CIAO TASI!

(dh) „Warum braucht ein Deutschschweizer gleich vier Aspirin? – für jede Ecke seines Kopfes eins!“ feixt der Tessiner – während er unter Palmen Risotto löffelt und sein Auto im Halteverbot steht. Nach der Fusion mit dem Tessiner Verband TASI sind wir nun also zusammen „Szene Schweiz“ – „Scena Svizzera“. Das „Ensemble“ hat mit fünf ehemaligen TASI-Mitgliedern über Unterschiede in der Kultur, Klischees und über die Fusion gesprochen.

IGOR MAMLENKOV ist freischaffender russischer Künstler, Clown und Schauspieler. An der Accademia Dimitri hat er seinen Master in „Physical Theatre“ gemacht und währenddessen seine eigene Theatergruppe „Domovoi Theatre Company“ gegründet. Ausserdem hat er dieses Jahr den Tessiner Kulturverein „Blue Selyodka“ ins Leben gerufen.

Igor, als freischaffender Künstler im Tessin hast du natürlich dem TASI angehört. Was hat dir diese Mitgliedschaft bis jetzt gebracht?

Ha! Was für eine Frage! TASI war für mich eine Art Lebensretter, als ich während des ersten Lockdowns in eine Schöpfung geraten bin.

Du bist in eine Schöpfung geraten?

Ja, ich war gerade im kreativen Prozess einer neuen Produktion. Das Proben, die Trainings und das ganze Erarbeiten – zusammen mit dem Familienleben in einem Haus – war für mich eine tägliche Herausforderung. Es war nicht einfach! Da war TASI für mich wie eine Oase, wo ich Rat, Hilfe und Informationen bekommen konnte. Es war wichtig, einen Ort ausserhalb des Hauses und professionelle Mitarbeit zu haben.

TASI und SBKV haben zu „Scena Svizzera“ fusioniert. Hast du davon gehört?

Ma chiaro habe ich davon gehört! Und ich bin sehr froh darüber. Wir freuen uns immer über neue Kontakte und Kooperationen. Der Zusammenschluss mit dem SBKV wird hoffentlich unsere Rechte als Künstler stärken und vielleicht auch neue Bekanntschaften ermöglichen.

Wie erlebst du die Tessiner Theaterszene?

Das Tessin ist ein kleiner Ort und die Anzahl der Theater, Zuschauer und Festivals ist sehr begrenzt. Die Festivals „Artisti di strada“ und „Longlake“ unterstützen Zirkuskünstler, „Physical theatre“ und Künstler im „Dimitri-Stil“. Aber ich mag auch das „Scollandino“, wo Familien mit einer Art Wanderkarte von Ort zu Ort marschieren, sich dort eine Show ansehen, etwas essen können und dann weiterwandern. Sowas gefällt mir.

Hast du auch Erfahrungen in der deutschsprachigen Schweiz gemacht?

Ja. Es gibt viel weniger Probleme mit Kunden, die versuchen, den Preis zu senken. Da ich aber während meiner Show nicht spreche, merke ich sonst keine Unterschiede zwischen dem Tessin und dem Rest der Schweiz. Unterschiede zeigen sich eher in den verschiedenen Arten des Publikums, je nach Anlass. Und die sind wieder überall gleich – weltweit.

DAVIDE GAGLIARDI ist ein Tessiner Schauspieler und Sprecher. Er spielt in verschiedenen Tessiner Theatergruppen und arbeitet für „Lugano Turismo“, wo er theatralische Führungen in mehreren Sprachen anbietet. 2020 gründete er sein eigenes „Teatro Lunaparco“ mit der Idee, seine Stücke in der ganzen Schweiz zu zeigen.

Davide, du hast bestimmt von unserer Fusion gehört, was sagts du dazu?

Ja, ich freue mich darüber! Dadurch fühle ich mich der Deutschschweiz noch näher und hoffe natürlich, dass ich mein eigenes Stück dann hier auch einfacher verbreiten kann. Ich werde es auf Deutsch übersetzen.

Ein grosser Vorteil, Deutsch zu sprechen?

Ja, ich bin heute sehr froh, dass ich in der Schule fleissig Deutsch gelernt habe. Dadurch ergab sich die Zusammenarbeit mit der „Piccola Commedia dell’Arte“ in Zürich, wo ich ungezwungen in Deutsch und Italienisch spielen konnte. Und auch das „Teatro Paravento“, wo ich seit Jahren regelmässig auftrete, ist nur auf mich zugekommen, weil sie jemanden suchten, der Deutsch spricht. Im Tessin gibt es zwar für Publikum viele Angebote, für uns Schauspieler aber weniger Möglichkeiten.

