«Anti-Woke ist Boden für autoritäre Politik»

Schweizer Firmen fahren Inklusions- und Gleichstellungsbemühungen herunter, um Trumps USA zu besänftigen. Dabei sind wir selbst in den liberalen Künsten noch weit vom Ziel entfernt. Anisha Imhasly beantwortet Fragen zu DEI.
Interview: Reda El Arbi

Anisha, 2017 startete die #MeToo-Bewegung aus den sexistischen Missständen in der Filmindustrie, regelmässig gibt es Diskussionen über kontroverse, beziehungsweise nicht stereotype Besetzungen in Filmen, zuletzt wohl beim Film Arielle, in dem Disney die Hauptrolle mit Halle Bailey, einer PoC Person of Color besetzte. Sind die darstellenden Künste besonders anfällig für strukturelle Ungerechtigkeiten?

Ich denke nicht, dass die darstellenden Künste für strukturelle Ungerechtigkeiten anfälliger sind als andere Sparten. Die Fragen um Repräsentation sind bloss sichtbarer, weil es um Darsteller*innen geht, die auf der Bühne stehen oder in Filmen zu sehen sind bzw. weil Besetzungen entweder (und das ist eher die Regel) stereotypen Mustern folgen, oder das Gegenteil tun, was dann bisweilen kontrovers diskutiert wird.

Bei der Besetzung von Halle Bailey als Arielle fand ich die Diskussion ehrlich gesagt absurd, denn es ging schliesslich um die Besetzung einer Disney-Vorlage, sprich einer konstruierten Cartoonfigur. Warum soll diese nicht durch eine Person of Colour besetzt sein? Anders als etwa im Literaturbetrieb oder bei der Komposition (und klar gibt es auch hier Ausnahmen!) geht es bei Theater und Film immer um kollektive künstlerische Prozesse. Da stellt sich eben die Frage, wie diese Prozesse organisiert sind, eher hierarchisch oder eher vertikal.

Beides kann künstlerisch interessante Ergebnisse hervorbringen, doch gilt es festzuhalten, dass dort, wo Hierarchie ist, Macht ungleich verteilt ist – und diese lässt sich auch missbrauchen. Stichwort #MeToo. Stichwort männlicher Geniekult im Theaterbetrieb.

Zur Person
Anisha Imhasly arbeitet als Coach und Moderatorin und betreut Mandate im Bereich Diversität, Demokratisierung, Transformation und Chancengerechtigkeit bei verschiedenen Schweizer Kulturinstitutionen und Förderstellen, darunter Kultur Stadt Bern, Zürcher Theater Spektakel, Bühnen Bern, Theater Chur. Sie ist Mitglied des Expert*innen-Netzwerks von INES Institut Neue Schweiz und Mitherausgeberin des INES Handbuch Neue Schweiz, erschienen bei Diaphanes. Auf INES-Mandatsbasis war sie beratend tätig bei der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia für den strategischen Schwerpunkt Diversität.

Was hat sich in unseren Theatern und Filmen in den letzten 20 Jahren verbessert? Wo stehen wir, welche Entwicklungen müssen noch angegangen werden?

Die Künste sind immer auch ein Abbild gesellschaftlicher Entwicklungen. Wir leben heute in einer vielstimmigeren Welt, bei der die Stimmen derer, die marginalisiert sind, auch mitreden wollen. Zu Recht! Gerade die Kunst sollte diesen Stimmen Raum geben, statt Gatekeeping zu betreiben. Sicherlich haben Theater und Kino in den letzten 20 Jahren dadurch gewonnen, dass andere und neue Geschichten auf den Bühnen und Leinwänden bzw. Bildschirmen erzählt werden – Geschichten, die früher schlicht übersehen wurden oder welche die Entscheidungsträger*innen in Theater und Film schlicht nicht interessierten.

Dennoch stellt sich weiterhin die Frage: Wer entscheidet darüber, welche Geschichten erzählt werden, wer darf sie erzählen bzw. inszenieren, wer sie spielen – und für wen? Ein Theater, das sich dem gesellschaftlichen und demografischen Wandel nicht stellt, riskiert über kurz oder lang schlicht seine Relevanz.

Das bildungsbürgerliche Publikum stirbt aus und das Publikum der Zukunft wird ein anderes sein. Dafür braucht es nicht bloss Rezepte, sondern eine gesellschaftliche Verständigung darüber, was Theater kann und sein soll. Wir müssen begreifen, dass Kunst kein Luxus ist, sondern eine grundlegende Voraussetzung für demokratische Bildung und gegenseitige Verständigung.

