausforderungen mit sich bringt.

Julia Schiwowa, Opernsängerin

Ursprünglich war nicht geplant, dass sie diese unterschiedlichen Stimmrichtungen in ihrer beruflichen Karriere vereint, da dies auch stimmtechnische Herausforderungen mit sich bringt. Sie muss stets ihre Stimmmuskulatur umtrainieren zwischen den Auftritten verschiedener Stile – „Das ist am ehesten mit einer Sportlerin zu vergleichen, die mehrere Sportarten gleichzeitig betreibt“, sagt Schiwowa und lacht. Als Sopranistin singt sie beispielsweise ungefähr eine Oktave höher als bei den Chansons, ausserdem benutzt sie dort mehrheitlich ihre Bruststimme, in der Klassik hingegen fast nie. Ihre Erfahrung damit kann sie im Rahmen ihrer Arbeit am Singstimmzentrum mit anderen Singenden teilen. Dort werden Leute mit Stimmproblemen betreut.

Damals während der Pandemie wollte sie aktiv etwas tun und ihre Leidenschaft einsetzen, hätte aber nie gedacht, dass online ein solches Gemeinschaftsgefühl entstehen würde.

Im Lockdown kam bei Julia Schiwowa Panik auf, da Singen und somit ihr Beruf auf einmal verboten war. Aus der spontanen Idee eines täglichen Einsingens mittels eines Live-Streams auf Youtube begann die Geschichte von „Einsingen um 9“. Am 23. März 2020 ging sie mit ihrer Sängerkollegin Barbara Böhi damit online – aus der Idee wurde ein Run! Am 3. Tag waren über 1000 Leute live dabei. Seither ist kein einziger Tag vergangen, an dem nicht gemeinsam auf Youtube eingesungen wurde. Am 17. Dezember 2022 kam nun die 1000. Folge heraus. Alle Folgen sind online verfügbar und werden fast alle live gestreamt. Sie beinhalten 35 Minuten Einsingen, verschiedene Stimme und Körperübungen und danach noch ein einfaches Lied oder einen Kanon. Für Schiwowa war und ist „Einsingen um 9“ sehr sinnstiftend, damit können die mittlerweile vier EinsängerInnen vielen singfreudigen Menschen einen positiven musikalischen Start in den Tag zu ermöglichen, ihnen Struktur schenken und auch oftmals ein wenig die Einsamkeit mindern.

Es geht immer darum, gemeinsam etwas singend etwas zu erschaffen, es wird nicht nur konsumiert.

Damals während der Pandemie wollte sie aktiv etwas tun und ihre Leidenschaft einsetzen, hätte aber nie gedacht, dass online ein solches Gemeinschaftsgefühl entstehen würde. Gekrönt wurde dieses mit zwei Mitsing-Events im 2022, die im Volkshaus Zürich (Das Grosse Singen) und im offenen St. Jakob (Das Grosse Weihnachtssingen) stattfanden. Zweimal waren die Säle gefüllt, die Leute sind sogar aus Deutschland angereist, um gemeinsam einzusingen. „Es geht immer darum, gemeinsam etwas singend etwas zu erschaffen, es wird nicht nur konsumiert“, meint Schiwowa. Schiwowa, die ihren Sohn gleich nach dem Studium bekam, hatte gesellschaftlich quasi „alles falsch gemacht“. So bekam sie entsprechend auch kaum Mutterschaftsgeld und sie hatte latent das Gefühl, immer alles „trotzdem“ zu tun, trotz Systemen, in die sie einfach nie hineinpasste. Dank ihren eigenen Projekten hat sie sich über die Jahre ihre Musikwelt erschaffen und kann davon als selbständige Künstlerin mit Familie leben.

Zur Berufssituation für Frauen sagt sie „Wir sind noch nirgends!“ – vieles sei noch unterschwellig an Ungleichheiten vorhanden und es gebe deshalb einen triftigen Grund, warum sie ihren eigenen Weg gegangen ist und eigene Konstellationen aufgebaut hat.

Das sei eher der „harte“ Weg, den sie seit 15 Jahren geht. Aber mittlerweile ist sie sehr dankbar, dass sie diesen Weg so gegangen ist, denn heute hat sie überall tolle Teams mit hervorragenden Leuten, pflegt mit ihnen eine funktionierende offene Kommunikation und einen respektvollen Umgang. Was will man mehr? Zur Berufssituation für Frauen sagt sie „Wir sind noch nirgends!“ – vieles sei noch unterschwellig an Ungleichheiten vorhanden und es gebe deshalb einen triftigen Grund, warum sie ihren eigenen Weg gegangen ist und eigene Konstellationen aufgebaut hat. Es wäre schön, sich auszutauschen unter Führungsfrauen im Musikbusiness, Frauen, die Bands leiten oder auch Touren organisieren und durchführen. Denn es gibt wenige, die alles gleichzeitig machen.

Ensemble Magazin bedankt sich bei Julia Schiwowa für das inspirierende Gespräch und ist beeindruckt von ihrem mutigen Weg, den sie geht!

„Workshop: Vorbereitung auf ein Casting“ Interview und Eindrücke

Am 28. November und 5. Dezember organisierte das Büro von ScèneSuisse in der Romandie zwei Workshops mit David Baranes zum Thema „Comment mieux appréhender son casting“, die bei den Teilnehmer*innen ein voller Erfolg waren.

Text von Viviane Bonelli

Viviane Bonelli nutzte die Gelegenheit, um dem Referenten David Baranes einige Fragen zu stellen:

Wie haben Sie den ersten Tag mit den Schweizer Schauspieler*innen verbracht?

Es war das erste Mal, dass ich in die Schweiz gekommen bin, um den Workshop anzubieten, den ich sonst  nur in Frankreich anbiete. Alles in allem war es eine sehr angenehme Erfahrung, die Schauspieler*innen waren sehr aufnahmefähig und hörten zu. Ich bin wirklich begeistert von dieser Begegnung und wurde zudem sehr freundlich empfangen.

