Aufbruch in eine neue Ära

Die Delegierten von  SzeneSchweiz  haben einen neuen Präsidenten gewählt

(rs) Es war die erste Delegiertenversammlung von „Szene-Schweiz“. Sie stand ganz im Zeichen der Präsidentschaftswahl. Mit Matthias Albold und Martin Krämer empfahlen sich zwei sehr profilierte und durchaus unterschiedliche Kandidaten zur Nachfolge von Langzeitpräsidentin Elisabeth Graf.

Elf Jahre amtete Elisabeth Graf als Präsidentin des SBKV. In ihrem letzten Amtsjahr stemmte sich der Verband mit aller Kraft gegen die verheerenden Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Kulturbranche, gleichzeitig feierte er sein hundertjähriges Bestehen, fusionierte mit dem Tessiner Partnerverband TASI und gab sich den neuen Namen SzeneSchweiz. Elisabeth Graf hatte als SBKV-Präsidentin wahrlich aufregende Monate und Jahre hinter sich, nun sah sie den Moment für ihren Rücktritt gekommen. Zum letzten Mal richtete sie ihre „Worte der Präsidentin“ an die Delegierten, welche am 5. Juni im Volkshaus in Zürich tagten.

„Es braucht einen frischen Wind.“

Es sei richtig und wichtig, sagte Graf, dass der neue Verband „SzeneSchweiz“ nicht als erstes eine „Ex-SBKV-Präsidentin“ zur Wahl ins Präsidium vorgeschlagen bekomme. Es brauche nun frischen Wind und eine neue Energie im Verband. Aber auch ohne Fusion wäre sie zurückgetreten, betonte Graf, die den Fokus ihrer kurzen Rede vor allem auf ihre Arbeit bei der International Federation of Actors (FIA) richtete, wo sie einen Vorstandssitz innehatte. „Die FIA ist uns immer einen Schritt voraus“, sagte sie und meinte damit vor allem die Bemühungen um Diversität und Inklusion. Aufwand und Ertrag für einen Vorstandssitz bei der FIA rechne sich aber nicht, weshalb „SzeneSchweiz“ fortan nur noch ein einfaches Mitglied beim internationalen Schauspielerverband sein werde.

Laudatio für Elisabeth Graf

Im späteren Verlauf der DV würdigte Ernst Brem sen., der langjährige Syndikus des SBKV, die Arbeit von Elisabeth Graf. In seiner Rede strich er einige Eckpunkte ihrer Präsidentschaft heraus wie beispielsweise die Gründung der Umschulungsstiftung SSUDK oder die Revision des Urheberrechts. Er bezeichnete den Verband als Schiff, das in den vergangenen Jahren in gefährlichen Gewässern unterwegs war, und Elisabeth Graf als Kapitänin, welche die drohenden Gefahren rechtzeitig erkannte und sich nie scheute, unangenehme Fragen zu stellen. „Dank dir hatte der Verband ein menschliches und vertrauenswürdiges Gesicht“, sagt Brem an Elisabeth Graf gewandt.

Rückblick auf das vergangene Jahr

Nach den Worten der Präsidentin folgte der Jahresbericht der Geschäftsleiterin Salva Leutenegger. Sie griff drei wichtige Punkte heraus. Erstens und kaum überraschend die Auswirkungen der Corona-Pandemie: Aufgrund der weltweiten Gesundheits- und Wirtschaftskrise sah sich der SBKV mit einer enormen Beratungswelle konfrontiert, war aber in der Lage, schnell zu reagieren. Man stellte 50’000 Franken für Darlehen an die Mitglieder zur Verfügung (maximal 1000 Franken pro Mitglied). Insgesamt zwölf Mitglieder hätten dieses Angebot genutzt. Nachdem unter dem Dach von „Suisseculture“ die „Taskforce Culture“ gegründet worden war, kämpfte der Verband im engen Austausch mit Kantons- und Bundesämtern für bessere Unterstützungsmassnahmen und lieferte seinen Mitgliedern laufend aktuelle Informationen.

