Brem nimmt’s ernst: Wer besitzt meine Bildrechte?

Die Rechtskolumne von Ernst Brem

Die meisten Mitglieder des SBKV und des TASI bzw. künftig der Szene Schweiz sind ausübende Künstler und Künstlerinnen, d.h. sie interpretieren künstlerische Werke z.B. als Sängerin, Schauspieler, Bühnenregisseurin oder Tänzer. Ein Teil von ihnen schafft auch neue urheberrechtliche Werke, z.B. als Bühnenbildner, Kostümbildnerin, Choreograf oder Drehbuchautorin. Einige Mitglieder interpretieren ihre selbst geschaffenen Werke etwa als Slampoetin oder Kabarettist.

Manchmal ist es nicht ganz leicht die Tätigkeit von Urhebern und ausübenden Künstlern voneinander abzugrenzen, da beide Tätigkeiten Ausdruck von Kreativität sind. Ausübende Künstler und Künstlerinnen üben ihre Kunst in einem festen zeitlichen Rahmen – beispielsweise auf der Bühne oder vor der Kamera aus. Der Urheber kann sie dagegen auch im stillen Kämmerlein ausüben, sie mit Papier und Bleistift festhalten und an andere kommunizieren.

Urheber oder ausübende Künstlerin? – der Kaffeepausencheck

Wer also während seiner künstlerischen Tätigkeit jederzeit eine Kaffeepause einschalten kann, ist wahrscheinlich ein Urheber und kein ausübender Künstler. Für die kollektive Verwertung der Urheberrechte sind die Urheberrechtsgesellschaften, insbesondere je nach Kunstfach  Suissimage, SSA und Pro Litteris zuständig. Für die ausübenden Künstler und Künstlerinnen zieht „Swissperform“ Geld von den Nutzern aufgezeichneter und/oder gesendeter Darbietungen ein. „Swissperform“ kümmert sich nicht um die Livedarbietung vor einem anwesenden Publikum, darum müssen Freischaffende selber besorgt sein. Der Arbeitsvertrag evtl. auch der Gesamtarbeitsvertrag regelt die Rechte und Pflichten der angestellten Bühnenmitglieder. „Swissperform“ kümmert sich auch nur am Rande um die Onlinerechte der ausübenden Künstler und Künstlerinnen. Wer also sein Publikum online zu erreichen sucht, muss sich ebenfalls selber um ein eventuelles Entgelt bemühen. Eine Mitgliedschaft bei der  Schweizerischen Interpreten Genossenschaft “SIG“ kann dabei helfen. Wer jedoch an einer auf einem publizierten Ton- oder Tonbildträger aufgezeichneten Darbietung mitwirkt oder an einer aufgezeichneten oder live ausgestrahlten Sendung beteiligtist, sollte unbedingt sofort Mitglied bei „Swissperform“ werden.

SIG oder Swissperform-Mitgliedschaft wäre sinnvoll

„Swissperform“ zieht von den Nutzern, z.B. den Sendeunternehmen, den Kabelunternehmen, den Wirten oder Herstellern von Speichermedien tariflicheVergütungen ein, welche sie an diejenigen Mitglieder verteilt, deren Leistungen genutzt werden. Das Mitgliedschaftsformular kann unter folgendem Link angefordert werden.

Wer an einem Film mitgewirkt hat, sollte unbedingt seine Darbietung in das Filmographie-Formular eintragen. Wichtig ist, dass alle Rubriken möglichst genau ausgefüllt werden und insbesondere auch angegeben wird, in welcher Funktion (z.B. Schauspielerin, Stunt, Sprecherin) manmitgewirkt hat.

Wer dagegen an einer gesendeten Darbietung beteiligt war, sollte überprüfen, wann und wie oft die Darbietung gesendet wurde. Die entsprechenden Nutzungen sollten spätestens bis zum 30. Juni des folgenden Jahres an die SIG gemeldet werden.