Haben Sie vor, die Künstler*innen, die Sie in der Schweiz gesehen haben, ein weiteres Mal einzusetzen?

Ja, ich werde an einem Film arbeiten, der in Deutschland und Frankreich zur Zeit des Zweiten Weltkriegs spielt. Dafür brauche ich Schauspieler*innen, die einen deutschen Akzent haben und die beide Sprachen sprechen. Es war eine tolle Überraschung, dass die Schweizer Schauspieler*innen grösstenteils zweisprachig sind. Man denkt im ersten Moment, im Vergleich zu deutschen Schauspieler*innen, nicht unbedingt daran.

Was hat Sie an diesem Tag am meisten beeindruckt?

Die Motivation der Schauspielern*innen aus der Schweiz, die ihre Karriere außerhalb des Landes entwickeln.

Ich fand es gut, Personen mit deutscher Muttersprachen auf Französisch spielen zu sehen.

David Baranes, Casting-Direktor

Was ist für Sie der grundlegende Unterschied zwischen französischen Schauspielerinnen und Schauspielern?

Ich frage mich, ob es den oder die typische Schweizer Schauspieler*in gibt? Sie wirken generell zwar etwas ernster, hatten ihre Texte aber sehr gut gelernt und es war sehr angenehm mit ihnen zu arbeiten. Ich fand es gut, Personen mit deutscher Muttersprachen auf Französisch spielen zu sehen.

Würden Sie wieder in die Schweiz kommen?

Ja, natürlich gerne.

Was haben Ihnen die Genfer Schauspieler*innen gebracht?

Energie und Lust zu arbeiten.

Was hat Sie an den zwei Tagen des Workshops in der französischsprachigen Schweiz am meisten positiv überrascht?

Die Motivation der Schauspieler und die Lust, zu experimentieren und ihre Grenzen zu öffnen.

Es ist ein Hype, der gerade erst entsteht und nach Ausdruck verlangt – ein Markt, der nur darauf wartet, zu explodieren.

Sie sprechen von der Begeisterung des französischen Marktes für belgische Schauspieler, wie denken sie über die Zukunft von Schweizer Schauspieler*innen auf dem Französischen Markt nach?

Es ist ein Hype, der gerade erst entsteht und nach Ausdruck verlangt – ein Markt, der nur darauf wartet, zu explodieren. Dieser Reflex ist quasi vorgezeichnet, den es in Frankreich so noch nicht gibt. Man denkt in erster Linie ausserhalb Frankreichs an belgische Schauspieler*innen, aber nicht direkt an die Schweiz. Einen französischen Casting-Direktor einzuladen, ermöglicht es uns zu zeigen, dass es hier Schauspieler*innen gibt, die es zu entdecken gilt. Die Schweiz ist in der Distanz von Frankreich nicht weiter entfernt als Belgien. Wenn wir diese Workshops also weiter ausbauen, werden wir voraussichtlich den Schweizer Markt in Paris entwickeln. Warum sollten die Belgier eine Chance haben und nicht auch die Westschweizer? Beide sprechen Französisch.

Hatten Sie eine positive Überraschung oder eine Entdeckung unter all diesen Schauspieler*innen?

Ja, ich habe mehrere entdeckt und insbesondere eine Schauspielerin hat sich deutlich von der Masse abgehoben.

Wenn Sie nach Paris zurückkehren, wie würden Sie dieses für Sie neue Casting-Gebiet Schweiz beschreiben?

Was die Infrastruktur und die Organisation betrifft, ist es sehr geordnet. Zudem würde ich verbreiten, dass die Schweiz ein echtes Potenzial an Schauspieler*innen zu bieten hat, das nur darauf wartet, entdeckt zu werden. Schweizer Schauespieler*innen, das klingt exotisch! Wenn wir buntgemischte Castings machen, suchen wir überall in Frankreich und Belgien, aber eben bisher nicht in der Schweiz. Ich werde die Dringlichkeit betonen.

Sie sprechen zu Beginn des Workshops gerne über Ihre Anekdoten, warum?

Das sind Anekdoten, um zu erklären, wie ein Casting-Direktor auf diese/n und jene/n Schauspieler*in zugeht, um den/die Richtige zu finden. Sie erklären auch, wie man besser an das Casting herangeht, um eine Rolle zu bekommen!

Was Viviane Bonelli am meisten beeindruckt hat, ist, dass David Baranes ein wohlwollender Casting-Direktor ist, dem die Schauspieler*innen am Herzen liegen. Und was hielten die Schauspieler*innen von ihm?

„Davids Persönlichkeit war genau richtig für das Casting, er hat die Schauspieler*innen spielen lassen und ist ihnen mit viel Respekt und Ermutigung entgegengetreten (was meiner Erfahrung nach bei weitem nicht immer der Fall ist…). Außerdem war es toll, Kolleg*innen zu treffen und Zeit mit ihnen zu verbringen, die ich nicht kannte.“ Mathieu Z.

„Zunächst möchte ich dir dafür danken, dass du diesen Workshop möglich gemacht hast. Ich habe diese Zeit der Arbeit und der Begegnungen sehr genossen. Es wäre schön, wenn wir wieder
Workshops wie diesen mit Casting-Direktoren aus Frankreich oder der Westschweiz veranstalten können.“ Délia A.

 

Malcantone im Tessin: Agorà Teatro, Magliaso

Text von Blue Sky

Der Malcantone ist ein Gebiet im Kanton Tessin, das neunzehn Gemeinden umfasst und sich vom Luganersee bis zum Monte Lema erstreckt, mit kleinen Dörfern, Bergstraßen, großen Kastanienbäumen und Weinbergen. Und genau in dieser Region befinden sich seltene Perlen der Tessiner Performancekunst.

