«Aktivismus entsteht an Festivals»
Lucrezia Perrig, Sidonie Atgé-Delbays und Noemi Grütter engagieren sich für Gleichstellung in der Kultur. Bereits 2020 verfassten sie gemeinsam das Rosa Heft. Dieses Handbuch bündelt die Erkenntnisse ihrer Forschungsarbeit, die 2018 im Rahmen des Genfer Festivals Les Créatives begonnen hat.
Lucrezia Perrig und Noemi Grütter interviewt von Ana Isabel Mazon/coop mit Migros-Kulturprozent m2act
Sie sammeln Erfahrungsberichte, rechtliche Ressourcen und Werkzeuge, die von und für Westschweizer Künstler*innen und Institutionen zu den Themen genderspezifische Lohnungleichheit und schwierige Vereinbarkeit von Privat- und Berufsleben entwickelt wurden, um die Genderungleichheit auf praktische und alltägliche Weise anzugehen.
Wie ist die Idee für das Rosa Heft entstanden und wie hat sich die Initiative seither entwickelt?
Unsere Initiative wurde nach einer Podiumsdiskussion gestartet, die 2018 vom Festival Les Créatives in Genf mit dem Titel «Wo sind die Frauen?» organisiert wurde. Es ging darum, sich ernsthaft mit der Frage der Genderungleichheit in den verschiedenen künstlerischen Bereichen auseinanderzusetzen und eine übergreifende Diskussion zu führen.
Dieses Treffen erwies sich als unverzichtbarer Diskussionsraum für viele im Kulturbereich tätige Frauen.
2019 beauftragte das Festival eine von uns mit der Organisation einer weiteren Podiumsdiskussion. Diese fand nur wenige Monate nach dem historischen schweizweiten feministischen Streik im Juni desselben Jahres statt und löste ein noch grösseres Echo aus.
Rund um diese zweite Podiumsdiskussion wurden Workshops zu vier zentralen Themen organisiert: sexuelle Belästigung, Gleichheit und Vielfalt in der Programmgestaltung und in den Teams, Lohngleichheit sowie Vereinbarkeit von Privat- und Berufsleben. In jedem dieser Workshops beantworteten Jurist*innen Fragen aus konkreten Fällen und schlugen rechtliche Handlungsoptionen vor.
Das Rosa Heft ist aus dem Wunsch heraus entstanden, das in diesen Workshops Besprochene in einem Leitfaden festzuhalten. Anschliessend haben wir einen Fragebogen an alle Westschweizer Kulturinstitutionen geschickt, mit dem wir herausfinden wollten, wie und in welchem Ausmass sie versuchen, die verschiedenen Ungleichheiten auszugleichen. Seither werden wir regelmässig eingeladen, das Rosa Heft und die Initiative sowohl im akademischen Umfeld als auch auf Kunstfestivals zu präsentieren.
Noemi Grütter ist eine feministische Aktivistin und Menschenrechtsexpertin. Mit ihrer feministischen Arbeit inspiriert sie über lokale, nationale und internationale Institutionen hinweg bis in die Clubs und auf den Strassen. Mit dem Festival Les Créatives hat sie das Rosa Heft für mehr Gleichstellung in der Kultur- und Kunstszene mitkonzipiert und mitgeschrieben. Sie ist selbst DJ (DJ ALÉLÉFI) sowie Teil des Kollektivs «Cats Calling Back».
Welche Auswirkungen auf den Kultursektor hatten das kollektive Befragen und das Sammeln von Erfahrungen, Forderungen und Vorschlägen aus der Praxis?
Bereits seit der ersten Podiumsdiskussion 2018 verlangt die Stadt Genf von Projekten, die gefördert werden wollen, dass sie Gleichstellung anstreben. Es ist zwar nur ein kleiner Schritt in die richtige Richtung, aber immerhin.