Weiss man mit diesen Formularen nicht mehr weiter, hilft ein Blick in die FAQs auf der Website:

Streaming: Das „Foyer-Gefühl“ lässt sich digital nicht reproduzieren

Theater ohne Theater

Es ist früher Samstagabend. Ich sitze auf dem Sofa, alleine. Meine Freundin hat wegen des schönen Wetters abgesagt, „Ist ja eh nur online, und die fünf Euro sind auch kein grosser Verlust“, hat sie gemeint. Eingewickelt in die Kuscheldecke, neben mir eine angebrochene Chips-Packung und ein leeres Rotweinglas. Die Zoom-Vorstellung ist zu Ende. Ich klatsche, aus Respekt vor der Leistung und Dank für das Engagement, für die Möglichkeit in dieser Zeit Kultur rezipieren zu dürfen. Ein spärlicher Applaus von Kameramenschen und Technik vor Ort ertönt über meine Laptop-Lautsprecher. Um dieser Peinlichkeit entgegenzuwirken, versuche ich noch lauter zu klatschen und komme mir gleichzeitig sehr albern vor. Ich schreibe also in den Chat „Bravo“ und „Danke“. Ich bin nicht die Einzige, alle wollen sich ausdrücken und mitteilen, es regnet Applaus-Smileys und Grüsse aus allen möglichen Städten. Dann klappe ich meinen Laptop zu, mein Theaterabend ist beendet.

Es fehlt so vieles beim Streamen von Live-Kultur. Aber damit müssen wir nun leben. Zumindest vorübergehend. Und es ist okay. Viele sind froh überhaupt Kultur machen und erleben zu dürfen.

Das Netz wird die neue Bühne

Als im März 2020 die Kulturhäuser wegen der Pandemie schliessen mussten, waren die Institutionen sowie Künstlerinnen und Künstler gezwungen neue Wege und Formen zu finden, mit ihrem Publikum in Kontakt zu bleiben. Da selten vor Ort, kreierte man eigene Podcasts, organisierte Online-Lesungen und Zoom-Workshops. Es fanden virtuelle Stadtführungen statt, man lancierte ein Sorgentelefon, zeigte alte Stückmitschnitte und bot später vermehrt auch extra konzipierte Live-Streaming-Vorstellungen an. Einige experimentierten mit neuen theatralen Formen im Netz.

Digitales Theater ist nichts Neues. Auch vor Corona hat man Theater gestreamt und mit digitalen Formen gespielt. Wir leben in einer Zeit von digitalen Entwicklungen. Dieser Wandel aber wurde durch die aktuelle Pandemie nun zusätzlich vorangetrieben.

Kopräsenz – von beiden Seiten vermisst

„Unter einer Aufführung versteht man ein Ereignis, bei dem zwei Gruppen, Zuschauer und Akteure, miteinander in Interaktion treten. Dieses Ereignis findet zu bestimmten Zeiten an einem bestimmten Ort statt, der sich nicht zwangsläufig in entsprechend etablierten Räumlichkeiten wie dem Theater befinden muss, und ist ein in besonderer Weise gegenwärtiges und flüchtiges Ereignis.“ – Wikipedia-Eintrag zu „Theateraufführung“

„Das digitale Produkt ist immer etwas Anderes als eine Liveaufführung vor Publikum. Es gibt da mediale und auch kinästhetische Diffrenzen“, sagt Tanzexpertin Prof. Dr. Christina Thurner.

Was in den heutigen digitalen Notlösungen am meisten vermisst wird, ist die Kopräsenz – und damit die Symbiose zwischen Darstellenden und Zuschauern. Vermisst wird sie von beiden Seiten.

Streaming – eine Herausforderung

Wie die Pandemie selbst, so stellt auch die Frage nach der Rezeption von Live-Kultur in diesen Zeiten eine Herausforderung dar – für Kunstschaffende, Produktion und Publikum.

Es war nichts Neues und doch hat die Pandemie ihm Aufmerksamkeit und Aufschwung verliehen; dem Netztheater. Wie Theater ohne Theater, digital und im Netz, funktioniert und welche Erfahrungen damit im vergangenen Jahr gemacht wurden, hierfür wird jetzt an verschiedenen Veranstaltungen Raum zum Austausch geboten.

„Jetzt käme ein grosser Zwischenapplaus , heisst es in Mitte einer Performance am Kleinkunst-Streaming-Festival „Streaming und Digitales Theater“(STREAM21). Für viele Darstellende ist es eine ungewohnte, oft unbefriedigende Situation, vor leerem Saal zu spielen, für ein Publikum, das man nicht sieht, nicht spürt.

„Bei einem Livestream muss man sich nicht nur vorstellen, was für eine Figur in welcher Geschichte man ist, sondern auch, dass jemand zuschaut und es somit überhaupt Sinn macht, dass man spielt.“, meint der Schauspieler Matthias Neukirch, der am Schauspielhaus Zürich „Frühlings Erwachen“ sowohl vor Publikum wie auch für den Live-Stream gespielt hat.