Einst wurden Metallerze abgebaut, von denen heute nur noch wenige historische Artefakte erhalten sind, und in den Tälern können wertvolle Kunst- und Kulturschätze und charakteristische Museen besichtigt werden. Künstler*innen und Räume von ungewöhnlicher Schönheit und hoher Professionalität, die durch den Wunsch verbunden sind, ihr eigenes Menschsein mit den anderen zu teilen. Dort, wo sich die Kunst zu Hause fühlt, wird sie zu Materie, zu Körpern, und gewinnt an Wert sowohl in der stillen Suche wie auch an öffentlich zugänglichen Orten.

Blue Sky traf für Ensemble-Magazin die Künstler*innen des Malcantone, die  Mitglieder von ScenaSvizzera sind: Opera retablO von Ledwina Costantini, Salone Piazza Grande von Sandro Schneebeli, Teatro Agorà von Marzio Paioni und Olimpia De Girolamo und Teatro Lo Sgambetto unter der Leitung von Melanie Häner – jede und jeder von ihnen ist ein Mikrokosmos der Performancekunst!

Interview mit Marzio Paioni und Olimpia de Girolamo, den künstlerischen Leitern vom Agorà Teatro.

In Magliaso, nur einen Steinwurf vom Seeufer entfernt, befindet sich ein Haus, in dem sich ein Theater befindet, das Agorà Teatro, ein Haus der Künste, das 2005 von Marzio Paioni gegründet wurde.

Ensemble Magazin: Warum ein Theater in ein Haus bauen?

Marzio Paioni: Nach den Jahren des intensiven Studiums in Mailand und Rom entstand in mir der starke Wunsch, das, was ich positiv erlebte, an andere Menschen weiterzugeben. Grotowski spricht in einem seiner Texte davon, „eine Hütte zu haben“, und das ist der Ursprung der Inspiration: zu Hause einen Raum zu öffnen, um zu empfangen und zu kommunizieren. Agorà Teatro entstand also aus dem menschlichen Bedürfnis heraus, über die Theaterschule hinaus zu sagen: „Ich bin hier“ und das Leben, und eine bestimmte Art zu denken und zu handeln, mit anderen Menschen zu teilen. Ich wollte wirklich, dass das Haus und das Theater in der gleichen „Hütte“ sind, mit einer Tür als einziger Schwelle zum Überschreiten der Grenze. Ich wollte einen Ort schaffen, an dem Menschen mit sich selbst und anderen in Beziehung treten können, um ihre inneren Fähigkeiten, ihre Emotionalität und ihre Kommunikationsfähigkeit zu entdecken.

Das Theater war ein kathartischer Ort, an dem ich erneuert und geläutert auftauche, wenn ich jemanden sah, dem Dinge widerfuhren.

Marzio Paioni, Künstlerische Leitung des Agorà Teatro

Welche Bedeutung hat der Name Agorà Teatro?

Die Agora ist ein Versammlungsort, ein Platz, der seit der Antike ein Ort der Gemeinschaft war. Das Wort Theater bedeutet in seiner ursprünglichen Bedeutung „Gemeinschaft bilden“, weshalb die Griechen es vor mehr als zweitausend Jahren schufen. Das Theater war ein kathartischer Ort, an dem ich erneuert und geläutert auftauche, wenn ich jemanden sah, dem Dinge widerfuhren. 

Das Agorà Teatro will genau das sein: ein symbolischer Platz, an dem Menschen, die sich nicht kennen, zusammenkommen und wachsen können, und an dem das Publikum sich lebendig fühlen und mitmachen kann. Das ist es, was Theater ausmacht: diesen Raum zwischen dir und mir zu bewohnen.

An der Schwelle zwischen Haus und Theater treffen wir auch ethische Entscheidungen. Wir versuchen, in der Haltung des täglichen Lebens eine innere Kohärenz zu leben, die wir auf die Bühne und zu unseren Schülern bringen. Es kann nur so sein: mit einem Habitus, der getragen, gelebt und weitergegeben wird. Unsere Studenten leben und bewohnen diese Agora: Die Haustür des Theaters steht immer offen und sie können zu den Proben und zum Training kommen.

Ein solches Theater zu haben, bedeutet, eine Gemeinschaft zu schaffen, eine Gruppe von Menschen einzubinden, die gemeinsame Werte haben: Unsere sind friedlich, der Mensch steht im Mittelpunkt und nichts ist interessant außer dem Menschen.

Was ist der Schwerpunkt eurer Arbeit?

Im Mittelpunkt unserer Arbeit steht das Wort „Person“ und seine persönliche Kraft. In diese Agora kommen Menschen („schöne Seelen“) unterschiedlicher Berufe und Altersgruppen, die alle dasselbe suchen: einen Ort, an dem sie endlich wieder mit all dem in Verbindung treten können, was die Welt draußen uns vergessen lässt. Ein solches Theater zu haben, bedeutet, eine Gemeinschaft zu schaffen, eine Gruppe von Menschen einzubinden, die gemeinsame Werte haben: Unsere sind friedlich, der Mensch steht im Mittelpunkt und nichts ist interessant außer dem Menschen. Daraus folgt, dass einer der Grundwerte die körperliche Arbeit ist. Grotowsky lehrte uns: Das Training mit seiner Disziplin ist die Gelegenheit, den eigenen Körper als Kanal für den Kontakt mit der Essenz des Menschseins, der eigenen Seele, wiederzuentdecken. Die tiefe Forschung mit und im Körper wird zum Instrument der Erforschung der Welt, des persönlichen Wachstums, des Raums für Beziehungen und des poetischen Schaffens.

Das ist der Grund, warum wir mit Grotowskis Werk in Berührung kommen: Ich leihe mein ganzes Ich der Figur, die eine Seele hat, der ich mich zur Verfügung stelle.

Wie überträgt sich das auf  eure Poetik?

