Forever Imbricated – wie Marc Streit kulturelle Zukunft umsetzt

Imbricated Real möchte gesellschaftliche Debatten anregen, Gegebenheiten neu denken, Verborgenes sichtbar machen, sowie existierende Wertsysteme durch einen ständigen Dialog mit den beteiligten Menschen radikal umstrukturieren. 

„Bestehende Praktiken müssen erneuert werden und neue Praktiken hinzugefügt werden, damit wir uns gegenseitig unterstützen, unsere Ganzheit zum Ausdruck bringen können. Wir leben in einer aussergewöhnlichen Zeit – oft verwirrend, aber voller Möglichkeiten. Es liegt an uns, einen neuen Weg zu gestalten.“

Ensemble trifft Marc Streit, den Gründer von zürich moves! Festivals, das es seit 2012 gibt. „Am Anfang braucht es diese besondere Kraft für die Vision, die umgesetzt werden soll!“, meint der gebürtige Berner. Die Ausgabe im Jahr 2020 musste aufgrund der Pandemie abgesagt werden und nun folgte diesjährig die 11. Ausgabe. 2021 wurde eigens eine Publikation mit dem Titel homebody herausgegeben, an der 70 Künstlerinnen beteiligt waren. Diese Publikation diente quasi als Ersatz für die üblich gebotene Plattform für Performances. Gestaltet wurde die Publikation von Grafiker Nicolas Schaltender und der Content der KünstlerInnen wurde,zu einem Ganzen kuratiert. Die Publikation zum 10. Jubiläum von zürich moves! wurde von drei Co-KuratorInnen erarbeitet. Darunter Esther Eppstein, sie hat 2021 den Grand Prix Kunst vom BAK gewonnen. Lhaga Koondhor ist in der Musik- und Clubkultur tätig, Cherry-Ann Davis hat den MA Visual Communication an der ZHdK absolviert und Streit selber. Die Entwicklung und Umsetzung der Publikation war ein gemeinsamer Prozess, der auch durch Reflexionen während und über die Pandemie genährt wurde.

Die Entwicklung und Umsetzung der Publikation war ein gemeinsamer Prozess, der auch durch Reflexionen während und über die Pandemie genährt wurde.

Anfang 2021 gründete Marc Streit gemeinsam mit Simone Aughterlony den Verein Imbricated Real. Die Initiative entstand aus dem Wunsch heraus, sich von einem singulären Ansatz für kuratorische und produktionstechnische Aktivitäten zu lösen. Mit einer offenen Vereinsstruktur, einem divers aufgestellten Team und zugänglichen digitalen sowie physisch geteilten Events setzen die Gründer*innen sich zum Ziel, die Vielfalt im Kulturschaffen und im Publikum zu stärken und gleichzeitig alternative, sorgsamere und nachhaltigere Formen der Zusammenarbeit zu etablieren. Begegnungen, Austausch, Recherche und künstlerische Projekte stehen im Zentrum. 

Begegnungen, Austausch, Recherche und künstlerische Projekte stehen im Zentrum.

Imbricated Real möchte einem vielfältigen Feld von Kulturschaffenden und Publikum eine nachhaltige Struktur bieten und gleichzeitig die Flexibilität bewahren, auf sich verändernde Wünsche und Bedürfnisse sowohl innerhalb der Struktur als auch der künstlerischen Gemeinschaft zu reagieren.Die Überlegungen zu unserem Vorhaben begann lange vor Beginn der Pandemie. Die Realität der Restriktionen, verursacht durch Covid-19, hat uns jedoch darin bestärkt, wirklich zuzuhören, die Bedürfnisse der Kunstszene zu beobachten und kritisch und konstruktiv darauf zu reagieren“, erzählt Streit. „Mit dem ersten Format Forever Imbricated werden Leute zusammengeführt, die die Möglichkeit haben, gegen Bezahlung an einem Prozess zu arbeiten. Dieser Prozess ist aber nicht unbedingt auf ein Endprodukt ausgerichtet, das verleiht dem Ganzen einen eigenen Charakter“.

„Dieser Prozess ist aber nicht unbedingt auf ein Endprodukt ausgerichtet, das verleiht dem Ganzen einen eigenen Charakter.“

Das erste Format Forever Imbricated der neugegründeten Struktur fand seinen Anfang als Carte Blanche in Paris auf Einladung vom Centre Culture Suisse im Dezember 2021. In Paris haben 15 KulturakteurInnen gemeinsam während einer Woche eine Labor-Residenz bestritten. Aughterlony und Streit sind seit Jahren im künstlerischen Dialog und haben auch bereits verschiedene Projekte gemeinsam realisiert. Die beiden Kulturarbeiter*innen sind seit 15-20 Jahren in der darstellende Kunst tätig, insbesondere in Performance und Choreographie. In Zürich haben sie das Festival zürich moves! und Forever Imbricated vereint und zahlreiche Menschen Zeit und Raum für Recherche zur Verfügung gestellt.