Rechtsgutachten bezeichnet Pandemie-Klauseln als nichtig

Den zweiten Punkt, den Salva Leutenegger aus dem Geschäftsbericht aufgriff, war ein Gutachten, welches der SBKV bei Rechtsprofessor Thomas Geiser in Auftrag gegeben hatte. Dabei ging es um die Klärung der Frage, ob es zulässig war, dass die Anstellungsverträge von Darsteller:innen plötzlich Zusatzklauseln enthielten, welche die Arbeitgeber:innen im Falle einer Pandemie von der Lohnfortzahlungspflicht entbinden sollten. Das Gutachten habe klar bestätigt, dass solche Klauseln nichtig seien. Die Lohnfortzahlungspflicht sei ein zwingendes Recht und könne selbst dann nicht abgeändert werden, wenn die Arbeitnehmer:innen entsprechende Verträge unterschrieben hätten. Der SBKV stellte das Gutachten allen Schweizer Berufsverbänden gratis zur Verfügung.

Kehrtwende bei den Mitgliederzahlen

Der dritte Punkt war ein Rückblick auf die Arbeit der Geschäftsstelle in Zürich. Leutenegger lobte das enorme Engagement der beiden Angestellten Zineb Benkhelifa und Joëlle Turrian, welche menschlich wie fachlich ein grossartiges Team bildeten und im vergangenen Krisenjahr Unmögliches geleistet hätten. Erfreulich sei auch der Aufschwung bei den Mitgliederzahlen. Insbesondere viele jüngere Freischaffende seien dem Verband im vergangenen Jahr beigetreten.

Margit Huber ist Sektionsleiterin fürs Tessin

Nach Salva Leutenegger blickte auch die neue „Sektionsleiterin Tessin“ auf das vergangene Jahr zurück. Es handelt sich dabei um die ehemalige Geschäftsleiterin von TASI Margit Huber. Sie berichtete davon, dass im Tessin im vergangenen Jahr eine kantonale Berufsschule für zeitgenössischen Tanz mit integrierter Berufsmatura gegründet wurde. Ausserdem habe das Fernsehen der italienischsprachigen Schweiz (RSI) den darstellenden Künstler:innen im Tessin eine digitale Plattform zur Verfügung gestellt, um die Sichtbarkeit von Kunst und Kultur auch während der Pandemie zu gewährleisten. Das Echo auf diese Initiative des abtretenden RSI-Direktors Maurizio Canetta sei sehr gross gewesen. Insgesamt habe die Gründung von „SzeneSchweiz“ der Verbandsarbeit im Tessin neuen Schwung gegeben. „In diesem Sinne wollen wir weiterarbeiten“, sagte Margit Huber.

Zwei versierte Präsidentschaftkandidaten

Nach dem ausführlichen Rückblick auf das vergangene Jahr, galt es, nach vorne zu schauen und einen neuen Präsidenten für „SzeneSchweiz“ zu wählen. 23 anwesende Delegierte der verschiedenen Orts- und Regionalgruppen hatten die Wahl zwischen Matthias Albold (Schauspieler am Theater St. Gallen) und Martin Krämer (Chorsänger am Theater Basel). Die beiden langjährigen Vorstandsmitglieder des SBKV präsentierten sich den Anwesenden in einer kurzen Ansprache. Martin Krämer lobte seinen Konkurrenten in den höchsten Tönen, sagte aber, dass er gegen aussen aggressiver auftreten würde als Albold. Gleichzeitig bezeichnete sich Krämer als „professionellen Gruppenmensch“. Albold sagte, dass sich der SBKV in den vergangenen Jahren zu sehr mit sich selbst beschäftigt hätte. „Die Arbeit an und für unsere Kunden wurde vernachlässigt.“ Insbesondere wolle er sich um die Bedürfnisse der Freischaffenden kümmern. Beide bezeichneten ausserdem die Annäherung an die Romandie als zentrales Anliegen.

Matthias Albold ist der erste gewählte Präsident von „SzeneSchweiz“

Matthias Albold schien die Delegierten mit seinem Auftritt mehr zu überzeugen. Mit einem deutlichen Vorsprung von 16 zu 7 Stimmen wurde er zum neuen Präsidenten von SzeneSchweiz gewählt. Sichtlich gerührt bedankte er sich bei den Anwesenden für das ausgesprochene Vertrauen. „Messt mich an den Dingen, die ich angekündigt habe“, sagte er fast demütig, und zu seinem Konkurrenten Martin Krämer gewandt: „Ich brauche dich!“ Krämer war der erste, der Albold herzlich zu seinem neuen Amt gratulierte.

Neue Vorstandsmitglieder

Nebst einem neuen Präsidenten wählten die Delegierten auch drei neue Mitglieder in den Verbandsvorstand. Es sind dies die ehemaligen TASI-Mitglieder Manuela Rigo und Igor Mamlenkov aus der Sektion Tessin und aus der Regionalgruppe der Freischaffenden Zürich, Aargau, Mittelland, Ost- und Zentralschweiz der Schauspieler Martin Ostermeier.