Das Theater ist das Medium zur Erforschung des menschlichen Wesens in all seinen Formen und Ausdrucksweisen. Unsere Poesie befasst sich immer mit menschlichen Fragen, und existenzielle Fragen tauchen immer in unseren Kreationen auf, sowohl in der Produktion als auch in den Ausbildungskursen.  Das ist der Grund, warum wir mit Grotowskis Werk in Berührung kommen: Ich leihe mein ganzes Ich der Figur, die eine Seele hat, der ich mich zur Verfügung stelle.  Training, Stimmarbeit und Zuhören sind grundlegend, um die Tür zur Poesie zu öffnen. Im Mittelpunkt steht immer der Mensch, und dem anderen zuzuhören, ist Leben. Was und wo es mich berührt, was und wie ich fühle, wie es mich bewegt.

Jeder Text, jeder Autor gibt uns bestimmte Umstände vor, und wir versuchen, mit ihnen in Kontakt zu treten. Manchmal schaffen wir unsere eigenen, wie in La Mar. Es ist eine Suche im Menschlichen: Was haben wir mit dieser Geschichte zu tun? Welche Verbindungen gibt es zum Leben? Was geschieht dort? Es ist kein Zufall, dass der griechische Ursprung des Wortes Theater sich von theaomi, schauen, ableitet und das Wort oida, ich weiß, verwendet wird, das mit ich habe gesehen kombiniert wird. Indem ich dein Verhalten sehe, das wichtiger ist als Worte, und indem ich zuhöre, sehe und weiß ich. Und es macht immer wieder Spaß: den Blick zu wechseln.

Bei Agorà Teatro gibt es keine Trennung zwischen Ausbildung und Produktion, sondern absolute Sorgfalt in allen Schritten. Es ist unsere professionelle Einstellung, es ist eine innere Konsistenz unserer Art, Theater zu machen. Die Tiefe der Arbeit kann sich verändern, und wie weit wir gehen, aber es gibt nie ein egozentrisches Thema.

Nach dem, was ihr sagt, scheint es keine klare Trennung zwischen eurer Produktionsarbeit und euren Ausbildungskursen zu geben.

Bei Agorà Teatro gibt es keine Trennung zwischen Ausbildung und Produktion, sondern absolute Sorgfalt in allen Schritten. Es ist unsere professionelle Einstellung, es ist eine innere Konsistenz unserer Art, Theater zu machen. Die Tiefe der Arbeit kann sich verändern, und wie weit wir gehen, aber es gibt nie ein egozentrisches Thema. Unsere Schüler lernen, auf die Bühne zu gehen, indem sie dem Publikum ein Werk präsentieren, das auf dem Studium von Texten verschiedener Dramatiker beruht. Sie erleben die harte Arbeit, die es bedeutet, eine Szene zu bauen, die Disziplin des Materials, die Pflege des Raums. Wir versuchen, die Ehrlichkeit zu vermitteln, den Ideen auf den Grund zu gehen, selbst den verrücktesten, und das zu wählen, wofür man sich entschieden hat, zum Guten oder zum Schlechten.

Der Weg, auf dem man sich theatralische Techniken aneignet, hat einen großen Wert, der es einem ermöglicht, zu entdecken, warum man etwas tut.

Das Verstehen der Ausbildung, wie die Stimme, die ein großartiger Detektor ist, kommt mit der Zeit, es ist nicht sofort da, und die Ebene des kognitiven Verständnisses kommt, nachdem man wahrgenommen, gehört und erlebt hat. Das Theater ist ein Mittel, um dorthin zu gelangen. Der Weg, auf dem man sich theatralische Techniken aneignet, hat einen großen Wert, der es einem ermöglicht, zu entdecken, warum man etwas tut. Es ist möglich, unseren Reichtum zu zeigen, die Großartigkeit, die wir sind.

Biografie

Das Agorà Teatro wurde 2005 von Marzio Paioni in Magliaso gegründet, um eine ganze Gemeinschaft in die Kunst einzuführen und zu erziehen. Die künstlerische Leitung liegt derzeit bei Marzio Paioni und Olimpia De Girolamo, die von Claudio Orlandini (Mitbegründer) künstlerisch und regietechnisch beraten und von Regisseur Philippe Blanc unterstützt werden. Das Theater organisiert Ausbildungskurse für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die zu Abschlussaufführungen führen. Es veranstaltet ein Festival Segni d’arte (Zeichen der Kunst), bei dem sowohl Aufführungen als auch Fortbildungsveranstaltungen für die gesamte Bevölkerung stattfinden. Die neuesten Aufführungen unter der Leitung von Claudio Orladini sind: La Mar, I Fisici, Barbuta und Il Grande Drago.

Performancepreis Schweiz – Swiss Performance Art Award

Der Performancepreis Schweiz erhöht die Sichtbarkeit der Schweizer Performancekunst, zeigt ihre Vielfalt und Qualität, und stärkt ihre Anerkennung. Der seit 2011 jährlich national ausgeschriebene Wettbewerb ist offen für Bewerbungen von Kunstschaffenden mit einer performativen Praxis aus allen Sparten.

Der Performancepreis Schweiz ist eine partnerschaftliche Förderinitiative der Kantone Aargau, Basel-Landschaft, Basel-Stadt, Luzern, St. Gallen, Zürich und der Stadt Genf. Der Kanton Luzern ist zum zweiten Mal Gastgeber des Performancepreis Schweiz, dieser wird am 12. November 2022 im Kunstmuseum Luzern ausgetragen. Vom 11. bis 13. November 2022 findet ein vielseitiges Rahmenprogramm unter Beteiligung von Luzerner Performanceschaffenden statt. Es finden Performances, Interventionen, Diskussionen und Lectures statt.

