Konstruktives Vergessen & Erinnern
Corinne Soland erlebt, wie man an der RADA ein komplexes Stück erarbeitet und dabei allen Teilnehmenden Raum und Gehör gibt.
Welcome back to the UK – ich hoffe, ihr hattet einen angenehmen Sommer, wo, wie und mit wem ihr ihn auch immer verbracht habt. Fast schon ist er vergessen und ich geniesse es sehr, durch die Strassen Londons zu schlendern und die bunten Blätter auf dem Asphalt mit dem Fuss vor mich hin zu schieben!
Bevor ich in die Arbeit zum Abschlussstück tauche, wollte ich euch von “Welcome to Noware” erzählen: Im August und September haben wir im Theatre Lab an einer Produktion gefeilt, die 5 Vorstellungen gespielt hat an der RADA. Das Stück, das im kollaborativen Prozess entstanden ist, erzählt einen Ausschnitt aus dem Leben der Menschen aus der fiktiven Stadt Noware.
Lernen von Profis
Der Entwicklungsprozess wurde vom Regie-Duo emma + pj geleitet. Beide Theatermachenden haben Politikwissenschaften studiert und sind seit ein paar Jahren erfolgreich in der freien Theaterszene in den UK unterwegs. Entdeckt wurden sie auf dem grössten Festival für unabhängiges Theater, dem Edinburgh Fringe. Das Festival verwandelt die Hauptstadt Schottlands für einen Monat (!) in eine lebendige Match-Making Angelegenheit zwischen Theaterhäusern, freien Gruppen, Solo-Performer:innen und sonstigen ausübenden (Darstellenden) Künstler:innen.
emma + pj kreieren Stücke, die gesellschaftliche Fragen aufwerfen und jedoch subtil genug sind, um auch für grössere Kontexte lesbar zu sein. Formal gesehen arbeiten sie mit found text aus Sachbüchern, Berichterstattung aus Zeitungen und Fernsehen und viel mit Video. Die Stücke sind konzeptuell stark und spielen mit vielschichtigem Humor für Erwachsene.
Fünf Wochen intensiv
Unser Prozess hatte eine fixe zeitliche Beschränkung: 5 Wochen für die Arbeit am Stück plus eine Woche, in der die technischen Proben stattfanden (tech rehearsal) sowie die Haupt- und Generalproben (dress rehearsal) und schliesslich die Première.
emma + pj kamen mit einer klaren Struktur auf uns zu, die sich sehr bewährt hat für unser 9-köpfiges Ensemble. Zwei Wochen lang improvisierten und kreierten wir aufgrund ihrer Eingaben Szenen, Fragmente und testeten Formate. Eine Spielwelt entstand, zu der wir die Regeln entwarfen und mit jeder weiteren Improvisation schärften oder erweiterten.
Danach gingen wir eine weitere Woche lang mit Teilen dieser bereits entstandenen Fragmente in Begegnung mit wiederum neuen Eingaben und entwickelten weiteres theatralisches Material. Dieses Mal entstanden Szenen, die bereits in dieser Welt spielten. Gleichzeitig diskutierten emma + pj mit uns bereits mögliche Abläufe der Show: worum geht es uns, was möchten wir erzählen, was steht im Fokus, was ist der Subtext?
Tempo und Rhythmus
In der vierten Woche ging es an die ausgefeiltere Komposition und wir liessen uns von Fragen leiten wie „Was ist das Tempo und der Rhythmus der einzelnen Fragmente?“, „Wie würden sie sich gut ergänzen oder interessante Kontraste bilden?“ – und, sehr wichtig: „Was fehlt?“. Selbst in der vierten Woche war noch Platz, neue Elemente hinzuzudenken und zwei davon landeten sogar in der finalen Show. Die Texte, die bereits feststanden, lernten wir im Entstehen.
Woche Fünf war reserviert für die Proben. Mit Kostüm und Maske wurde der Feinschliff angegangen, das Lichtdesign kam hinzu und die Proben-Gegenstände, die wir auf der Bühne einsetzten, wurden zu den tatsächlichen Gegenständen, sodass eine neue Beziehung zwischen Spieler:in und Gegenstand aufgebaut werden konnte. Wir wiederholten und wiederholten, bis wir zufrieden waren und auch jede unisono gesprochene Textzeile wirklich richtig im Mund lag.
Vom Vergessen und Erinnern
Das Stück zeigt nachdenkliches Moment-Theater, das die Beziehung von Menschen zu Erinnerung und Vergessen ausleuchtet: Welche Erinnerungen packen wir weg und weshalb? Wohin gehen die Erinnerungen, wenn sie verstaut werden? Haben Menschen ein Recht auf Erinnerung und wer bewahrt es? Wo fängt Vergessen an und mit wem? Wie kommt es, dass wichtige Gerichtsprozesse und Urteile auf Erinnern aufgebaut sind, obwohl wir mittlerweile wissen, dass Erinnerung nicht linear funktioniert oder abrufbar ist?
„Every wound kept perpetually fresh, every battle refought daily… this is a tyranny of remembering. An excess of history, an obsession with the past leads to paralysis. Those who cannot close the door to the past are prisoners. Forever picking at old scars, ensuring that they never heal! The past should be a lesson, not a life sentence.“
– PJ Stanley von emma+pj
So argumentiert die Verteidigung der Stadt Noware. Doch die Anklage hält dagegen:
„They present their daily forgetting as a form of civic grace. I am here to speak for those who can not. Our town is corrupted. Under the pretense of peace we have shamefully hidden the worst, darkest part of ourselves. Let us call this, what it is: This is not forgetting, this is erasure. This is not a choice of life, this is a conspiracy of silence.“
– PJ Stanley von emma+pj
Ich bin froh, Teil eines mutigen und gleichzeitig respektvollen Probeprozesses gewesen zu sein. Durch die durchdachte und extrem gut organisierte Probezeit konnte ich nicht nur viel beitragen, sondern durfte auch beobachten, wie man eine solch komplexe Kollaboration friedlich angeht und allen Raum und Gehör verleiht. Ich werde Noware und diese Sommerproduktion in sehr guter Erinnerung behalten.
Hinterlasse einen Kommentar
An der Diskussion beteiligen?Hinterlasse uns deinen Kommentar!