Von „Es reicht!“ bis „I fucking love it“

Eine Geschichte über Hoffnung und Resilienz in den Darstellenden Künsten: Nadines Reise durch die Höhen und Tiefen einer kreativen Berufung – Stress, Erfolg, Selbstzweifel, Zufriedenheit und Kompromisse.

Seit Anfang 2024 bin ich nun freischaffend unterwegs. Ein Schritt, den ich schon lange geplant hatte – eigentlich schon direkt nach meiner Ausbildung. Doch dann kam Corona und ich blieb erst mal in meinem erlernten Beruf, liess mich noch einmal fest anstellen.

Mein Ziel war klar: So schnell wie möglich zurück zum Theater. Der Zufall – oder das Leben – führte mich zum Circolino Pipistrello. Dort arbeitete und lebte ich zwei Jahre festangestellt im Zirkus. Die Sicherheit einer Festanstellung, verbunden mit Kunst und Kultur. Zwei Jahre voller Intensität, im Zirkuswagen unterwegs, mit 30 km/h, aber im Hochgeschwindigkeitsmodus.

Nach diesen Jahren auf öffentlichen Plätzen und engen Wagen schwand die Zirkusromantik, und ich sehnte mich nach Privatsphäre, nach Zeit für mich und meine Liebsten. Ich wollte Abwechslung, neue Projekte, zurück in die Welt ausserhalb der Manege und all die Möglichkeiten entdecken, die da draussen sind.

Ich nahm also Anlauf, schmiedete Pläne und kontaktierte die Menschen, mit denen ich arbeiten wollte. Und ich hatte Glück: Ich wurde mit offenen Armen empfangen und in die unterschiedlichsten Projekte engagiert. 2024 war voller kleiner und grösserer Engagements. Natürlich gab es Wochen ohne Termine – aber das war mir recht. Ich brauchte Zeit, um wieder bei mir anzukommen, freischaffendes Arbeiten zu lernen, vor allem aber: wieder selbstständig zu leben.

Das mag dramatisch klingen, aber meine Zeit im Zirkus war komplett fremdbestimmt. Die Tage waren in 15-Minuten-Slots durchgetaktet und eigene Bedürfnisse musste man konsequent auf später verschieben. Als ich diese Welt verliess, zog ich nicht nur beruflich weiter, ich wechselte auch meinen Wohnort und mein gesamtes Umfeld. Da steht man dann winkend da und sieht den drei Säulen des Lebens zu, wie sie hinter dem Horizont verschwinden.

Ich brauchte Zeit. Um mir neue Säulen zu bauen. Um meine eigenen Bedürfnisse überhaupt wiederzuerkennen.

Wo waren wir stehen geblieben? Ah ja, die neuen Projekte erfüllten mich, gaben mir Struktur, eine klare Aufgabe – waren genau das, worauf ich mich so gefreut und so lange hingearbeitet hatte. Und: Ich hatte endlich wieder Zeit für mich.

Doch das war nicht nur einfach. An meinen vielen freien Tagen kam ich oft ins Grübeln, fiel in emotionale Löcher. Sie waren weniger erholsam, als ich erwartet hatte. Jetzt, wo ich endlich Zeit für mich und meine Mitmenschen hatte, war da ständig diese Stimme im Kopf: „Mach mehr. Du könntest doch … Du müsstest eigentlich …“ Und so war ich oft nicht so präsent, wie ich gerne gewesen wäre.
Je näher das Jahresende rückte, je ungeplanter meine Zukunft wurde, desto unruhiger wurde ich. Ich dachte viel darüber nach, welche Projekte mich interessieren könnten.

Was mich reizte, fand ich selten ausgeschrieben. Und was ausgeschrieben war, reizte mich nicht. Und so vergingen Wochen, in denen ich zwar viel arbeitete – aber in meiner Planung gefühlt keinen Millimeter weiterkam. Der Stress nahm zu. Jeden Morgen erwachte ich mit einem drückenden Gefühl und einem Kopf, der sich ans Sorgenwälzen gewöhnt hatte. Fürs Privatleben wollte ich nichts mehr planen – was, wenn da ein Projekt reinkommt? Ich war unzufrieden und hielt es kaum aus, einfach nur zu sein.

Ein Engagement musste ich absagen, weil es sich mit einem anderen überschnitten hätte. Ich trauerte dem lange nach. Und die Zweifel: War es die richtige Entscheidung? Was wäre gewesen, wenn …? Mir wurde bewusst: Diesen latenten Stress muss ich lösen – und zwar bald, wenn ich in diesem Berufsfeld bleiben will. Und das wollte ich. Ich wusste auch: Ein nächstes Engagement reicht nicht. Denn auch das hat ein Ende.

Vielleicht ist es einfach menschlich, dass so viel Unklarheit stresst – besonders hier, in der sicherheitsliebenden Schweiz.
Ich bekam viele gut gemeinte Ratschläge: „Mach doch dies! Schau mal da!“ – doch sie verstärkten nur das Gefühl, nicht genug zu tun. Und zu wählerisch zu sein.

Meine Mutter meinte: «Es chunnt den scho wieder öpis, musch eifach drahblibe und nöd ufgeh. Wenn ei Türe zue gaht, gaht di nächsti uf. Und musch halt villicht doch emal öpis mache, wo nöd all dini Vorstellige erfüllt.“ und «Musch halt doch emal». Als hätte ich das nicht schon die letzten zwölf Jahre gemacht.

