Weg von der Kunst!

(dh) Zugang zu Theaterpädagogik erschliesst sich uns in der Begegnung mit Marcel Grissmer. Auch ihm geht es darum, den Blick und das Denken zu erweitern. Vielleicht fällt dabei allerdings mittendrin ein Stern vom Himmel.

Er ist zwar näher dran am *Theater“, doch gegen das „Pädagogisieren“ sträubt er sich vehement: Marcel Grissmer, seines Zeichens Theaterpädagoge, Kunstvermittler, Regisseur. „Der Begriff der Theaterpädagogik hat sich in den letzten zehn Jahren sehr gewandelt. Inklusion, Diversität und Zugänglichkeit sind Themen, die uns heute vor allem beschäftigen – beschäftigen müssen“, meint er. Wir bestellen Kaffee und Kuchen.

Zwei Jahre leitete Marcel Grissmer das „Junge Theater Solothurn“, danach wechselte er nach Zürich an die Gessnerallee. Hier verantwortete er den Bereich „Vermittlung und Community“. Ab nächster Spielzeit wird er zusammen mit Eveline Eberhard die Leitung des „Theater Stadelhofen“ übernehmen. Von Theater zu Theater zu Theater also. Und doch gehe es „weg von der Kunst“ sagt Grissmer. „Schade“, sagt das „Ensemble“. „Weg vom klassischen Literaturkanon“, sagt Grissmer. „Kein Kleist, kein Goethe, keinen klassischen „Faust“ mehr?“ wispert das „Ensemble“ – den Tränen nahe. „Hilfe, nein! Hoffentlich wird kein klassischer „Faust“ mehr inszeniert“, stösst er hervor. „Für wen denn?!“ Fast verschluckt er sich am Kuchen, fast verschüttet das „Ensemble“ seinen Cappuccino. Nun gibt es Erklärungsbedarf.

Wer entscheidet, was gute, was richtige Kunst ist?

Selbstverständlich liebe auch er die klassische Literatur, denn auch er sei damit aufgewachsen. Aber es gäbe doch noch so viel mehr als die zwanzig ewig gleichen Klassiker! Wer entscheide denn, was gute, was richtige Kunst sei? – Die Institutionen! Vertreten durch die gut gebildete, weisse Mittelschicht. Aber dadurch würden so viele Menschen, so viele Gruppen und Communities ausgeschlossen. Vielleicht gäbe es ja aus dem Balkan ein Stück, das auch ganz interessant sei? Und warum nicht mal eines in fremder Sprache aufführen? Begeistert erinnert sich Marcel an ein Projekt mit der „Eritrean Diaspora Academy“ an der Gessenerallee. Unter anderem stellten die eritreischen Akteur:innen dem „üblichen“ Theaterpublikum Fragen. Mit Performances und unterschiedlichsten Mitteln. Das Publikum merkte bald, dass es hier einmal nicht in der gewohnten – etwas verintellektualisierten Weise – antworten konnte, sondern dass man eine gemeinsame Sprache finden müsste, erinnert sich Grissmer. Hier hätten echte Begegnung und Dialoge auf Augenhöhe stattfinden können. Es habe niemand nach der Fluchtgeschichte gefragt und niemand hätte für den anderen gleich eine Expertise parat gehabt. Es sei einzig um den Austausch gegangen. „Wir müssen von diesem arroganten „Pädagogisieren“ wegkommen. Und die Schwellen beseitigen, die die Kulturstätten zu elitären Inseln machen. Die Theater sind von öffentlichen Geldern finanziert und für alle da!“

Zu viele blinde Flecken

Im Juli wird Marcel Grissmer die Co-Leitung im Theater Stadelhofen übernehmen. Einem kleinen Kellertheater, das zum grossen Teil Figuren- und Objekttheater zeigt. Er freue sich sehr darauf, denn gerade als kulturelle Institution könne und müsse man alle Möglichkeiten nutzen, das Theater so präsent wie möglich zu machen. Für Jugendliche, Armutsbetroffene, für unterschiedliche, marginalisierte Gruppen. In Kulturbetrieben gäbe es noch zu viele blinde Flecken, die es zahlreichen Menschen verunmöglichten daran teilzuhaben. Man müsse Theater anbieten, das allen Zugang schaffe und eine breitere Öffentlichkeit anspreche.

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