Die Liste der Verstorbenen

Nach dem ganzen Wahlprozedere ging es zurück zur Tagesordnung. Die Delegierten hatten über einen Antrag der Regionalgruppe der Freischaffenden Zürich, Aargau, Mittelland, Ost- und Zentralschweiz zu beraten, der vom Verbandsmagazin „Ensemble“ verlangte, die Namen der verstorbenen Bühnenkolleg:innen abzudrucken. Da der Antrag zu wenig präzise formuliert war, musste das genaue Anliegen zuerst erörtert werden, denn längst ist es Usus, dass verstorbene Verbandsmitglieder im Ensemble einen Nachruf bekommen. Man einigte sich schliesslich darauf, dass im Ensemble einmal jährlich eine Liste aller verstorbenen Bühnenkolleg:innen (Mitglieder und Nichtmitglieder) abgedruckt wird. Verantwortlich für diese Liste ist die antragstellende Regionalgruppe.

Lebhafter Erfahrungsaustausch

Im Anschluss gab es für die Delegierten noch Zeit, um ihre schriftlich eingereichten Orts- und Regionalgruppenberichte mündlich zu ergänzen, was zu einem lebhaften Erfahrungs- und Meinungsaustausch führte. Mit einem grossen Dank an alle Anwesenden und insbesondere an Zineb Benkhelifa und Joëlle Turrian, welche für eine reibungslose Organisation der DV verantwortlich waren, beendete die scheidende Präsidentin Elisabeth Graf die Sitzung.

Nicht nur den Namen abstreifen

Kommentar zur Delegiertenversammlung von Rolf Sommer

Es war eine denkwürdige DV, welche am 5. Juni im Volkshaus Zürich stattfand. Nicht nur war es die erste offizielle DV unter dem neuen Namen „SzeneSchweiz“, sondern es war auch die letzte DV unter dem Vorsitz von Elisabeth Graf. Auf den neu gewählten Präsidenten Matthias Albold sowie auf den neu zusammengesetzten Vorstand warten grosse Herausforderungen. Nach dem Zusammenschluss mit TASI muss sich SzeneSchweiz dringend auf die Romandie ausrichten, um gegenüber dem Bundesamt für Kultur (BAK) eine gesamtschweizerische Tätigkeit vorweisen zu können und damit wieder in den Genuss von Fördergeldern zu kommen. Ausserdem muss der Verband endlich beweisen, dass er im Stande ist, etwas gegen den schleichenden Zerfall der Werbe- und Filmgagen zu unternehmen. Das würde den Mitgliedern weit mehr dienen als die 50’000 Franken teure Festschrift, welche mitten im Corona-Jahr als Jubiläumsgeschenk verteilt wurde. Matthias Albold hat recht, wenn er sagt, dass sich der SBKV in den vergangenen Jahren zu sehr mit sich selbst beschäftigt hat. Damit muss nun Schluss sein. SzeneSchweiz muss sich mit frischen Ideen „in Szene setzen“, seine Regionalgruppen neu beleben, seine Präsenz in den sozialen Medien ausbauen, die Lobbyarbeit professionalisieren und insbesondere die Interessen der Freischaffenden vermehrt ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellen, welche inzwischen Dreiviertel aller Mitglieder stellen, aber im Vorstand immer noch untervertreten sind. Es würde dem Verband guttun, nicht nur seinen alten Namen abzustreifen sondern auch sein angestaubtes Image.

MEMENTO MORI

Die Namen der verstorbenen Berufskolleg:innen, derer an der DV gedacht wurde:

Barbara Magdalena Ahren (71), Ennetbaden, Schauspielerin, freischaffend

Nicolas Baerlocher (82), Zürich, Kultur-Impresario

René Blum, Bern (86), Schauspieler, freischaffend

Nicolai Mylanek (81), Zürich, Schauspieler, freischaffend

Liselotte Zinder (70), Laufenburg, Schauspielerin, freischaffend

CIAO TASI!

(dh) „Warum braucht ein Deutschschweizer gleich vier Aspirin? – für jede Ecke seines Kopfes eins!“ feixt der Tessiner – während er unter Palmen Risotto löffelt und sein Auto im Halteverbot steht. Nach der Fusion mit dem Tessiner Verband TASI sind wir nun also zusammen „Szene Schweiz“ – „Scena Svizzera“. Das „Ensemble“ hat mit fünf ehemaligen TASI-Mitgliedern über Unterschiede in der Kultur, Klischees und über die Fusion gesprochen.