Ensemble-Magazin trifft Stefan Sägesser, Kulturbeauftragter des Kantons Luzern. In dieser Funktion ist er auch Leiter der Kulturförderung Kanton Luzern, hierzu gehören neben Theater, Tanz, Musik oder der Bildenden Kunst natürlich auch die Performance-Kunst dazu. In Luzern und der Zentralschweiz existiert gemäss Sägesser bereits eine relativ starke Szene. Diese kulturelle Szene ist traditionell in der bildenden Kunst angesiedelt, was sich aber mehr und mehr verändern wird. Die Bereiche Tanz, Theater und Schauspiel fliessen mehr ein, was auch durch die Hochschule für Design und Kunst geprägt wird. Die HSLU gibt als Partner bietet für die Performance-Kunst extra eine Ausbildung an und bietet dem Medium damit auch Raum für Forschung. Deshalb war der Entscheid klar, bei der Plattform Performance Preis Schweiz dabei sein zu wollen.

„In der Schweiz gab es immer wieder starke Performance-Szenen, die in Wellenbewegungen kamen und gingen, insbesondere in den 70er Jahren, sowie Mitte und Ende der 80er Jahre – es bleibt aber bis heute die Schwierigkeit, für Performance eine Plattform zu schaffen, ergo auch Häuser und Orte, wo sie stattfinden können.

„In der Schweiz gab es immer wieder starke Performance-Szenen, die in Wellenbewegungen kamen und gingen, insbesondere in den 70er Jahren, sowie Mitte und Ende der 80er Jahre – es bleibt aber bis heute die Schwierigkeit, für Performance eine Plattform zu schaffen, ergo auch Häuser und Orte, wo sie stattfinden können. Früher geschah das mehr im Umfeld von Kunstmuseen. Das liegt daran, dass Performance eine anspruchsvolle Kunstform ist aus Sicht der Rezipienten. Man kann nicht genau abschätzen, was einen jeweils erwartet. Es braucht Leute mit einem gewissen kulturellen Hintergrund, als auch einer spezifischer Vorbildung, um die codierte Symbolik der Performance deuten zu können.

Der Performance Preis findet einmal jährlich statt, Sägesser sieht dieses Jahr das theatrale Element im Vordergrund, im Vergleich zu anderen Ausgaben. „Es gibt zunehmend Gruppierungen, Kollektive, das hat sich in den letzen Jahren immer deutlicher herausgestellt. Die klassische Performance, die in der freien Kunst angesiedelt ist, geht eher zurück. In der WestSchweiz ist das sogar noch stärker ein Thema als in der Deutschschweiz.“

Die Höhe des Preisgeldes sei bewusst so gesetzt, denn dadurch werde für das nächste Projekt Gewissheit und Ruhe während dem Prozess des Kreierens gewährleistet.

Sägesser ist mit dem Austragungsort Luzern für die Organisation zuständig, alle Partner-Kantone stellen jeweils geeignete Jury-Mitglieder zur Verfügung. Dabei zählen Diversiät bei Gender- und Sprachvertretung, als auch beim Alter der Finalist*innen eine tragende Rolle. Es wird nach der Einnahme von Positionen, nach Stilmitteln gewertet, wie auch nach dem Innovationsgrad der Ideen. Sägesser betont auch, dass die Tagesform der Auftretenden ein wesentliches Kriterium sei, besonders beim Zusammenspiel in Kollektiven, da es kein spezifisches Skript gibt wie im klassischen Theater. Die Jury entscheidet am Ende unabhängig von der kantonalen Zugehörigkeit der Finalist*inne, wer gewinnt. „Aus Erfahrung herrscht auch im Publikum ein grosses Kribbeln und Anspannung während den Performances“, meint Sägesser.

Sägesser wünscht sich mehr Neugierde für Unbekanntes, Unerforschtes, Überraschendes von seitens Publikum.

Mit der Ausschreibung und Vergabe des Performance Awards ist eine nationale Plattform gegeben. Es handelt sich mittlerweile um eine Auszeichnung, die sich etabliert hat und sich besonders positiv auf Lebenslauf und Reputation der Gewinner*innen auswirkt. Der Preis und auch das relativ hoch angesetzten Preisgeld sind eine gute Basis für das weitere Schaffen der Künstler*innen. Besonders für Stiftungen, darunter beispielsweise Pro Helvetia, sind solche Preise massgeblich. Die Höhe des Preisgeldes sei bewusst so gesetzt, denn dadurch werde für das nächste Projekt Gewissheit und Ruhe während dem Prozess des Kreierens gewährleistet.

Häuser, die eine grössere Kapazität für performative Darbietungen haben, darunter die Gessnerallee in Zürich, die Kulturkaserne Basel, der Südpol Luzern, wie auch die Lockremise in St. Gallen, sollten aus eigener Initiative heraus mutiger werden, auch unter dem Jahr mehr zu veranstalten.

Sägesser wünscht sich mehr Neugierde für Unbekanntes, Unerforschtes, Überraschendes von seitens Publikum – er meint aber auch, dass sich das seit Corona-Pandemie in eine gute Richtung entwickelt und die Performancekunst öffentlich wahrnehmbarer geworden ist. Auch gab es im Publikum in den letzten 7 Jahren grossen Zuspruch, wie auch in der Veranstalterszene. Noch immer gibt es aber eine spürbare Zurückhaltung gegenüber Ungewöhnlichem.

Häuser, die eine grössere Kapazität für performative Darbietungen haben, darunter die Gessnerallee in Zürich, die Kulturkaserne Basel, der Südpol Luzern, wie auch die Lockremise in St. Gallen, sollten aus eigener Initiative heraus mutiger werden, auch unter dem Jahr mehr zu veranstalten. Dies wünscht sich Sägesser für die Zukunft – die Performance-Szene sei an sich schon relativ klein und bringe unabhängig immer wieder aus eigenem Antrieb mit grossem Aufwand Kreationen auf die Bühne. Die Finanzierung wie auch die Werbung sind dabei ein herausfordernder Balanceakt. Sägesser erhofft sich mit der alljährlichen Ausschreibung mehr Perspektive für die Performanceszene.