Es gab dort auch öffentliche Momente, aber es ging nicht um die Präsentation von neuen Stücken

Gewisse eingeladene Künstler*innen und Aktivist*innen haben während zürich moves! Forever Imbricated im April 2022 eine Residenz gemacht in verschiedenen Institutionen in Zürich, zum Beispiel im Binz 39, im Tanzhaus Zürich, in der Gessnerallee und weiteren. Es gab dort auch öffentliche Momente, aber es ging nicht um die Präsentation von neuen Stücken. Imbricated Real war im Mai 2022 ausserdem auch in Lausanne, dort hat der Verein mit Arsenic zusammen Forever Imbricated weiterentwickelt. Es waren hierfür wiederum 10 Leute involviert, die zusammen 10 Tage verbracht haben um Praktiken zu teilen und gemeinsam zu recherchieren. Themen hierfür sind immer wieder die Sub- und Hochkultur, das Nachtleben an sich, die Clubkultur und temporäre Communities – es geht um die Mechanismen, wie sich solche Spaces, Räume formen, die für temporäre Communities eine Art Zufluchtsort der Kreativität und (künstlerischen) Freiheit darstellen. 

Eine ganzheitliche Praxis erfordert, unbequem zu sein.

Im Januar 2023 wird Forever Imbricated 10 in Basel stattfinden, die Vorbereitungen hierfür laufen bereits. Im Frühling 2023 wird es eine Zusammenarbeit mit l’abdi in Genf geben. Viele Institutionen arbeiten mit Schlagwörtern wie Inklusion und Exklusion, Safe Spaces etc. – aber was heisst das wirklich? Wie setzten wir das in die Praxis um? Solche Fragen werden für die Erarbeitung des Projektes gestellt. Eine ganzheitliche Praxis erfordert, unbequem zu sein. Dies bedingt eine unendliche Neugier und einen Dialog mit ungewohnten Realitäten – eine Konfrontation mit unseren nuancierten Privilegien, unserer Ignoranz und unseren Vorurteilen. „Wir wollen uns die aktuellen Diskurse oder Quoten, die mit marginalisierten Körpern verbunden sind, nicht naiv aneignen, sondern diese Realitäten in unsere Prozesse integrieren und eine Ethik der Fürsorge und Grosszügigkeit praktizieren. Die Kultur ist der Ort, an dem dies vorgelebt werden muss!“, meint Streit.

Kunst kann einen Widerstand gegen homogenisierte Muster des Denkens, Bewegens und Handelns in der Welt bieten.

Imbricated Real hat ein Transformationsprojekt vom Kanton Zürich erhalten, eine Covid Massnahme, die es in allen Kantonen gibt. Gewisse strukturelle Muster werden zur Gewohnheit und verlangen nach einiger Zeit ein Umdenken und eine Neubewertung. Kunst kann einen Widerstand gegen homogenisierte Muster des Denkens, Bewegens und Handelns in der Welt bieten. Auch die GründerInnen haben sich innerhalb bestimmter Denkmuster und Strukturen etabliert und wollen das Transformationsprojekt nutzen, die Arbeitsprozesse zu hinterfragen und weiterzuentwickeln. Wie können Rollen und Funktionen innerhalb einer Organisation stetig getauscht und neu erfunden werden? Inwieweit können wir vorübergehend Unordnung oder sogar Chaos zulassen? Und welche Formen von Solidarität sind möglich, gerade weil wir so unterschiedlich sind? 

Das war immer mein Hauptantrieb – ich möchte Menschen durch meine Tun zusammenbringen.

Wir wollen immer wieder „in Bewegung“ zu bleiben, nicht in Statik verfallen wie es vielen Institutionen aus der freien Szene passiert ist„, meint Streit. Es entstand in den Institutionen zwar auch immer mehr die Idee und Umsetzung von kollektiven Strukturen als Neuerung, die aber nicht immer funktionierte. Man komme immer in ein System, in eine Struktur hinein, die eine eine eigene Systematik hat, meint Streit. „Wir wollen unbedingt den Menschen, die Begegnungen im Fokus haben, das Netzwerk von Leuten, die sich fachlich, mental, künstlerisch unterstützen können. Das war immer mein Hauptantrieb – ich möchte Menschen durch meine Tun zusammenbringen. Gemeinsame Zeit zu verbringen, heisst Grenzen zu erfahren und diese zu erforschen, das ist eine wertvolle Erfahrung.“ 

Danke lieber Marc, für den spannenden Austausch!

Fotokredit: Mattia Dagani Rio

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