Von Scham und Schauspiel
Warum tun Menschen sich das an? Gehen auf eine Bühne und riskieren, entblösst, ausgelacht, gesehen zu werden? Corinne setzt sich in einer Performance mit dem Wesen der Scham auseinander.
Wir spielen unser erstes im MA Lab entwickeltes Solo. Das Publikum sind unsere Mitstudierenden, ein paar Alumni und ausgewählte Dozent:innen. Ich habe zwei Pflanzen mitgebracht: eine Plastikpflanze aus dem Bad in meiner Londoner WG und eine Pflanze meiner Mitbewohnerin, die sehr wahrscheinlich schon länger tot ist. Sie sieht zumindest so aus.
Ich spiele heute «The Exit sign is to the left». Angekündigt habe ich meine Auseinandersetzung mit dem Thema Scham und 17-minütiges Einpersonen-Stück als «encounter of the philosophy of shame, cyclical memories and location-based coping strategies». (Deutsch: Auseinandersetzung mit der Philosophie der Scham, zyklischen Erinnerungen und standortbasierten Bewältigungsstrategien)
Die zwei Pflanzen dienen in der Performance als Orte des Rückzugs auf der Bühne und als Symbole der Beziehung meiner Performer:innen-Persona zum Thema Scham.
Haben Sie kein Schamgefühl?* Wie können Sie sich selbst im Spiegel ansehen?
Ein Gefühl der Leere. Die Verlegenheit, überhaupt zu existieren. Der verzweifelte Wunsch, dass sich der Boden öffnet und einen verschlingt.
Wir hatten zusammengerechnet 30 Stunden Zeit, die Performance zu entwickeln, während drei Wochen verteilt über mehrere Tage. Den Grossteil der Arbeit haben wir alleine gemacht, verteilt in die vielen RADA Räume, manchmal mit anderen im Raum, die parallel an ihrem Stück arbeiteten.
Scham ist schwer abzuschütteln. Ich habe das Gefühl, dass ich wie ein wunder Daumen hervorstehe. Ich fühle mich sowohl furchtbar auffällig als auch völlig fehl am Platz.
Viele Menschen in meiner Familie waren kreativ. Machten Erfindungen. Zeichneten, malten, sangen und schrieben. Es gab auch Pfarrer – eine Beziehung zum Unsichtbaren, welches sichtbar gemacht werden will. Dennoch spüre ich: Wenn ich heute vor Menschen hinstehe und Geschichten erzähle, dann hat das Gewicht. Die Haltung meiner Zellen dazu, dass ich Geschichten erzählen und “spielen” möchte, ist erstmal, das zu hinterfragen.
Oftmals kann ich die Lust, mich zu verkleiden und andere zu unterhalten, mir selbst gegenüber nur so rechtfertigen, indem ich mir sage “Schauspiel ist ein Handwerk – oder eine Dienstleistung“. Wieso möchte ich das: Vor andere hinstehen, etwas erzählen?
Wenn Scham keine Rolle mehr spielt, wenn es um diejenigen geht, die wir lieben – gehörst du zu denen, die du liebst?
Durch das Buch von Fédéric Gros “Philosophie der Scham” habe ich herausgefunden, dass es viele verschiedene Arten von Scham gibt und sie eigentlich nur existieren, weil der Mensch die Fähigkeit hat, zu imaginieren. Wenn wir uns für jemand anderes schämen, zum Beispiel, fremdschämen, dann geht das nur, weil wir uns vorstellen können, wie diese Person sich wohl gerade fühlen muss.
Nichts ist letztlich intimer als Scham, aber es ist ein intimer Raum, dessen Gewässer durch die Spuren anderer getrübt sind.
Scham hat auch damit zu tun, für welche ethischen Grundsätze oder moralischen Regeln wir uns als Gesellschaft kollektiv entscheiden – und wer dagegen verstösst. Scham ist, laut Gros, eine Wunde zu offenbaren, nur um sie dann vor den Augen anderer gleich wieder zu verstecken.
Scham ist wie ein undurchsichtiger Schleier herabgesunken. Sie umschliesst deine Kehle, entstellt deine Lippen und verleiht dir einen gequälten Ausdruck. Niemand fühlt sich mehr wohl oder weiss, wo hinschauen. Scham ist etwas mehr als das: eine dichte und durchdringende Substanz.