Folgende Künstler*innen und Kollektive sind diese Jahr für den Preis nominiert:


Collectif Les Heureuses aus Bern sind Jeanne Jacob und Cornelia Nater. Die beiden Künstlerinnen arbeiten seit zwei Jahren zusammen und beschäftigen sich in ihren Malereien, Performances, Audio- und Videoarbeiten mit zwischenmenschlichen Beziehungen und dem Verhältnis zu ihrer unmittelbaren Umgebung. Das Sammeln, Ordnen, gemeinsame Produzieren und Diskutieren betreiben sie mit humorvollen, poetischen und spielerischen Mitteln.

In der Performance Lauter beste Schlusssätze (2022) trinken Jeanne Jacob und Cornelia Nater an einem Gartentisch mit aufgemaltem Mühlespiel Tee. In ihrer Performance richten sie Fragen an das Publikum, an sich selbst und ihr Gegenüber: Was wird hier gespielt? Wer gewinnt und wer verliert? Wobei der Titel andeutet, dass dies mit einem Augenzwinkern geschieht. Der gesprochene Text handelt vom Spielen um des Spielens Willen, der Symbiose zwischen Pilzen und Bäumen, der Begegnung am Küchentisch und der Kunst auf Rädern zu gehen. Untermalt wird das Gespräch von elektronischem Sound, eingespielten Tonaufnahmen und Videos, die die unterschiedlichen Erzählstränge zu einer dichten multimedialen Collage verbinden.

 

Claudia Grimm beschäftigt sich in ihren Performances mit alltäglichen performativen Sprechsituationen. Sie untersucht diese auf ihren Inhalt, die Art des Sprechens und der Wissensvermittlung und reinszeniert sie mit feinen Irritationen. Die daraus entstehenden Vorlesungen, Workshops, Rundgänge oder Ansprachen sind eine Mischform aus Choreografie und Improvisation. Wiederkehrende Themen sind Techniken zum Einüben unterschiedlicher Fähigkeiten, der Umgang mit Archiven und das kollektive künstlerische Schaffen in Zusammenarbeit mit dem Kollektiv DARTS (disappearing artists).
 
Getroffen-werden. Anleitung zu praktischen Übungen (2022)
Treffen können uns die unterschiedlichsten Dinge: eine Aussage, eine Geste, ein Schicksalsschlag, ein herunterfallender Ast. Die Performance «Getroffen-werden. Anleitung zu praktischen Übungen» knüpft an vorangehende Übungsreihen an, worin Claudia Grimm in Zusammenarbeit mit DARTS Strategien für den Umgang mit dem Getroffen-werden präsentiert. Dafür orientiert sich die Künstlerin an How To- oder Survival-Tutorials – Gebrauchsanweisungen, wie wir sie aus dem Internet kennen – und reflektiert deren Vokabular und Demonstrationsmodus. Ausstaffiert mit einer improvisierten Schaumstoffmontur, einem Schutzwall-Kit und wortgewandten Verteidigungsstrategien trotzt Claudia Grimm angreifenden Pfeilen, Steinen oder Sinneseindrücken. Die kommentierten Übungen sollen dazu befähigen, dem Getroffen-werden tapfer und beherrscht zu begegnen.

 

Johanna Kotlaris aus Zürich interessiert sich in ihrer künstlerischen Praxis für zwischenmenschliche Beziehungen und die damit verbundenen Dynamiken von Nähe, Distanz oder Grenzziehungen. In ihren theatralen und oft satirisch überzeichneten Inszenierungen verkörpert sie unterschiedliche Rollen und Charaktere, anhand derer sie Themen wie Identität, Leistung, Fehlerhaftigkeit oder Machtverhältnisse behandelt. Inspiration für ihre Rollen findet sie im Theater, im Film, in der Musikbranche oder der Stand-Up-Comedy. In ihren Performances nutzt sie die spezifische Architektur der Aufführungsorte als wandelbare Bühne und untersucht sie auf ihre Beschaffenheit hin. Ihre zentralen Ausdrucksmittel sind Körpersprache, Sprache und Stimme.

Bibbidi-Bobbidi-Anima (2022)
Die für den Performancepreis Schweiz entwickelte Arbeit «Bibbidi-Bobbidi-Anima» entstand in Kollaboration mit den Performerinnen Hanna Mehler und Marie Popall. Als Personifikation des Todes führt Johanna Kotlaris durch die Räume des Kunstmuseums Luzern und versucht sich in ein menschliches Dasein einzufühlen und sich dieses anzueignen. Die Figur verstrickt das Publikum in ihre Auseinandersetzung mit Verlust, Aufbruch, Veränderung und der Unvermeidbarkeit des Endens: Wie strukturieren sich die Zyklen von Werden und Vergehen? Inwiefern lassen sich die Geschehnisse in unserem Leben beeinflussen und gestalten? Und was hat es mit dem Mythos der Unsterblichkeit auf sich? Die Reflexion der eigenen Rolle sowie Textfragmente aus kulturgeschichtlichen Erzählungen über das Sterben und die damit einhergehenden Neuanfänge mischen sich mit Gesang, Sound und Bewegungssequenzen zu einem zeitgenössischen Totentanz.

 


Milda Lembertaitė & Amelia Prazak arbeiten seit 2014 als Duo und beschäftigen sich in ihren Performances, Videoarbeiten und Kostümen mit den Beziehungen zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Lebewesen sowie dem Spannungsverhältnis von Körper, Nahrung, Umwelt und Technologie. In essayistischen, teilweise surreal anmutenden Erzählungen verbinden sie individuelle Beobachtungen und Erfahrungen mit wissenschaftlichen Erkenntnissen aus Geologie, Medientheorie und Menschheitsgeschichte.

