«Gagen reichen nicht für Familiengründung»
Wie kriegt man Kinder und darstellende Kunst unter einen Hut? Wir sprachen mit Camilla Gomes dos Santos, Mutter, Schauspielerin, Tänzerin.
Interview: Reda El Arbi
ENSEMBLE: Camilla, du bist Mutter von zwei Kindern (Alter 9 und 6) und arbeitest als freie Darstellerin. Hast du dich damals bewusst für die Gründung einer Familie entschieden?
Camilla: Ja, ich wusste schon immer, dass ich eine Familie gründen wollte. Allerdings konnte ich mir lange nicht vorstellen, wie sich das mit meinem Bühnenberuf vereinbaren lässt. Der entscheidende Impuls kam in einem Moment, in dem ich darüber nachdachte, meinen Beruf an den Nagel zu hängen – und bereit war, eine Familie zu gründen und meinen Fokus neu auszurichten.
Du bist sowohl Schauspielerin als auch Tänzerin. In welcher Sparte ist die Herausforderung für den Spagat zwischen Beruf und Familie grösser?
Seit der Geburt meiner Kinder arbeite ich nicht mehr als Tänzerin. In beiden Sparten sind die unregelmässigen Arbeitszeiten und langen Engagements die grösste Herausforderung, da wir meist abends arbeiten oder an den Wochenden. Beim Tanz kommt zusätzlich die körperliche Belastung und das kontinuierliche Training hinzu – eine Konstanz, die ich mit kleinen Kindern nur schwer vereinbaren konnte.
Wie hat sich der Wiedereinstieg in die Karriere nach der ersten Geburt gestaltet?
Nach der Geburt meines ersten Kindes erhielt ich nach fünf Monaten eine Anfrage für eine Hauptrolle in einer Theaterproduktion. Diese Anfrage zeigte mir, dass ich am richtigen Ort bin und meinen Beruf nicht aufgeben sollte.
Mit viel Organisation und Unterstützung meines Umfelds hat sich alles gut gefügt. Natürlich waren die schlaflosen Nächte herausfordernd, aber die Freude und Erfüllung, die ich in meiner Arbeit und meiner Familie finde, haben mich getragen. Es hat mir gezeigt, dass beides möglich ist.
Zur Person:
Camilla Gomes dos Santos studierte Tanz und Schauspielerei in Zürich und erweiterte ihr Repertoire danach um eine Sprecherausbildung. Die Arbeit am Theater Hora mit Menschen mit Einschränkungen gaben ihr eine neue, intensivere Perspektive auf die Darstellenden Künste. 2014 gründete sie gemeinsam mit Regisseur Matthias Werder das Theaterkollektiv TheaterREAKTIV. Sie ist Mutter von 2 Kindern.
Wie organisierst du dich, wenn du z.B. Abendvorstellungen hast?
Ein altes Sprichwort sagt, es braucht ein ganzes Dorf, um Kinder zu erziehen. Ich habe mein ganzes Dorf eingespannt – meinen Partner, Familie, Bekannte, Kinderbetreuung und liebe Nachbarn. Doch viele Kolleginnen haben keine solche Unterstützung und müssen entweder unglaublich viel leisten oder ihren Beruf aufgeben. Es ist wichtig, dass wir als Gesellschaft anerkennen, wie viel Organisation, Arbeit und Einsatz es braucht, damit Frauen als Mütter ihren Beruf ausüben können
Wie sieht es mit Kita oder Hort aus?
Die Betreuungszeiten in Einrichtungen passen schwer mit unserem Beruf zusammen, da sie meist tagsüber und nur an wenigen Tagen pro Woche verfügbar sind – und das zu hohen Kosten. Während einer 5- bis 6-wöchigen Probenzeit benötigt man tägliche, bei Vorstellungen – Abend und Wochenendbetreuung. Ohne familiäre Unterstützung ist das mit unseren Gagen nicht finanzierbar. Viele freiberufliche Schauspielerinnen haben kein geregeltes Einkommen oder Sozialleistungen besonders währendes Mutterschaftsurlaubs, was es auch schwer macht, sich eine Kita leisten zu können.
Was sind die grössten Herausforderungen, um Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen?