Woran mag das liegen?

Mein Gefühl ist, dass sich die Theaterszene im deutschsprachigen Raum viel mehr kreatives Risiko „erlauben“ darf. Es gibt mehr Publikum, mehr Geld, daher kann man sich „mehr trauen“ und anders produzieren. Im Tessin haben die kleineren Produktionen viel weniger Geld zur Verfügung.

Wenn du dein Stück in der Deutschschweiz zeigen willst, wirst du dich da auch mehr trauen, oder was sind deine Erfahrungen mit unserem Publikum?

Ich muss zugeben, dass ich überrascht war, als ich zum ersten Mal in Basel in einem kleinen, überfüllten Theater sass und gesehen habe wie das Basler Publikum über eigene Klischees und sich selbst gelacht hat! Unsere Meinung im Süden ist oft: „Ach, die im Norden nehmen immer alles todernst“. Ich habe mich vom Gegenteil überzeugt – auch Deutschschweizer können lachen, und wie!

Gibt es sonst noch Klischees zu bereinigen?

Naja, von wegen Tessiner seien immer laut: Im Ruheabteil der SBB sind es oft Zürcher, die direkt unter dem Schild „Bitte nicht telefonieren“ ins Handy brüllen. Ich sage nie etwas, denke aber „eigentlich sind ja alle gleich“.

MELANIE HÄNER ist Sängerin, Regisseurin und Gesangslehrerin. Mit ihrem Pianisten tritt sie regelmässig als „Imàgo Duo“ in Italien und im Tessin auf. 2014 gründete sie das Theater „lo Sgambetto“ in Malcantone. Zur Zeit arbeitet sie an einem eigenen Musical zum Thema Immigration.

Melanie, wir reden vom Tessin, von Kultur, da hast du was auf dem Herzen.

Ja! Die Tessiner halten die Deutschschweizer ja manchmal für ein bisschen arrogant, weil sie hierher kommen, Deutsch sprechen und erwarten, dass jeder sie versteht. Sie scheinen die „Herren der Welt“ zu sein. Das hat aber bloss damit zu tun, dass das Tessin im Vergleich zur restlichen Schweiz viel kleiner ist und viel mehr kämpfen muss, um gehört zu werden.

Auch in der Kunst?

Gerade da! Das Tessin ist voller Überraschungen, die gehört und entdeckt werden sollten. Es gibt hier viele Künstler und Kunsthandwerker, die etwas versteckt arbeiten und Projekte fernab der Städte schaffen. Diese kleinen, unabhängigen Kunstprojekte sind äusserst wertvoll. Tief mit der Landschaft verbunden, repräsentieren sie unsere Kultur und Tradition.

Du sprichst aus eigener Erfahrung?

Ja, wenn man in der italienischen Schweiz aus der Stadt herauskommt und sich der Natur nähert, wird man viele kleine Kulturstätten entdecken, geführt von einfachen Menschen, die der Kunst eine Stimme geben wollen. Diese „Kunstsalons“ müssten unbedingt von den Behörden wahrgenommen und unterstützt werden, denn leider drohen sie sonst zu verschwinden. So ein kleines Theater haben auch wir in Malcantone geschaffen, „lo Sgambetto“.

Auch ohne Geld?

Ja. Und ich verstehe den Grund dafür noch immer nicht. Wir haben da jahrelang Theater- und Musikfestivals veranstaltet, ganz ohne öffentliche Gelder. Ich glaube, dem Kanton und den Gemeinden mangelt es einfach an Interesse und darum an Aufmerksamkeit. Das macht mich am meisten traurig.

Du meinst, Kultur wird im Tessin primär im kommerziellen Sinne und in den Städten gefördert?

Der Stolz des Tessins ist das LAC in Lugano: ein wunderbares kulturelles Zentrum und ein Ort, der sicher in seiner ganzen Grösse unterstützt werden sollte. Aber ich möchte einen Appell aussprechen: Vergessen wir die kleinen Bühnen nicht! Diejenigen, die sowohl den Strassenartisten als auch den internationalen Künstlern Raum und Stimme geben.

HENRY CAMUS und GABY SCHMUTZ sind seit rund dreissig Jahren als

„Duo Full House“ international zusammen unterwegs. Ihre Action-Comedy Show führen sie in mehreren Sprachen auf. Als Gastkomiker sind sie u.a. im Zirkus Knie und beim Humor Festival Arosa aufgetreten.

Ihr seid viel unterwegs, wohnt aber in Ascona. Wie erlebt ihr die Tessiner Kulturszene?

