Schauspiel: Einmal Tiger und zurück

Wie transformiert man sich selbst ins Unbekannte? Ins Wilde? Ins Neue? Corinne Soland lernt in London, wie man das Ego entspannt, sich öffnet und den Tiger reinlässt.
Von Corinne Soland

Soften.

Wir wurden in unserer Arbeit von Timothy Dodd von der Company Gabrielle Moleta begleitet und angeleitet. Die Tier-Transformationsarbeit stammt aus einer Tradition, die stetig weiterentwickelt wurde. Gelehrt und praktiziert haben unter anderen Jacques Copeau, Michel Saint-Denis, John Blatchley und Catherine Clouzot. Letztere gab ihr Wissen 2005 weiter an Gabrielle Moleta, Birgit Nordby und Hilde Hanna Buvik. Tim ist langjähriges Mitglied in Gabrielle’s Company und begann in den letzten Jahren, selber zu unterrichten.

Er führte uns durch die wichtigsten Arbeitsschritte im Prozess und stellte sicher, dass wir uns als Performende in einem Raum bewegen konnten, der sowohl für unser Performer:innen-Ich wie auch unser Tier-Ich (und alles, was dazwischen lag), unterstützte. Diese Herangehensweise passte gut zum Konzept des Softening, das uns das ganze Jahr über im MALab begleitet. To soften ist der erste Schritt im Tier-Transformationsprozess, um dich als Performer:in bereitzumachen, “das Tier übernehmen zu lassen”. 

Meet.

Der Prozess begann damit, dass Tim uns unser erstes Tier nannte (Tiger) und uns in den Zoo schickte. Ausgestattet wurden wir mit einem A4 Blatt, auf dem stand, was wir genau beobachten sollten. Tim meinte, wir sollten uns mehrere Stunden Zeit nehmen und erstmal nur mit dem Tier in Co-Präsenz sein, die Energie fühlen, das generelle Tempo und den ersten Eindruck wirken lassen. Ab unserem zweiten Besuch fokussierten wir uns auf die praktischen und objektiv beobachtbaren Handlungen. In welcher Umwelt existiert dieses Tier? Wie ist die Anatomie, wo ist das Gewicht verlagert, in Bewegung? Was sind die Positionen für Schlafen, Essen, Trinken, Gähnen und Kratzen? Was sind die verschiedenen Rhythmen? Wie geht das Tier mit seinem Essen um, welche Handlungen sind involviert und welche Körperteile? Wie ist das Verhältnis von Muskeln zu Fett zu Fell zu Zähnen?

Wenn wir Details berichteten, forderte Tim uns auf, noch mehr auf den Gesamtkomplex Tier – Umgebung zu fokussieren, wenn wir von Grundenergien und Rhythmus sprachen, wollte Tim mehr Berichte von Nahaufnahmen. Was ist ein Magic Moment? Achtung – keine subjektiven Bewertungen einfliessen lassen oder moralisch geprägten Adjektive! Sehr gut zu gebrauchen für die weitere Arbeit waren Beschreibungen von Handlungsabläufen, zum Beispiel: “Der Tiger presst sein Gewicht mit seinen Vorderpfoten in den Boden. Dadurch verlagert sich das Gewicht in die Schultern und nach vorne. Der Tiger steht auf. Sein Kopf bleibt gesenkt.”

Behave.

Zurück im Proberaum ging es an die Übertragung des Beobachteten und zur Umsetzung unseres individuellen Tigers. Denn eines wurde ganz schnell sehr offensichtlich: Es gibt nicht die Art, einen Tiger zu verkörpern. Es gibt im Einladen des Tigers in unseren Transformations-Proberaum genau so viele Tiger, wie es Performende gibt, mit ihren eigenen Stimmen, Bewegungen und Charakteren. Einige unserer Tiger krochen, andere schlichen, andere begannen früh, sich in ein Tiger-Mensch-Wesen zu verwandeln. Videoaufnahmen von in der Wildnis lebenden Tigern unterstützen uns bei dieser Arbeit, um zusätzliche Bewegungsmuster einfliessen zu lassen.

Die Verkörperung fand immer während 20-minütigen Runden statt, in denen die Gruppe halbiert wurde. Während die eine Hälfte der Gruppe den Raum als Tiger erkundete und Dinge erlebte, sass die andere Hälfte bereits wieder über ihren Notizheften oder am Handy, um neue Videos anzuschauen.

Transformation.

Nach dem Tiger wurde uns noch ein weiteres Tier zugeteilt. Ich habe mit einem Pferd gearbeitet und bin dabei auf ganz andere Erkenntnisse gestossen als beim Tiger. Auch haben sich die menschlichen Figuren, die sich aus diesen beiden Tieren für mich entwickelt hatten, stark unterschieden: Der Tiger wurde bei mir zu einem Goldwäscher mit dicken Stiefeln, viel Gewicht und einem Alter von etwa 50 Jahren. Das Pferd hingegen brachte in mir einen ca. 10-jährigen Jungen hervor, der ein Baumhaus hatte, auf dem Weg war dorthin und noch eine Liste machen wollte mit Dingen, die er dann nicht vergessen durfte, mitzunehmen. 

Ein paar Eindrücke, die ich aus dem Prozess mitgenommen habe, geben euch vielleicht Einblick darin, was in diesen Transformationen alles entstanden ist. Diese Aussagen stellen gleichzeitig auch neue Fragen dar, die in der Begegnung mit neuen Tieren wieder ausgekundschaftet werden können.

  • Menschen urteilen über ihren Körper und ihr Verhalten, Tiere nicht.
  • Wir lernen von der Lebensenergie des Tieres. Was macht das Tier mit dieser Lebensenergie, wie zeigt sich diese im Körper und im Verhalten?
  • Der Atem. Der Atem als Weg und Zugang zu einem anderen Körper, der grösser, schwerer, agiler, leichter, flexibler, stärker ist als du.
  • Wie begegnet dein Tierkörper den Umständen, in denen er sich befindet?
  • Der Tiger nimmt sich, was er möchte. Keine Gedanken an die Folgen. Keine Entschuldigung. Gleichzeitig weiss er, dass er nicht verletzt werden darf, weil er sich selber nicht heilen kann, wenn er eine Wunde hat. Er möchte Einsamkeit, er möchte beschützen.
  • Kampf ist Spiel. Bis es kein Spiel mehr ist.
  • Tierarbeit ist das Aufgeben einer menschlichen Logik.
  • Erkunde die Kind-Version des Tieres. Verwandle dich in die ältere Version und beobachte, was sich verändert in und an deinem Körper.
  • Tiere existieren und verhalten sich. Sie performen nicht. D.h. wenn wir Tiere sind und ein Publikum haben, ist es kein Publikum im klassischen Sinne, sondern es sind Zeug:innen unseres Seins.

Wenn ihr Interesse habt an der Tier-Transformations-Arbeit der Company Gabrielle Moleta, könnt ihr mit dem Dokumentarfilm auf ihrer Website sehr gut einsteigen. Er porträtiert die Company, wie sie sich exemplarisch in einem Projekt mit dem Habicht auseinandersetzt. Die Tier-Transformations-Arbeit kann auch für das Kreieren von Figuren, Geschichten und ganzen Stücken verwendet werden. www.companygabriellemoleta.co.uk

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