Das Sterben des «Züritipp» – und die Folgen

Ganze 46 Jahre lang war der Züritipp eine mediale Kulturinstitution. Jetzt soll er sterben. Das hat nachhaltige Folgen für Tamedia und die Zürcher Kulturszene.

Ältere Generationen mögen sich an eine Zeit erinnern, in der man sich nur im Züritipp breit über das Zürcher Kulturleben informieren konnte. Google und Apps gab es damals noch nicht. Man las in der Beiz den Züritipp und erklärte seinen Freunden dann, an welchem Abend man warum wohin gehen wollte. Diese Zeiten sind natürlich längst vorbei. Inzwischen öffnet man das Handy und klickt sich durch die Apps der digitalen Kultur-Agendas und kauft das Ticket fürs Konzert gleich online.

Wäre es das, wäre das Aus für den Züritipp nur zeitgemäss und nachvollziehbar.

Aber so einfach ist es nicht. TXGroup, der Mutterkonzern des Tagesanzeigers, kalkuliert exakt. Streng nach Reichweite. So und so viele Leser*innen erreicht die Wochenbeilage, damit kann man so und so viel Werbung verkaufen. Das rechnet sich nicht mehr. Man verkauft mit dem Züritipp einfach zu wenig Werbung. Für Kulturschaffende mag dieses Argument zynisch sein, aber Journalismus ist ein Geschäft.

Bevor jetzt die ENSEMBLE-Leser*innen auf die Barrikaden gehen: Der Autor ist eurer Meinung! Es braucht den Züritipp! Und das sage ich nicht nur als ehemaliges Mitglied der Züritipp-Redaktion, sondern als Medienfachmann. Die Geschäftsleitung der TXGroup hat viel Ahnung von Geld, aber wenig Wissen über gesellschaftliche Mechanismen.  Der Wert des Züritipp ergibt sich nicht aus der Reichweite und dem damit verbundenen Werbeeinkommen. Der Wert des Züritipp ergibt sich aus dem Impact, aus seiner Wirkung in der Gesellschaft, die schlussendlich auf den Zeitungstitel reflektiert.

Kulturelle Relevanz

Als Wochenbeilage, die an unzähligen Orten, in Beizen und Theatern, bei Ärzten und Zahnärzten, in allen Kulturinstitutionen aufliegt, wirkt der Züritipp als kultureller Multiplikator. Die Redaktion liefert das leichte Kultur-Feuilleton für die Stadtzürcher Normalos. Nichts Elitäres, nichts allzu Vergeistigtes wie bei der NZZ, keine Nischen-Infos wie bei den Spartenmedien im Bereich Klassik, Pop, Kino, Kulinarik oder Theater. Nirgends sonst findet man nebeneinander informative Beiträge über Opern und Techno-Clubs, über Filme und Kunstausstellungen, über Theater und Imbissbuden.


Kultur kämpft um Sichtbarkeit

Beitrag auf Tsri.ch:
Weil der Züritipp eingestellt werden soll, schlagen nun etliche Kulturhäuser Alarm. Sie sind besorgt um ihre Präsenz in der Öffentlichkeit. Gleichzeitig plant die Fachstelle Kultur den Ausbau eines kantonalen Kulturkalenders.


Der Züritipp zeigt das ganze Spektrum der Stadt und wird gelesen. Und der Impact entsteht nicht aus der Reichweite, sondern aus der Referenz im Alltag. „Häsch gseh, im Züritipp isch …“ ist eines der häufigsten Zitate in Bezug auf das Zürcher Kulturschaffen. Der Züritipp gilt als Institution weit über die Tagi-Leser*innen hinaus. Diese gesellschaftliche Relevanz wird nun einfach weggeworfen. Es ist verständlich, dass sich Zürcher Kulturinstitutionen vor weniger Sichtbarkeit fürchten. Aber das wäre ein gesellschaftlicher Aspekt, kein wirtschaftlicher. Und Werte, die man nicht auf Konten einzahlen kann, zählen für einen Verlag nicht. Wirklich?

Das liebe Geld

Zurück zum wirtschaftlichen Denken der TXGroup. Der Tagesanzeiger hat beim linksliberalen, städtischen Publikum bereits eine Abwertung der eigenen Marke einstecken müssen, weil vielen die eher rechtskonservativen Beiträge der Sonntagszeitung, die als Tagi-Beiträge wahrgenommen werden, sauer aufstossen. Man bleibt beim Tagi, weil eine gleichwertige Alternative fehlt, fühlt sich aber weder politisch noch gesellschaftlich richtig zu Hause. Eine Verjüngung des Publikums missglückt seit Jahren.

Der Züritipp ist der einzige Teil des Tagesanzeigers, den alle lieben. Niemand regt sich darüber auf, es gibt keine politischen Diskussionen, alle schätzen ihn (selbst wenn sie ihn seit Jahren nicht mehr lesen). Die Einstellung des Züritipps wird bei der Leserschaft als persönliche Beleidigung wahrgenommen, als Raub, und zieht einen Reputationsschaden nach sich. Viele der älteren Stammleser*innen werden sich bei der nächsten Verlängerung des Print-Abos fragen, ob sich das noch lohnt. Selbst wenn ihr Züritipp nicht mehr oft vom Lesen zerfleddert war.

Das Einstellen des Züritipps ist wie, wenn ein Bauer öffentlich die beliebteste Kuh erschiesst, weil sie nicht mehr genug Milch gibt: vordergründig wirtschaftlich sinnvoll. Aber ehrlich: würdet ihr bei diesem Bauern weiter Milch kaufen?

 

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