Die grössten Herausforderungen, um Beruf und Familie zu vereinen, sind unregelmässige Arbeitszeiten, lange Proben und Aufführungen sowie häufige Reisen. Besonders schwierig ist die Unvorhersehbarkeit von Terminen – Proben und Drehtage können sich spontan ändern. Casting-Anfragen auf Abruf machen es nicht einfacher: Ich kann nicht einfach alles stehen und liegen lassen, sondern muss mich erst organisieren, bevor ich zum Casting gehen kann.
Wie sieht es von Arbeitgeberseite aus? Bekommst du da Unterstützung?
Von Arbeitgeberseite ist die Unterstützung oft begrenzt. In der Schauspielbranche gibt es zwar vereinzelt flexible Arbeitszeiten oder die Möglichkeit, Termine anzupassen, aber grundsätzlich sind die Anforderungen sehr hoch und wenig vorhersehbar. Produktionsfirmen und Theater setzen in der Regel auf feste Zeitpläne, und oft sind es die Schauspieler selbst, die Lösungen finden müssen, um Beruf und Familie zu vereinbaren. Unterstützung in Form von Kinderbetreuung oder flexiblen Arbeitszeiten wird selten angeboten, sodass die Verantwortung grösstenteils bei den Schauspielern liegt.
Zudem: Mehr Rollen für Frauen unterschiedlichen Alters und Lebensphasen könnten die Branche inklusiver machen.
Was würde dir – arbeitgeberseitig – am meisten helfen?
Arbeitgeberseitig würde mir vor allem eine grössere Flexibilität bei den Arbeitszeiten und mehr Planungssicherheit sehr helfen. Eine echte Unterstützung bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie würde durch ein verständnisvolles und partnerschaftliches Arbeitsumfeld kommen, in dem die Herausforderungen von Eltern in kreativen Berufen anerkannt und aktiv mitgestaltet werden.
Was müssen junge Darsteller*innen wissen, bevor sie über eine Familiengründung nachdenken?
Es ist ungerecht, dass Frauen oft zwischen Karriere und Familie wählen müssen. Alle Darstellerinnen wissen, wie herausfordernd die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist, aber der Beruf sollte nicht der Grund sein, keine Familie zu gründen. Viele prominente Schauspielerinnen haben Ressourcen und Unterstützung, die uns nicht zugänglich sind. Es fehlen Vorbilder, die zeigen, wie Mutterschaft und Karriere ohne diese Privilegien vereinbart werden können – genau diese braucht es, um Veränderungen zu bewirken.
Egal, wie intensiv eine Produktion war, sei es in Zeiten ohne Engagements, Absagen oder allem, was zum Beruf dazugehört – es gibt für mich auch ein Leben ausserhalb des Bühnenberufs. Ich freue mich immer auf die kostbare Zeit mit meiner Familie, die für mich ein wichtiger Anker ist.
Wo wünschst du dir, dass SzeneSchweiz als Verband aktiv wird, um Familie und Beruf in den Darstellenden Künsten besser vereinen zu können?
Durch Aufklärungskampagnen könnte das Thema „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ stärker ins öffentliche Bewusstsein rücken, um mehr Akzeptanz und Unterstützung in der Branche zu schaffen.
Eine enge Zusammenarbeit mit Kitas und Betreuungsdiensten, sowie mit staatlichen Einrichtungen wie dem Opernhaus Zürich, die bereits Betreuungsangebote bieten, könnte aufgebaut werden. So könnten auch Verbandsmitgliedern günstiger Zugang zu solchen Einrichtungen ermöglicht werden, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu erleichtern.
Der Verband könnte finanzielle Unterstützung für Schauspieler*innen anbieten, um Mutterschaftsurlaub, Kinderbetreuung oder andere familiäre Bedürfnisse zu decken, was eine größere finanzielle Sicherheit bieten würde.
Mentoring-Programme, in denen erfahrene Künstlerinnen ihre Erfahrungen in Bezug auf Familie und Karriere teilen, könnten junge Darstellerinnen dabei unterstützen, Lösungen für ihre eigenen Herausforderungen zu finden.
Über politischen Einfluss könnten stärkere Regelungen für Elternzeit und Arbeitsbedingungen gefordert und höheren Gagen verhandelt werden.
Ein bekanntes Dreieck „Frau, Beruf und Familie“ wird wohl als Thema immer präsent sein. Die Frauen, die die Harmonie für drei Ecken in diesem Dreieck mit ihrer Flexibilität, Kreativität und dem Mut schaffen, sind zu bewundern.