Während für viele eindeutig rassistisches Verhalten wie Blackfacing oder das Verwenden des N-Wortes klar erkennbar sind, fühlen sich viele bei komplexeren Themen wie kultureller Aneignung, Miss- oder Unterrepräsentation oder sogar bei Sexismus überfordert und verunsichert. Kannst du vielleicht einige Beispiele nennen, die klarer aufzeigen, was damit gemeint ist?

Wie bereits erwähnt: Wir leben heute in einer wirtschaftlich und sozial hochkomplexen Gesellschaft, bei der mehr Menschen als früher Mitsprache reklamieren. Das führt auch zu mehr gesellschaftlicher Auseinandersetzung und bisweilen Konflikt. Diese Auseinandersetzung kann sehr unterkomplex geführt werden, etwa durch die auf Clicks schielenden Medien (Stichwort: Rastalocken, Brasserie Lorraine). Künstlerisch kann diese Auseinandersetzung hingegen sehr produktiv sein.

Die Überforderung und Verunsicherung kann ich ein stückweit nachvollziehen – viele künstlerisch tätige Menschen «müssen» sich heute mit Fragen auseinandersetzen, die sich bis vor einigen Jahren überhaupt nicht gestellt haben. Das hat aber vor allem damit zu tun, dass Theater und Kino vorwiegend und weiss dominiert war, dass Tänzer*innen und Schauspieler*innen «gängigen» Körpernormen entsprachen, usw.

Was interessierte es früher einen (meist männlichen) Intendanten, ob seine Dramaturg*innen gleichzeitig Mütter waren und ein Vereinbarkeitsproblem hatten? Heute fordern diese Dramaturg*innen mehr von ihren Arbeitgebern ein. Da sind sie selbst klar betroffen. Ein Stück weiterzugehen, würde heissen, dass ebendiese Dramaturg*innen sich etwa gegen Miss- oder Unterrepräsentation einsetzen, auch wenn sie selbst davon nicht betroffen sind. Es braucht mehr Verbündung und Solidarisierung gesellschaftlicher Anliegen, damit ein nachhaltiger Kulturwandel stattfinden kann. Denn letztlich geht es um kreative soziale Gerechtigkeit.

Viele der klassischen Bühnenstücke stammen noch aus einer Zeit, in der weisse, männliche Protagonisten die wichtigsten Rollen besetzten. Wie soll Regie und Dramaturgie mit dieser Voraussetzung umgehen, um zeitgemässe Werte zu transportieren und trotzdem dem ursprünglichen Inhalt gerecht zu werden?

Was spricht eigentlich dagegen, eine historische Figur mit einer Schwarzen Darsteller*in oder einer Person of Colour zu besetzen? Diese Setzung kann komplett neue Sichtweisen auf ein Thema eröffnen. In britischen Kostümfilmen sind Schwarze Menschen meist komplett abwesend, obwohl wir wissen, dass im 17. und 18. Jahrhundert Schwarze Menschen durchaus in Grossbritannien lebten – England betrieb bekanntlich ein weltumspannendes Empire. Man kann auch über «historisch korrekte» Besetzungen hinausgehen.

Der britische Regisseur Armando Iannucci etwa besetzte bei seiner Dickens-Verfilmung «The Personal History of David Copperfield» seinen Protagonisten mit dem britisch-indischen Schauspieler Dev Patel, und liess gleich noch weitere Honoratioren mit Persons of Colour besetzen.

Das war nicht bloss eine politische, sondern insbesondere eine ästhetische Setzung, ich die ich persönlich hinreissend fand. Ein viel zitiertes Beispiel ist Anta Helena Recke’s Inszenierung «Mittelreich» bei den Münchner Kammerspielen 2019, bei der sie das Stück, das zuvor bereits im selben Haus unter der Regie von Anna-Sophie Mahler inszeniert worden war, komplett durch Schwarze Darsteller*innen besetzte.

Dies lässt sich als Strategie lesen, wie man schwarze Subjekte und Körper in den deutschen Kanon einschreibt und eine Art «Appropriation» betreibt, gerade bei einem Stück, das über drei Generationen einer Familie deutsche Geschichte verarbeitet. Das sind für mich ästhetisch produktive Strategien, die weit über blosse Fragen von Repräsentation hinausgehen.