Only See You When I Look at Myself (2022)
Das geophysikalische Phänomen des «erratischen Blocks» bezeichnet ortsfremdes Gestein, das durch Gletscher oder die Gezeiten verschoben wurde. Die auch als Findlinge bekannten Steinbrocken dienen Milda Lembertaitė & Amelia Prazak als Sinnbild, um vielschichtige Fragen zu Identität, Zugehörigkeit, Verortung und Transit zu thematisieren. Die daraus entstandene Performance «Only See You When I Look at Myself» ist als Videoessay konzipiert, worin die Künstlerinnen Screens gleichzeitig als Requisiten, Prothesen sowie Bildträger einsetzen und so auf die Verwobenheit des menschlichen Körpers mit medialen Geräten verweisen. Die Suche nach Heilung und Reinigung zieht sich durch die Erzählung und findet ihren Ausdruck im fliessenden Wasser, das Körper, Gestein und Geräte durchströmt.

 

Natalie Portman nennt sich das Kollektiv bestehend aus Paula Henrike Herrmann, Philémon Otth und Arnaud Wohlhauser. Unter Einbezug von wechselnden Kollaborationspartner:innen organisieren die drei Kunstschaffenden seit 2017 Veranstaltungen und Performances. Durch ihre künstlerischen Eingriffe kreieren sie in alltäglichen Situationen subtile Verschiebungen der Wahrnehmung – Momente der Reibung und Überlagerung zwischen unterschiedlichen Realitäten und Menschen.

La Société du Pestacle (2022)
In der für den Performancepreis Schweiz entwickelten Performance «La Société du Pestacle» versammelt Natalie Portman eine Gruppe von Figuren aus Theaterstücken. Die Schauspieler:innen, die diese Rollen aktuell an verschiedenen Schweizer Theaterhäusern verkörpern, tauchen beiläufig im Kunstmuseum Luzern auf und mischen sich unter das Publikum. Die Figuren werden aus ihrem Ursprungskontext herausgelöst, so dass neue spekulative Beziehungen und assoziative Geschichten entstehen. In ihren Kostümen unterschiedlich klar als fiktive Charaktere erkennbar, verschwimmen die Grenzen zwischen Publikum und Performer:innen. Natalie Portmann reflektiert damit unterschiedliche Darstellungskonventionen des Theatralen ebenso wie die Rollen, die das Publikum im Kunstkontext einnimmt.

 

Francesca Sproccati aus dem Tessin schafft in ihren Performances szenische Erfahrungsräume: Mittels minimaler Setzungen aus Klang, Licht und Bewegung rückt sie die Wahrnehmung des Publikums in den Fokus und lädt dieses zu Interaktion und Kontemplation ein. Aspekte wie Melancholie, Leere oder Erinnerung werden sinnlich erfahrbar.

Out of Me, Inside You (2022)

«Out of Me, Inside You» besteht aus Videoaufnahmen, Field Recordings und Textfragmenten, die Francesca Sproccati während zweier Reisen sammelte. Mit dem Jungfraugletscher und Neapel hat sie zwei ganz unterschiedliche Klanglandschaften durchquert. In Zusammenarbeit mit der Künstlerin Elena Boillat, dem Musiker und Komponisten Adriano Iiriti, der Dramaturgin Rosa Coppola und mit der Unterstützung von Alan Alpenfelt und Camilla Parini entwickelte sie ein Live-Set in einem installativen Setting: Loops und Variationen des Ausgangsmaterials bestimmen die multimediale Choreografie und erzeugen einen intimen Raum, worin das Zuhören, die eigene körperliche Anwesenheit und individuelle Assoziationskraft ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken.

 

Im künstlerischen Kosmos von Latefa Wiersch aus Zürich tummeln sich Mischwesen zwischen Mensch und Tier, Pflanze, Objekt und Maschine, denen sie in Videos, als Performance oder fotografisch inszeniert ein eigendynamisches Leben verleiht. Ausgehend von alltäglichen Beobachtungen und mit abgründigem Humor erzählen die selbstgebauten Puppen von gesellschaftlichen Verhältnissen sowie den Beziehungen zwischen Subjekt und Objekt, zwischen echtem und künstlichem Körper. Wiederkehrende Themen sind Identität, Mutterschaft, Liebe und Gewalt.

Neon Bush Girl Society (2022)
Die Performance «Neon Bush Girl Society» ist eine Zusammenarbeit von Latefa Wiersch, Rhoda Davids Abel und Dandara Modesto. Die drei Künstlerinnen entwickeln aus Text, Gesang und performativen Objekten eine spekulative Erzählung, die sich aus ihrer jeweiligen lückenhaften Biografie sowie den Kultur- und Kolonialgeschichten unterschiedlicher indigener afrikanischer und afrodiasporischer Bevölkerungsgruppen speist. Ein verbindendes Motiv sind Gesten des Umkehrens und Zurückschauens, die für ein Sehnen und Trauern um die verlorene Heimat stehen. Diese finden sich zum Beispiel in der Legende des vom Krieg betroffenen Volkes der Nama im südlichen Afrika: Im Mythos verwandeln sich die Geflüchteten in Mischwesen zwischen Baum und Mensch. Daher stammt der Afrikaans-Name «Halfmens» (dt. «Halbmensch») für eine Pflanze, deren Silhouette an menschliche Figuren erinnert. Daran angelehnt entstanden die hybriden Spielfiguren zur Performance, die mit den Körpern der Akteurinnen in wechselnden Konstellationen zu verschmelzen scheinen. Diese Figuren verweisen zudem auf die identitätspolitische Dimension von weiblichen Körpern of Color und werfen Fragen zu Sichtbarkeit, Repräsentation und Formen der Ermächtigung auf.

Grosses Theater ganz klein – Kleines Theater ganz gross

Puppentheater, Papierkulissen, Opernhaus in Zimmergrösse, doch Dekors und Ausstattung wie bei grossen Bühnen: Die Ausstellung «Alles nur Theater?» im Haus Appenzell dokumentiert von Oktober bis April grosses Herzblut für kleine Theater.