Dabei waren meine Ansprüche gar nicht so abgehoben:
1. Ich will Teil von Projekten sein, die mich künstlerisch interessieren.
2. Ich möchte mit Menschen arbeiten, die meine Haltung teilen – oder wenigstens verstehen wollen.
3. Ich arbeite nicht für drei Franken die Stunde. (Ja, liebe Kultur-Freund:innen, das war tatsächlich ein Angebot. Von einem renommierten Theater.)

Die Zeit des Gratis-Arbeitens muss irgendwann vorbei sein. Und sie hört bekanntlich nur auf, wenn man selbst damit aufhört.

Aber zurück zum Thema. Was es in meinem Fall vor allem brauchte, war eine Entscheidung. Die Erkenntnis hatte ich nicht zum ersten Mal – aber ich brauchte einige Anläufe, bis ich sie wirklich umsetzte. Eines Morgens wachte ich auf und beschloss: Heute beginne ich den Tag nicht mit Sorgen. Ich hörte auf, bei privaten Entscheidungen alle beruflichen Eventualitäten mitzudenken. Ich buchte eine Reise, die ein halbes Jahr in der Zukunft lag, und habe mir gesagt; alles, was offensichtlich zu mir kommt – das nehme ich an. Gleichzeitig traf ich eine weitere Entscheidung: Ich will eine Lösung für mein Bedürfnis nach Struktur, Konstanz und finanzieller Sicherheit.

Ich sprach mit vielen Kolleg*innen. Und: Surprise, surprise – alle kämpfen mit denselben Fragen. Leerräume gehören offenbar dazu. Ich kenne niemanden, der konstant in Projekten beschäftigt ist.

Ich konnte in meinem Umfeld drei unterschiedliche Lebensstrategien ausmachen: die RAVs, die Flexies und die Produzierenden.

Die RAVs:
Eine Freundin aus dem Filmbereich und ein Kollege aus der Westschweiz erzählten mir, dass viele ihrer Kolleg:innen aufs RAV gehen, sobald sie keine Projekte mehr haben. Also informierte ich mich bei Input & Gipfeli von ArtFAQ (übrigens: sehr empfehlenswert!) über unsere Arbeitslosenkasse. Bis zu meiner Schlussfrage klang alles super. Dann wollte ich wissen, wie der Lohn berechnet wird. Die Antwort: Der Durchschnittslohn der letzten zwei Jahre zählt. Und obwohl ich über 100 % gearbeitet hatte, fiel mein Lohn im Zirkus – dank Kost und Logis plus kulturüblich mieser Bezahlung – so tief aus, dass die Taggelder nicht zum Leben gereicht hätten. Zusätzliche Verdienste werden abgezogen.
Fazit: Das RAV war für mich keine Option. Ich brauchte also eine andere Lösung.

Die Flexies:
Einige Theaterschaffende, mit denen ich sprach – und die entspannter wirkten als ich – erzählten mir von ihren flexiblen Nebenjobs. Jobs mit etwa 30 % Jahresarbeitszeit, im Homeoffice machbar, und so gestaltet, dass sie 100 %-Engagements dazwischen reinschieben konnten. Vorarbeiten, nacharbeiten – alles möglich. Klingt traumhaft. Aber: Finde mal so einen Job. Ich bin leider keine Lehrerin, die mit vier Einsätzen im Monat 1’500 Franken verdient. Und auch keine IT-Spezialistin, die von überall her arbeiten kann. Trotzdem machte ich mich auf die Suche nach der eierlegenden Wollmilchsau-Festanstellung: Niedrigprozentig, flexibel, fair bezahlt, meinen Fähigkeiten entsprechend – und am besten noch mit Bezug zur Kunst.
Fazit: Nice, aber leider schwer zu finden.

Die Produzierenden:
Die dritte Gruppe Kulturschaffender, die sich über Wasser halten können, sind die, die ihre eigenen Projekte machen. Sie stellen sich selbst an, bestimmen, mit wem sie arbeiten und woran. Aber, um das wirklich tun zu können – und das nötige Geld zu organisieren – braucht es neben Kreativität vor allem eines: Fähigkeiten in Projektmanagement. Dass ich früher oder später eigene Projekte realisieren will, war immer Teil meines freischaffenden Plans.
Fazit: Machbar, wenn ich erst Zeit investiere.

Also setzte ich meinen Fokus auf administrative Weiterbildung. Das brachte mir die Empfehlung für eine projektspezifische Regie- und Produktionsmitarbeit ein. Die Tür, die sich öffnet, wie meine Mutter sagen würde. Und heute – einige Projekte und Kontakte später – kann ich sagen: Sie ist mir einfach zugelaufen, die eierlegende Wollmilchsau.

Niedrigprozentig, flexibel – und genau in dem Bereich im Theater, in dem ich mich ohnehin weiterentwickeln wollte: Produktionsleitung.

Fucking love it.

Heute weiss ich: Hätte ich damals das Engagement angenommen, dem ich so lange nachgetrauert habe – ich hätte nie von diesem Job erfahren. Auch mein Wählerisch-Sein hat sich gelohnt. Und das Leben hat mir mal wieder gezeigt, dass meine Mutter mit ein paar ihrer Ratschläge eben doch recht hat.

Und damit: Hasta luego – in vier Tagen fliege ich nach Mexiko. Auf die Reise, die ich mutig und glücklicherweise vor einem halben Jahr gebucht habe.

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