Missbrauch & Genie – Kunst als Entschuldigung
Warum werden die Stars und die «Genies» im Kulturbetrieb noch immer geschützt? Warum fürchten Betroffene, sich zu wehren? Und das nach mehreren Jahren #MeToo? Ein Editorial aus Wut und Unverständnis.
«Das ist der Mut, den die Grossen brauchen», dachte ich mir. Das Kleintheater zur Waage in Elgg setzt zurzeit eine Missbrauchsgeschichte im Bühnenbereich als Oper um. Genauer: Georg Friedrich Händels Acis and Galatea. Darin werden Sexismus, Machtgefälle und von feinen bis zu den massiven Übergriffen thematisiert, die im Kulturbetrieb zum Alltag gehören.
Warum nehmen sich die grossen Häuser nicht des Themas an? Seit ich für SzeneSchweiz die Kampagne über sexuelle Übergriffe vor und hinter den Bühnen mitgestaltet habe, hat sich nichts bis wenig bewegt, wie unsere aktuellste Umfrage zum Thema zeigt. Natürlich hört man schöne Worte über gute Absichten – Code of Conduct nennt sich das jetzt.
Aus: SzeneSchweiz-Umfrage Sexuelle Übergriffe innerhalb der letzten zwei Jahre:
Betroffen: 79 % der Teilnehmenden haben in dem genannten Zeitraum ein oder mehrere negative Erlebnisse gehabt.
Frauen: 69 % / Männer: 31 % / am stärksten betroffene Altersgruppe: 30–49 Jahre (57 %)
Häufigste Art: Mit 53 % ist das die verbale Belästigung, dominiert von obszönen Witzen und Sprüchen sowie aufdringlichen Gesprächen und Geschichten mit sexuellem Inhalt. Körperliche Belästigungen sind die zweithäufigste Art (22 %) und bestehen vorrangig aus «zufälligen Körperkontakten». Eine Vergewaltigung wurde dreimal angegeben.
Hauptverursacher: 81 % Männer, 9 % Frauen, zu fast gleichen Teilen ausgehend von Vorgesetzten (38 %) und Arbeitskollegen (39 %)
Dominierende Reaktion auf den Vorfall: «Darüber reden» im privaten Umfeld (22 %) und mit ArbeitskollegInnen (17 %)
Spricht man aber mit den Ensembles, mit den Künstler*innen, erkennt man, dass die Missgriffe, die Übergriffe und der Machtmissbrauch noch immer stattfinden. Und noch immer kann es die Karriere von Künstler*innen vernichten, wenn sie den Mund aufmachen. Wenn SzeneSchweiz die wenigen Betroffenen, die sich zur Wehr setzen, begleitet, endet das in den meisten Fällen mit einer Stillschweige-Vereinbarung. Es sind nicht nur die Häuser, die ihren Ruf und ihre Stars schützen wollen, es sind auch die Künstler*innen, die um ihre Karriere fürchten. Jeder weiss, was vor sich geht, niemand macht den Mund auf.
Genie darf alles
Ich habe mich gefragt, warum das wohl so ist. Und dann ist mir eine Szene in den Sinn gekommen, die ich vor einigen Jahren – damals noch als Zürcher Journalist – voll ungläubigem Staunen erlebt hatte: Am Zürich Film Festival wurde Roman Polański verhaftet. Ein Künstler, ein Genie des Kinos, der sich als über 40-Jähriger an einer 13-Jährigen vergangen hatte und sich nach einer rechtmässigen Verurteilung der Strafe entzog. Das wäre an sich schon schockierend genug, aber das war es nicht. Es waren die Zürcher Kulturschaffenden, die mit einem «Free Polański»-Anstecker vor dem Kino Corso demonstrierten.
Die Argumention lautete: Wer eine herausragende künstlerische Leistung bringt, darf sich auch mehr erlauben und hat das Anrecht auf Schutz. Oder salopp: «Genies dürfen auch Widerlinge sein, solange sie Kunst abliefern.»
Und das zieht bis heute, selbst nach #MeToo, selbst in einer kleinen Szene wie der Schweiz. Noch immer gilt Nachsicht mit den «Genies», noch immer darf sich der «Maestro» alles erlauben. Man schleicht auf Zehenspitzen um einen «herausragenden Künstler» herum, um nur ja nicht seinen schöpferischen Fluss zu stören, während man über die Mitglieder des Ensembles hinwegstampft, wenn sie den Mund aufmachen. In den Schweizer Häusern und Produktionen ist allen bekannt, welchen Stars und Genies man nicht trauen kann. Es gibt sogar Ensembles, die Neuankömmlinge warnen, mit wem sie besser nicht alleine in den Lift oder in der Kabine sein sollten. Wir alle kennen die Geschichten.
Schaden für den Kulturbetrieb
Und nun zurück zu den Verantwortlichen im Kulturbetrieb, zu den Leuten, die genug Macht haben, um einen Unterschied zu machen: Sie schweigen. Sie reagieren im besten Fall zögerlich, im schlimmsten Fall drohen sie mit Klagen. Fragt man nach, gehts darum „den Kulturbetrieb zu schützen“. Man wolle nicht, dass kulturelle Institutionen in der Öffentlichkeit einen schlechten Ruf bekämen, die Situation (Subventionen, Eintrittsverkäufe) seien so schon schlimm genug und ein Skandal würde allen schaden.
Das ist peinlich. Kultur soll unter anderem Werte vermitteln. Ein Kunstwerk, ob auf der Bühne, auf der Leinwand oder als Bild an der Wand, ist Ausdruck einer emotionalen und geistigen Haltung. Und wenn der Künstler (ja, meist Männer) ein übergriffiger Widerling ist, ist seine Kunst davon besudelt. Kunst ist ein Ausdruck des innersten Wesens der Künstler**innen, und wenn dieses innerste Wesen korrumpiert ist, ist es auch die Kunst.
Was schadet der Kultur mehr: Eine Kultur der Missbräuche, des Versteckens, des Heuchelns oder eine offene Auseinandersetzung mit den Missständen, die alle darstellenden Künstler*innen in ihrem Alltag bei sich oder Kolleg*inne erleben müssen?
Es ist Zeit, die Güllenschaufel hervorzuholen und auszumisten. Gemeinsam. Ohne Angst.
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