Miniaturtheater ganz unterschiedlicher Art stehen im Mittelpunkt der Ausstellung – gemeinsam ist ihnen eine grosse Spielfreude und viel Liebe zum Detail. Zu spüren ist die Begeisterung der Personen dahinter für das Theater, die Oper, für Geschichten, für den Wunsch, das Publikum in andere Zeiten, Länder und Themen reisen zu lassen.

Theater zum Ausschneiden

Im 19. Jahrhundert erfreuten sich Papiertheater in bürgerlichen Familien einer grossen Beliebtheit als Spielzeug und Bildungsinstrument. Vergleichbar mit den heutigen Bastelbogen zum Ausschneiden, Zusammenbauen und Spielen, waren sie oft den Inszenierungen der grossen Bühnen nachempfunden und reichten von der Oper über das Schauspiel bis zum Märchen. Die Ausstellung gibt einen Einblick in diese Welt und zeigt eine Privatsammlung historischer Papiertheater erstmals öffentlich. Nebst Klassikern aus deutschen Verlagen sowie aus Frankreich werden auch Raritäten aus Dänemark und England präsentiert, die der Sammler Peter Mäder teils mit Zinnfiguren und Marionetten neu belebt.

Raffinierte Bühnentechnik

Der zweite Teil widmet sich Toblers Marionettentheater – eine für ihre Zeit technisch raffiniert ausgestattete Heimpuppenbühne aus dem späten 19. Jahrhundert. Die Gebrüder Georg und Justus Tobler bauten Rittersäle und Räuberstuben originalgetreu im Miniaturformat nach und erweckten sie mittels Marionettenfiguren und Bühnentechnik zum Leben. Im Haus Appenzell wird die Originalbühne gezeigt: Sie verfügt über Konstruktionen wie Versenkungen oder elektrisches Licht, die damals selbst an grossen Häusern noch nicht zum Standard gehörten. Daneben sind Kulissen, Regiebücher, Theaterplakate und Figuren mit allerlei Zubehör aus dem reichhaltigen Fundus zu sehen.

Opernhaus im Zimmerformat

Schliesslich entführen die puppenstubengrossen Opernszenerien des Dekorateurs und Zürcher Originals Bernhard Vogelsanger in die grosse weite Welt des Musiktheaters. Während fast 50 Jahren betrieb er in seiner Genossenschaftswohnung in Zürich Schwamendingen das wohl kleinste Opernhaus der Welt. Liebevoll und mit grösster Sorgfalt gestaltete er Kulissen und Pappfiguren, ja, selbst Schallplattenhüllen und inszenierte Akt für Akt die mitreissenden Geschichten von Liebe, Leidenschaft und Tod. Dem ausgewählten Publikum bot Vogelsanger Samstag für Samstag Opern, Operetten und Musicals. Während sein umfangreiches Vermächtnis noch immer inventarisiert wird, ist eine Auswahl in der Ausstellung zu sehen.

Alle Fotos: © Haus Appenzell, Zürich

 

Massive Vorwürfe an die Ballettschule Theater Basel

Fortsetzung Medienspiegel vom 30. September 2022: In Kooperation mit der „NZZ am Sonntag“ hat das Online Magazin „Bajour“ aus Basel eine umfangreiche Recherche zur Thematik publiziert, die auf Interviews mit 33 Tänzerinnen basiert. Trotz jahrelangem Missbrauch hat die Basler Behörde bis anhin wenig unternommen. Die Leitung der Schule streiten die Vorwürfe vehement ab. Darunter waren erschütternde Stimmen der Tänzerinnen wie diese:

«Als eine Mitschülerin völlig abgemagert ins Spital eingeliefert und an die Sonde angeschlossen werden musste, rüttelte uns das durch. Wir waren zu jung, um das mit den Methoden der Schule in Verbindung zu bringen, für uns war die Botschaft: So dünn müssen wir also werden, um der Direktorin zu gefallen.»

Julie Diethelm, Schülerin an der BTB

oder diese:

«Ich weinte regelmässig und hoffte, man würde uns helfen. Aber niemand setzte sich für uns ein. Es schien, als hätten sie alle eine stillschweigende Vereinbarung getroffen: Was hier läuft, mag hart sein, aber nötig. Man brach uns, und alle schauten zu.»

Madison Devietti

Aktuell will die Ballettschule Theater Basel  eine unabhängige Untersuchung in Auftrag geben und sich wheren, was in einer Mitteilung auf Bajour heute bekannt gegeben wurde. Dies nachdem Bajour und die «NZZ am Sonntag» Vorwürfe von Schüler*innen publik machten, die von jahrelangem Missbrauch berichten.

In den Gesprächen, die Bajour und die «NZZ am Sonntag» mit den 33 Schüler*innen führten, werden der Schule Demütigungen im Unterricht, systematische Beschimpfungen und Mobbing vorgeworfen. Die meisten Frauen sollen während der Zeit an der BTB keine Menstruation gehabt, eine 1,69 Meter grosse Studentin noch 36 Kilo gewogen haben. Panikattacken, Essstörungen, Ermüdungsbrüche sollen die Folge gewesen sein. Neben den Gesprächen haben wir zahlreiche Krankenakten, Mails und Textnachrichten ausgewertet.

Bajour, Online Magazin

Es sei nicht die erste öffentliche Diskussion über die Ausbildung von Balletttänzer*innen in der Schweiz. Lange Zeit hätten die Spitzensportler*innen als Symbol für Eleganz und Perfektion, wenn sie anmutig Pirouetten drehen und scheinbar mühelos auf Zehenspitzen über die Bühne gleiten. Doch das System, das Balletttänzer*innen hervorbringt, steht immer öfter unter Kritik. Diesen Sommer machte Die Zeit Anschuldigungen publik, dass an der Zürcher Tanz Akademie (TAZ) ein System der Angst herrsche.

Wichtig: Die Mitgliedschaft bei SzeneSchweiz ist währen der Ausbildung gratis und auf der Website gibt es eine anonyme Meldeplattform, die jederzeit genutzt werden kann.