Infolge des ersten Workshops zum Thema Vereinbarkeit von Privat- und Berufsleben im Jahr 2019 hat der Direktor des zeitgenössischen Musikensembles Contrechamps in Genf einen Betrag von 10 000 Franken aus dem Jahresbudget des Vereins freigegeben, um Massnahmen zu finanzieren, die den Angestellten helfen, ihr Familienleben mit ihrem Beruf zu vereinbaren. Er hat uns anvertraut, dass allerdings nur ein kleiner Teil der bereitgestellten Summe ausgegeben wurde.
Wir sind überzeugt, dass nicht nur die Entscheidungsträger*innen, sondern auch die Angestellten sensibilisiert werden müssen, damit sie sich berechtigt fühlen und in der Lage sind, die ihnen zur Verfügung stehenden Massnahmen und Ressourcen in Anspruch zu nehmen, ohne das Gefühl zu haben, dass das schlecht ankommt.
Wie würdet ihr heute eure Rolle bei solchen punktuellen Veranstaltungen, ob Festivals oder Netzwerktreffen, definieren?
Wir positionieren uns bei solchen Veranstaltungen als Referentinnen. Wir haben die in diesem Heft festgehaltenen Stimmen gesammelt und wenden uns an Fachleute des Kulturbereichs, die vor neuen Formen der Diskriminierung stehen, mit denen wir früher nicht unbedingt konfrontiert waren und die wir uns vielleicht nicht einmal hätten vorstellen können.
Wir beginnen unsere Workshops meistens mit Zahlen zur genderspezifischen Ungleichheit im Kultursektor, um das berechtigte Gefühl der Ungerechtigkeit bei den Teilnehmenden zu wecken und ihnen das Ausmass dieser Ungerechtigkeit bewusst zu machen.
Danach machen wir eine qualitativere Bestandsaufnahme, bei der die Teilnehmenden gefragt werden, welche Massnahmen sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten ergreifen, um gegen diese Ungleichheiten anzugehen. Wir gehen davon aus, dass alle auf ihre eigene Weise handeln, und versuchen, gemeinsam eine Plattform zu schaffen, die diese Massnahmen zusammenführt.
Lucrezia Perrig studierte Philosophie und Politikwissenschaften. Zurzeit promoviert sie unter der Leitung von Marta Roca i Escoda am Zentrum für Gender Studies an der Universität Lausanne zum Thema queere Ehen in der Schweiz. Sie ist Co-Autorin des Rosa Heftes, dem Schweizer Leitfaden für Gleichstellung in der Kultur, der im Rahmen des feministischen Festivals Les Créatives in Genf entstanden ist.
Immer mehr Institutionen verabschieden Chartas mit bewährten Praktiken, was eine gute Sache zu sein scheint. Wie kann sichergestellt werden, dass sie es allen Berufstätigen ermöglichen, sich diese Instrumente anzueignen und sie in ihren Arbeitsalltag zu integrieren?
Wir ermutigen natürlich alle Institutionen, ihre eigenen Chartas zu verfassen: eine Charta für Inklusivität, Vielfalt, Antirassismus, Feminismus, Nachhaltigkeit etc. Wir ermutigen sie aber auch, diese schriftlichen, teils starren Dokumente, nicht zu glorifizieren, sondern sie lebendig zu machen und sie an ihre Realitäten und das sich wandelnde Umfeld anzupassen. Diese Chartas bleiben oft wirkungslos, sobald die Personen, die sie in ihren Institutionen eingeführt haben, ihre Stelle wechseln oder die Struktur verlassen. Wie die meisten Kapitel des Rosa Heftes müssten fast auch die Chartas jedes Jahr neu geschrieben werden, damit sie aktuell bleiben und die Komplexität aller Situationen bestmöglich widerspiegeln.
Die Workshops und Treffen müssen weiterhin an mehreren Fronten agieren, indem sie alle Teilnehmenden dazu ermutigen, mehr Vertrauen in die kollektive Kreativität und Intelligenz zu setzen, und indem sie ihnen den nötigen Impuls geben, sowohl ihre Forderungen als auch ihre innovativen Lösungen in alle Schichten des institutionellen, kulturellen und politischen Ökosystems zu tragen.
Hinterlasse einen Kommentar
An der Diskussion beteiligen?Hinterlasse uns deinen Kommentar!