IGOR MAMLENKOV ist freischaffender russischer Künstler, Clown und Schauspieler. An der Accademia Dimitri hat er seinen Master in „Physical Theatre“ gemacht und währenddessen seine eigene Theatergruppe „Domovoi Theatre Company“ gegründet. Ausserdem hat er dieses Jahr den Tessiner Kulturverein „Blue Selyodka“ ins Leben gerufen.

Igor, als freischaffender Künstler im Tessin hast du natürlich dem TASI angehört. Was hat dir diese Mitgliedschaft bis jetzt gebracht?

Ha! Was für eine Frage! TASI war für mich eine Art Lebensretter, als ich während des ersten Lockdowns in eine Schöpfung geraten bin.

Du bist in eine Schöpfung geraten?

Ja, ich war gerade im kreativen Prozess einer neuen Produktion. Das Proben, die Trainings und das ganze Erarbeiten – zusammen mit dem Familienleben in einem Haus – war für mich eine tägliche Herausforderung. Es war nicht einfach! Da war TASI für mich wie eine Oase, wo ich Rat, Hilfe und Informationen bekommen konnte. Es war wichtig, einen Ort ausserhalb des Hauses und professionelle Mitarbeit zu haben.

TASI und SBKV haben zu „Scena Svizzera“ fusioniert. Hast du davon gehört?

Ma chiaro habe ich davon gehört! Und ich bin sehr froh darüber. Wir freuen uns immer über neue Kontakte und Kooperationen. Der Zusammenschluss mit dem SBKV wird hoffentlich unsere Rechte als Künstler stärken und vielleicht auch neue Bekanntschaften ermöglichen.

Wie erlebst du die Tessiner Theaterszene?

Das Tessin ist ein kleiner Ort und die Anzahl der Theater, Zuschauer und Festivals ist sehr begrenzt. Die Festivals „Artisti di strada“ und „Longlake“ unterstützen Zirkuskünstler, „Physical theatre“ und Künstler im „Dimitri-Stil“. Aber ich mag auch das „Scollandino“, wo Familien mit einer Art Wanderkarte von Ort zu Ort marschieren, sich dort eine Show ansehen, etwas essen können und dann weiterwandern. Sowas gefällt mir.

Hast du auch Erfahrungen in der deutschsprachigen Schweiz gemacht?

Ja. Es gibt viel weniger Probleme mit Kunden, die versuchen, den Preis zu senken. Da ich aber während meiner Show nicht spreche, merke ich sonst keine Unterschiede zwischen dem Tessin und dem Rest der Schweiz. Unterschiede zeigen sich eher in den verschiedenen Arten des Publikums, je nach Anlass. Und die sind wieder überall gleich – weltweit.

DAVIDE GAGLIARDI ist ein Tessiner Schauspieler und Sprecher. Er spielt in verschiedenen Tessiner Theatergruppen und arbeitet für „Lugano Turismo“, wo er theatralische Führungen in mehreren Sprachen anbietet. 2020 gründete er sein eigenes „Teatro Lunaparco“ mit der Idee, seine Stücke in der ganzen Schweiz zu zeigen.

Davide, du hast bestimmt von unserer Fusion gehört, was sagts du dazu?

Ja, ich freue mich darüber! Dadurch fühle ich mich der Deutschschweiz noch näher und hoffe natürlich, dass ich mein eigenes Stück dann hier auch einfacher verbreiten kann. Ich werde es auf Deutsch übersetzen.

Ein grosser Vorteil, Deutsch zu sprechen?

Ja, ich bin heute sehr froh, dass ich in der Schule fleissig Deutsch gelernt habe. Dadurch ergab sich die Zusammenarbeit mit der „Piccola Commedia dell’Arte“ in Zürich, wo ich ungezwungen in Deutsch und Italienisch spielen konnte. Und auch das „Teatro Paravento“, wo ich seit Jahren regelmässig auftrete, ist nur auf mich zugekommen, weil sie jemanden suchten, der Deutsch spricht. Im Tessin gibt es zwar für Publikum viele Angebote, für uns Schauspieler aber weniger Möglichkeiten.

Woran mag das liegen?