Bei der Geschlechter-Gleichstellung gibt es ja den Bechdel-Test: Gibt es mindestens zwei Frauenrollen? Sprechen sie miteinander? Unterhalten sie sich über etwas anderes als einen Mann? Wie merkt man, bei anderen DEI-Fragen rund um Diversität und Inklusion, ob das eigene Drehbuch, das eigene Theaterstück veraltete Stereotypen verbreitet? Gibt es eine Art Grundregel?

Ich kann keine Grundregel empfehlen, eher plädiere ich dafür, dass künstlerische Teams so besetzt sind, dass verschiedene biografische Zugänge berücksichtigt und unsere toten Winkel – die wir alle haben! – ausgeleuchtet werden können. Es gibt Produktionen, die sich bei «heiklen» Fragen beraten lassen, das kann fruchtbare Gespräche auslösen und etwas mehr Sicherheit schaffen.

Man kann eine «Outside Eye»-Position mit einplanen, d.h. wo eine externe (Fach-)Person beigezogen wird, um innerhalb des Produktionsprozesses punktuell bzw. nach Bedarf Einblick zu nehmen und Rückmeldungen zu geben. Sowas muss das Produktionsbudget nicht gleich sprengen. An die Adresse der Kulturförderung: Solche Positionen müssten in den Budgets bei der Eingabe berücksichtigt werden können!

In den USA kippt seit Trumps Wahl die Stimmung gegen DEI-Bestrebungen rund um Diversität und Inklusion. Werden wir diesen Backlash auch in der Schweiz spüren?

Der Backlash ist hierzulande insofern schon länger im Gange, als dass die künstlerischen Etats aus Spargründen gekürzt werden, und in Zeiten der finanzieller Verknappung Bemühungen um Diversität und Inklusion dann plötzlich nicht mehr so dringlich sind und oft als erstes über die Klinge springen müssen.

Die Arbeit an den Strukturen, gerade beim Theater, «wo man es immer schon so gemacht hat», ist mühsam, kostet Nerven und erbringt zunächst keinen offensichtlichen Nutzen. Es ist eine mittel- und langfristige Investition in neu zu definierende Inszenierungsformate, in diverse Ästhetiken, in menschliche Beziehungen und in Community-Building. Ich finde das eine sehr sinnvolle und für das Theater sinnstiftende Arbeit, die sich unbedingt lohnt, aber das ist immer auch eine Frage von Leadership und Haltung eines Hauses oder einer Compagnie. Es hilft auch nicht, wenn ein eingeschlagener Weg dann bei einem Intendanzwechsel wieder aufgegeben wird.

In Bezug auf die Entwicklungen in den USA: Die Entscheidung des Trump-Regimes, jegliche Bestrebungen um Diversität und Inklusion zu tilgen, zeigt doch relativ deutlich, dass es ihnen um weisse, patriarchale Vorherrschaft geht. Faktisch handelt es sich um ein explizites Bekenntnis zu Rassismus und Sexismus. Wollen wir in Europa und in der Schweiz diesen Weg einschlagen? Die Entwicklung zeigt doch vielmehr, dass die moralischen Paniken um «Woke» und «Cancel Culture» immer schon die Werkzeuge waren (und sind), um den Boden für autoritäre Politik zu bereiten.

Und vielleicht noch zum ganz normalen Alltag: Wie können Darsteller*innen sich sensibilisieren, um zu vermeiden, dass sie selbst verletzende oder abwertende Narrative bedienen?

Da lautet meine Antwort relativ platt: Selbstkompetenz durch Aneignung von Wissen. Es gab noch nie so viele Möglichkeiten, sich Erzählungen, Wissen und Kompetenzen von anderen Menschen anzusehen, anzuhören und zu lesen, wie heute.

Etwa durch das Schauen von Filmen und Serien, welche die Lebenswelten jener Menschen beleuchten, mit denen wir sonst nicht in Berührung kommen; durch die faszinierende Bandbreite von Podcasts und Instagram-Accounts, Substacks und Blogs (auch im deutschsprachigen Raum); durch öffentliche Anlässe und Interventionen in grossen Häusern und in der freien Szene; durch Literatur und Sachbücher.

Es geht letztlich um ein persönliches Commitment, um die gesellschaftlichen Prägungen und Normen, mit denen wir sozialisiert wurden, in uns selbst zu hinterfragen und abzubauen, und um alte ausgediente Narrative durch neue zu ersetzen. Gerade dafür ist Kunst doch geschaffen!

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