Scham kommt mit gewissen Geräuschen einher, mit Haltungen des Körpers und Gesten. Scham ist natürlich individuell empfunden und gleichzeitig universell als Machtinstrument einsetzbar. Scham über die eigenen Unzulänglichkeiten, die von aussen behauptet werden.
Wir verzichten auf das Töten aus dem gleichen Grund, aus dem wir uns in der Öffentlichkeit nicht mit der Hand die Nase putzen.
Die Scham, die uns reguliert, die verhindert, dass wir Undenkbares machen. Wenn wir begreifen, worüber wir uns schämen, wird uns bewusst, was uns wichtig ist. Ähnlich wie die Wut zeigt die Scham auf, welche Grenzen überschritten wurden. Welche Werte wir vertreten (wollen).
Wenn du merkst, wie du rot wirst, während du sprichst, bedeutet das, dass du deinem Selbst näher kommst. Die Fähigkeit der Scham, uns an unsere Verpflichtung zur persönlichen Veränderung zu erinnern.
Ich lese und lese, probiere Gesten aus, baue verschiedene Bewegungsabläufe, experimentiere mit Off-Stimme, Geräuschen und Erinnerungen an körperliche Handlungen im Raum, die mit den Arbeitsabläufen meiner Vorfahr:innen zu tun haben.
Der Körper als Quelle der Scham für die Seele.
Und dann stehe ich plötzlich in einem Raum mit den Mitstudierenden, die möchten, dass ich hier stehe und erzähle, die mich anfeuern, die mitlachen und unterstützen. Ich bewege, wende, winde und wringe mich in diesem Raum, der dafür da ist, dass ich als Performer:in lernen darf, scheitern, wieder aufstehen und wachsen kann.
Öffentlich und von ganzem Herzen etwas annehmen, das schändlicherweise verborgen gehalten wurde. Nicht nur akzeptieren, sondern öffentlich bekräftigen. Den Raum einnehmen, der durch die Beleidigung entstanden ist.
Zurück an den Absender. Das Exit-Schild befindet sich auf der linken Seite. Es ist jetzt deutlich sichtbar. Meine Angst verwandelt sich.
Sie gehört dem Täter. Scham ist ein Zeichen der Solidarität. „Wir hätten bei Ihnen sein sollen.“
Vor der Performance weiss ich, dass noch alles schiefgehen kann. Mein Körper fühlt sich ausgeliefert.
Ich werde das sein, was du behauptest, dass ich bin. Wilder, als du es dir in deinen stigmatisierenden Fantasien jemals zu träumen gewagt hast. Indem du mich abgelehnt hast, hast du mich von den Zwängen der Banalität befreit. Ein Treibstoff des Daseins.
Ich akzeptiere, dass ich all das, was ich für das Erzählen brauche, in mir trage. I surrender. Die Geschichte erzählt sich, die Sätze sind da, wo sie die Bewegungen treffen und mein Unterbewusstsein, gefüttert von Geschichten und Erinnerungen, übernimmt, verbindet das Jetzt und mein Hiersein mit dem, was war und findet darin Stärke und Sichtbarkeit.
Zeus sends Hermes to distribute shame (AIDOS) and justice (DIKE) to all people
a sense of shame to regulate your behaviour
to act gracefully and be proud of acting well
a point of ethical intersection
a basic sense of humility and restraint
there are no heroes in morality
sound-mindedness
shame as a source of courage
Philosophen haben die Wurzel der Scham im Herzen verortet – arbeitet euch das Herz aus dem Leib – WENN SCHAM REAL IST, VERBIRGT SIE EIN SCHÄRFERES, GEFÄHRLICHERES ELEMENT – EINEN STICH, DER JEDEN BEDROHT, DER SIE PROVOZIERT.
Scham ist konstruiert. Fremdgemacht. Sie kann eine Quelle der Stärke sein. Ich verstehe jetzt, weshalb ich so mutig bin.
* Sätze in kursiv sind Textfragmente aus dem Buch von Fréderic Gros ”Philosophy of Shame”, welche Teile des Stück-Skriptes ausgemacht haben.
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