Sie ist vielseitig, es läuft immer etwas: Konzerte und Theater mit lokalen aber auch mit bekannten internationalen Künstlern. Man verpasst ab und zu etwas, hat aber nicht so einen Kulturstress wie etwa in Zürich. Und da ist natürlich das LAC in Lugano. Das ist zwar schön, scheint aber wie eine uneinnehmbare Festung für Tessiner Künstler – fast unmöglich für unsereins dort aufzutreten.

Im Tessin also weniger Kulturstress für Besucher. Gibt es auch Unterschiede, die ihr als Künstler auf der Bühne wahrnehmt?

Im Tessin kann man fast noch besser mehrsprachig auftreten, was ja unsere Spezialität ist. Die meisten Zuschauer hier verstehen von anderen Sprachen genug, um die Gags mitzukriegen. Ansonsten scheint uns das Publikum überall ähnlich: am Anfang höflich und zurückhaltend, später ausgelassener.

Unterschiede vonseiten der Veranstalter? Oder private?

Die Kleintheater in der Deutschschweiz programmieren viel weiter im Voraus. Im Tessin ist alles kurzfristiger und flexibler. Auch der Vorstellungsbeginn. Das entspricht wohl der Mentalität. Aber auch privat brauchst du hier keine Party früher als zwei Wochen vorher anzukünden. Handwerker kommen wann sie wollen – oder eben nicht. Autoregeln werden sehr kreativ interpretiert.

Und im Norden ist alles geregelter?

Wenn wir für Auftritte vom Tessin in den Norden fahren, haben wir oft das Gefühl, bereits im Unrecht zu sein, sobald wir aus dem Auto steigen: am falschen Ort geparkt, den falschen Abfalleimer benützt oder die falsche Person gefragt zu haben. Dafür sind die Gagen nördlichdes Gotthards ganz klar höher.

Was versprecht ihr euch von der neuen „Szene Schweiz“?

Fusionieren ist gut, Horizonte erweitern auch. Was uns im Moment aber hauptsächlich interessiert: wann dürfen wir wieder vor irgendwelchen Leuten auftreten?! – egal ob im Norden oder Süden.

MANUELA RIGO ist ausgebildete Balletttänzerin. Heute leitet sie als Tanzpädagogin ihre eigene Ballettschule in Taverne (TI). Ausserdem ist sie Präsidentin des Verbandes „Formazione Professione Danza (AFPDanza)“.

Manuela, als langjähriges TASI-Mitglied hast du aktiv an der Fusion zu „Scena Swizzera“ mitgewirkt. Was versprichst du dir davon?

Schon TASI war sehr wichtig für uns Tänzerinnen und Tänzer, um uns hier im Tessin eine gewisse Präsenz zu verschaffen. Jetzt hoffe ich, dass der Zusammenschluss zu „Scena Swizzera“ der hiesigen Tanzszene noch mehr Gelegenheiten gibt, sich auch über das Tessin hinaus zu zeigen.

Wie erlebst du die Tessiner Kulturlandschaft?

Im Tessin ist die Arbeit im künstlerischen Bereich ziemlich schwierig. Es ist schwer als professionelle, zeitgenössische Tänzerin oder Tänzer wahrgenommen zu werden. Kunst wird hier oft mit „Prestige“ verbunden, lokale Kompanien werden weniger unterstützt.

Was verstehst du unter Prestige?

Wir haben hier ein einziges grosses Theater „The LAC Theatre“ in Lugano, das vor allem Tänzer und Tänzerinnen mit „grossen Namen“ engagiert. Das Publikum scheint mehr an diesem Prestige als an Kultur generell interessiert zu sein. Und auch die Kulturpolitik hat wenig Ahnung und Interesse an der kleineren, freien Tanzszene. Das Tessiner Publikum braucht noch viel Erziehung in diesem Bereich. Aber ich habe Hoffnung.

Waren deine Erfahrungen mit dem deutschsprachigen Publikum denn da andere?

Ja, das Publikum in der deutschsprachigen Region scheint mir engagierter, wir bekommen da deutlich mehr Bestätigung für unsere Arbeit. Ich glaube wirklich, es liegt daran, dass man sich im Tessin immer noch eher an Metropolen wie Milano orientiert. Um der Fairness halber auch ein paar Deutschschweizer in einen Topf zu werfen: Was erzählt man sich im Tessin sonst so über das Publikum ennet des Gotthards? Man sagt, die Berner Zuschauer lachen über einen Scherz von Freitag irgendwann mal am Sonntagmorgen…

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