Mein Gefühl ist, dass sich die Theaterszene im deutschsprachigen Raum viel mehr kreatives Risiko „erlauben“ darf. Es gibt mehr Publikum, mehr Geld, daher kann man sich „mehr trauen“ und anders produzieren. Im Tessin haben die kleineren Produktionen viel weniger Geld zur Verfügung.

Wenn du dein Stück in der Deutschschweiz zeigen willst, wirst du dich da auch mehr trauen, oder was sind deine Erfahrungen mit unserem Publikum?

Ich muss zugeben, dass ich überrascht war, als ich zum ersten Mal in Basel in einem kleinen, überfüllten Theater sass und gesehen habe wie das Basler Publikum über eigene Klischees und sich selbst gelacht hat! Unsere Meinung im Süden ist oft: „Ach, die im Norden nehmen immer alles todernst“. Ich habe mich vom Gegenteil überzeugt – auch Deutschschweizer können lachen, und wie!

Gibt es sonst noch Klischees zu bereinigen?

Naja, von wegen Tessiner seien immer laut: Im Ruheabteil der SBB sind es oft Zürcher, die direkt unter dem Schild „Bitte nicht telefonieren“ ins Handy brüllen. Ich sage nie etwas, denke aber „eigentlich sind ja alle gleich“.

MELANIE HÄNER ist Sängerin, Regisseurin und Gesangslehrerin. Mit ihrem Pianisten tritt sie regelmässig als „Imàgo Duo“ in Italien und im Tessin auf. 2014 gründete sie das Theater „lo Sgambetto“ in Malcantone. Zur Zeit arbeitet sie an einem eigenen Musical zum Thema Immigration.

Melanie, wir reden vom Tessin, von Kultur, da hast du was auf dem Herzen.

Ja! Die Tessiner halten die Deutschschweizer ja manchmal für ein bisschen arrogant, weil sie hierher kommen, Deutsch sprechen und erwarten, dass jeder sie versteht. Sie scheinen die „Herren der Welt“ zu sein. Das hat aber bloss damit zu tun, dass das Tessin im Vergleich zur restlichen Schweiz viel kleiner ist und viel mehr kämpfen muss, um gehört zu werden.

Auch in der Kunst?

Gerade da! Das Tessin ist voller Überraschungen, die gehört und entdeckt werden sollten. Es gibt hier viele Künstler und Kunsthandwerker, die etwas versteckt arbeiten und Projekte fernab der Städte schaffen. Diese kleinen, unabhängigen Kunstprojekte sind äusserst wertvoll. Tief mit der Landschaft verbunden, repräsentieren sie unsere Kultur und Tradition.

Du sprichst aus eigener Erfahrung?

Ja, wenn man in der italienischen Schweiz aus der Stadt herauskommt und sich der Natur nähert, wird man viele kleine Kulturstätten entdecken, geführt von einfachen Menschen, die der Kunst eine Stimme geben wollen. Diese „Kunstsalons“ müssten unbedingt von den Behörden wahrgenommen und unterstützt werden, denn leider drohen sie sonst zu verschwinden. So ein kleines Theater haben auch wir in Malcantone geschaffen, „lo Sgambetto“.

Auch ohne Geld?

Ja. Und ich verstehe den Grund dafür noch immer nicht. Wir haben da jahrelang Theater- und Musikfestivals veranstaltet, ganz ohne öffentliche Gelder. Ich glaube, dem Kanton und den Gemeinden mangelt es einfach an Interesse und darum an Aufmerksamkeit. Das macht mich am meisten traurig.

Du meinst, Kultur wird im Tessin primär im kommerziellen Sinne und in den Städten gefördert?

Der Stolz des Tessins ist das LAC in Lugano: ein wunderbares kulturelles Zentrum und ein Ort, der sicher in seiner ganzen Grösse unterstützt werden sollte. Aber ich möchte einen Appell aussprechen: Vergessen wir die kleinen Bühnen nicht! Diejenigen, die sowohl den Strassenartisten als auch den internationalen Künstlern Raum und Stimme geben.

HENRY CAMUS und GABY SCHMUTZ sind seit rund dreissig Jahren als

„Duo Full House“ international zusammen unterwegs. Ihre Action-Comedy Show führen sie in mehreren Sprachen auf. Als Gastkomiker sind sie u.a. im Zirkus Knie und beim Humor Festival Arosa aufgetreten.

Ihr seid viel unterwegs, wohnt aber in Ascona. Wie erlebt ihr die Tessiner Kulturszene?

