Von Kunst, Stress und Überforderung
Man jongliert drei Projekte gleichzeitig, leidet unter Planungsunsicherheit und weiss nicht, woher das Geld kommen soll – Nadine erzählt aus dem Alltag freier Künstler*innen.
Von Nadine Hochstrasser
In ein paar Wochen werden wir – und ja, wir werden, das weiss ich – ein Projekt auf die Beine stellen, das heute noch fast nur aus einer Idee besteht. Es ist alles organisiert: Geld, Team, Spielort, Bewilligungen und vieles mehr. Langsam bekommen unsere Gedanken Kontur. Ich war nur an einem Bruchteil dieser Organisation beteiligt – und doch spüre ich bei jedem Update, bei jedem Weiterdenken, dieses kleine Flackern im Bauch. Dieses Zwischending aus Vorfreude und Wahnsinn.
Kennst du das Gefühl, wenn der Anfang eines Projekts sich anfühlt, als stünde man am Fuss eines riesigen Bergs? Man schaut nach oben, sucht irgendwo eine Seilbahn – aber natürlich gibt’s keine. Also beginnt man zu laufen. Schritt für Schritt, mit dem Rucksack voller Aufgaben. Nach einer Weile dreht man sich um, schaut hinunter und stellt fest, dass der Parkplatz erst wenige Meter hinter einem liegt.
Aus Ungeduld und einer eher tiefen Frustrationstoleranz wirft man einen Schneeball Richtung Berg. Ups – und schon rollt er los. Erst langsam, dann schneller, nimmt alles mit, was ihm in den Weg kommt. Plötzlich steht man mitten in der eigenen Stresslawine und fragt sich, warum man eigentlich nie gelernt hat, mit dem Rutschen statt gegen das Rutschen zu arbeiten.
Dieses Bild hat mir beim Schreiben vor allem Spass bereitet – und die Realität ist zum Glück nicht ganz so dramatisch. Ausser manchmal in meinem Kopf. Da wird aus einer Aufgabe schon mal ein kleines Gebirge mit ganz eigener Wetterlage. Und trotzdem weiss ich: Wir werden es schaffen. Wieder einmal. Schritt für Schritt. Die Spitze des Berges ist schon zu sehen, und der Parkplatz liegt weit hinter uns. Bald können wir die letzten Höhenmeter gehen – und die sind ja bekanntlich die schönsten. Für diesen Ausblick lohnt es sich, den Rest des Weges zu erklimmen.
Dieses Schritt-für-Schritt ist sowieso mein derzeitiges Mantra.
Gerade läuft vieles gleichzeitig – wie das halt so ist, wenn man in verschiedenen Projekten arbeitet. Ich habe dieses Bild von Schubladen in meinem Kopf: Jede Schublade ein Job. Manche öffne ich täglich, andere lasse ich vorerst zu. Bei einer habe ich Angst, sie nicht mehr öffnen zu können, weil es darin so unaufgeräumt ist, dass sich irgendetwas Ungewisses eingeklemmt hat. Manchmal stehe ich einfach davor, starre auf diese üppige Kommode und denke, ich bräuchte einen neuen, grösseren Schrank.
Nachdem ich diverse Metaphern für meinen Stress und den Umgang damit gesucht hatte, habe ich die Kolumnenschublade wieder einmal zugemacht – und mir eine Dokumentation über Stress angeschaut. Daraus habe ich gelernt: Stress wird durch das Hormon Cortisol ausgelöst. Dabei gibt es zwei Richtungen, in die dieser Stress abbiegen kann: Distress oder Eustress. Distress ist das überfordernde Gefühl, das Angst auslöst und einem das Gefühl gibt, die Kontrolle zu verlieren. Es ist ungesund und führt zu einer Reihe negativer Auswirkungen.
Eustress hingegen ist überlebenswichtig für uns. Er treibt uns an, steigert Aufmerksamkeit und Konzentration und hilft, auf eine Herausforderung fokussiert zu reagieren. Er kann uns sogar in den sogenannten Flowstate bringen – wenn alles läuft wie im Tanz und man nicht merkt, wie die Zeit vergeht – und ist in diesem Fall alles andere als ungesund.
Das Einzige, was darüber entscheidet, ob der Stress nach links oder rechts abbiegt – also zu Distress oder Eustress wird – ist unser Gehirn: nämlich, wie wir die Situation bewerten, in der wir stecken.
Nachtrag:
Das oben erwähnte 4000-Höhenmeter-Projekt ist mittlerweile vorbei, und deshalb konnte ich mir endlich Zeit nehmen, die eingeklemmte Kolumnenschublade wieder zu öffnen. Und natürlich: Wir haben es geschafft. Und das Ergebnis macht uns alle unglaublich zufrieden.
Aber mein persönlicher Weg auf diesen Berg war mir ehrlich gesagt ein bisschen zu steinig. Und zu steil. Und heiss und kalt. Und mit dünner Luft. Und ja – ein paar Mal bin ich auch ausgerutscht. Ich habe es auf jeden Fall nicht geschafft, die Karte zu lesen und den richtigen Abzweiger Richtung Eustress zu nehmen.
Früher, wenn ich mit meinen Eltern wandern ging, bin ich manchmal einfach trotzig auf den Boden gesessen und wollte nicht mehr weiterlaufen. Sie sind dann einfach weitergegangen, bis mir klar wurde, dass ich keine andere Wahl hatte, als wieder aufzustehen und weiterzugehen.
Vielleicht ist es heute noch ähnlich. Nur sitze ich nicht mehr auf dem Kiesweg, sondern auf irgendwelchen Proben oder hinter dem Computer. Hoffentlich finde ich immer wieder Wege, die nicht nur zum Gipfel führen, sondern unterwegs auch Pausenplätze und Aussichtsbänklein bereithalten. Und so kann ich vielleicht auch die Karte immer besser lesen. Und irgendwann mit Genuss das Matterhorn besteigen.
Bis dahin: Schritt für Schritt.
Mit Aussicht auf oben – und ab und zu auch Pausen im Schatten.
Ivan Engler
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