Sie ist vielseitig, es läuft immer etwas: Konzerte und Theater mit lokalen aber auch mit bekannten internationalen Künstlern. Man verpasst ab und zu etwas, hat aber nicht so einen Kulturstress wie etwa in Zürich. Und da ist natürlich das LAC in Lugano. Das ist zwar schön, scheint aber wie eine uneinnehmbare Festung für Tessiner Künstler – fast unmöglich für unsereins dort aufzutreten.

Im Tessin also weniger Kulturstress für Besucher. Gibt es auch Unterschiede, die ihr als Künstler auf der Bühne wahrnehmt?

Im Tessin kann man fast noch besser mehrsprachig auftreten, was ja unsere Spezialität ist. Die meisten Zuschauer hier verstehen von anderen Sprachen genug, um die Gags mitzukriegen. Ansonsten scheint uns das Publikum überall ähnlich: am Anfang höflich und zurückhaltend, später ausgelassener.

Unterschiede vonseiten der Veranstalter? Oder private?

Die Kleintheater in der Deutschschweiz programmieren viel weiter im Voraus. Im Tessin ist alles kurzfristiger und flexibler. Auch der Vorstellungsbeginn. Das entspricht wohl der Mentalität. Aber auch privat brauchst du hier keine Party früher als zwei Wochen vorher anzukünden. Handwerker kommen wann sie wollen – oder eben nicht. Autoregeln werden sehr kreativ interpretiert.

Und im Norden ist alles geregelter?

Wenn wir für Auftritte vom Tessin in den Norden fahren, haben wir oft das Gefühl, bereits im Unrecht zu sein, sobald wir aus dem Auto steigen: am falschen Ort geparkt, den falschen Abfalleimer benützt oder die falsche Person gefragt zu haben. Dafür sind die Gagen nördlichdes Gotthards ganz klar höher.

Was versprecht ihr euch von der neuen „Szene Schweiz“?

Fusionieren ist gut, Horizonte erweitern auch. Was uns im Moment aber hauptsächlich interessiert: wann dürfen wir wieder vor irgendwelchen Leuten auftreten?! – egal ob im Norden oder Süden.

MANUELA RIGO ist ausgebildete Balletttänzerin. Heute leitet sie als Tanzpädagogin ihre eigene Ballettschule in Taverne (TI). Ausserdem ist sie Präsidentin des Verbandes „Formazione Professione Danza (AFPDanza)“.

Manuela, als langjähriges TASI-Mitglied hast du aktiv an der Fusion zu „Scena Swizzera“ mitgewirkt. Was versprichst du dir davon?

Schon TASI war sehr wichtig für uns Tänzerinnen und Tänzer, um uns hier im Tessin eine gewisse Präsenz zu verschaffen. Jetzt hoffe ich, dass der Zusammenschluss zu „Scena Swizzera“ der hiesigen Tanzszene noch mehr Gelegenheiten gibt, sich auch über das Tessin hinaus zu zeigen.

Wie erlebst du die Tessiner Kulturlandschaft?

Im Tessin ist die Arbeit im künstlerischen Bereich ziemlich schwierig. Es ist schwer als professionelle, zeitgenössische Tänzerin oder Tänzer wahrgenommen zu werden. Kunst wird hier oft mit „Prestige“ verbunden, lokale Kompanien werden weniger unterstützt.

Was verstehst du unter Prestige?

Wir haben hier ein einziges grosses Theater „The LAC Theatre“ in Lugano, das vor allem Tänzer und Tänzerinnen mit „grossen Namen“ engagiert. Das Publikum scheint mehr an diesem Prestige als an Kultur generell interessiert zu sein. Und auch die Kulturpolitik hat wenig Ahnung und Interesse an der kleineren, freien Tanzszene. Das Tessiner Publikum braucht noch viel Erziehung in diesem Bereich. Aber ich habe Hoffnung.

Waren deine Erfahrungen mit dem deutschsprachigen Publikum denn da andere?

Ja, das Publikum in der deutschsprachigen Region scheint mir engagierter, wir bekommen da deutlich mehr Bestätigung für unsere Arbeit. Ich glaube wirklich, es liegt daran, dass man sich im Tessin immer noch eher an Metropolen wie Milano orientiert. Um der Fairness halber auch ein paar Deutschschweizer in einen Topf zu werfen: Was erzählt man sich im Tessin sonst so über das Publikum ennet des Gotthards? Man sagt, die Berner Zuschauer lachen über einen Scherz von Freitag irgendwann mal am Sonntagmorgen…