Schwierig wird es vor allem bei Bühnenformen, die auf nonverbale Kommunikation mit dem Publikum angewiesen sind: Wie zum Beispiel in der Comedy, wo man Gags und Timing an die Stimmung des Publikums anpasst und so den jeweiligen Abend individuell gestaltet. „Pointen reiben sich ja daran, wie das Publikum reagiert. Und das macht etwas mit dem Timing. Ist da niemand im Publikum, weiss man nicht mit wem man das Timing abgleichen könnte“, sagt Benjamin von Blomberg, Co-Intendant vom Schauspielhaus Zürich am STREAM21-Talk.

Flüchtiges Ereignis

Wenn das Publikum schon nicht im selben Raum wie die Darstellenden ist, kann man durch Gleichzeitigkeit (live) immerhin eine Empfindung des  gemeinsamen Erlebens herstellen. Mit Live-Stream bleibt auch das Gefühl, dass in jedem Moment immer noch etwas Ungeplantes passieren, etwas schief gehen könnte.

Interaktion – Gaming als Vorbild

„Was immer die Akteure tun, hat Auswirkungen auf die Zuschauer und was immer die Zuschauer tun, hat Auswirkungen auf die Akteure und die anderen Zuschauer.“  – Erika Fischer-Lichte

Abwesendes Publikum könne in einem Stream auch etwas bedeuten, wenn es live sei, meint von Blomberg. Wenn man sich anschaue, wie Gaming funktioniere, in welchem die Zuschauer ja nie nur zuschauen würden, sondern immer in irgendeine Art von Partizipation gerieten. Und so stellt sich für das Theater die Frage: Wie kann man über Format, ein Publikum, das nicht anwesend im Raum ist, über konkrete Aktion trotzdem präsent machen? Indem es eben die Handlung mitgestalten darf.

Von Blomberg glaubt auch, dass es da noch Dinge zu entdecken gäbe: „Aber die müssen weiter gehen, als nur das Medium zu nutzen – wie das zum Beispiel im Gaming schon benutzt wird.“ Er glaube daran, dass es eben nicht funktionieren würde, wenn man einfach das bewährte Format streamen und darauf hoffen würde, dass es sich ähnlich anfühlen würde.  Da müsste man schon einen Schritt weitergehen.

Judith Ackermann, Forschungsprofessorin für Digitale und Vernetzte Medien in der Sozialen Arbeit an der Fachhochschule Potsdam meint: „Man muss Theater ganzheitlich denken und dann die Besonderheiten der digitalen Kanäle angucken und überlegen, wie kann ich die bestmöglich als Elemente davon denken. Wie kann ich diese Inszenierung als Erfahrungsraum erweitern und zugänglicher machen?“

Die Kamera – eine neue Perspektive

Die Kamera ist schon länger auf der Bühne präsent als inszenatorisches Mittel. Nun aber wird sie zum Auge des Zuschauers, lenkt den Fokus und ermöglicht es, die Vorstellung aus verschiedenen Perspektiven zu erfahren. Brian Petchers (Kamera- und Schnittregie am Irish Repertory Theatre) meint: „Es ist einzigartig, ein Theaterstück auf die Leinwand zu übertragen. Komödiantisches und dramatisches Timing, visuelle Blickwinkel und Übergänge bekommen auf der Leinwand ein ganz anderes Leben und eine andere Rolle als in der Live-Show.“ Und das ist Herausforderung und Chance zugleich.

Aufwand, Kosten und Ticketpreise

Anfangs boten viele Theater ihre Produktionen und digitalen Angebote gratis an. Noch heute werden Streamings unter ihrem Wert verkauft. „Ist ja nur online.“ Aber auch digitale Formate kosten Geld, wenn sie aufwändig gemacht sind. Alleine für den Stream mussten am Schauspielhaus vier Kameramenschen und eine Live-Schnitt-Regie engagiert sowie Spezial-Technik dazu gemietet werden.

Engagement und Aufwand für Produktionen, werden durchaus ästimiert. So sind Zuschauer für Formate, die mehr als nur ein Mitschnitt aus dem Archiv sind, auch gerne bereit, dies im Ticketpreis zu honorieren. Gemäss einer Umfrage am STREAM21 sind sogar über die Hälfte bereit, gleichviel für einen Streamabend, wie für eine Vorstellung im Theater zu zahlen.

Da es an Erfahrung von Ticketrichtpreisen noch fehlt, und einige Zuschauer gegenüber dem Digitalen Theater noch etwas skeptisch sind, hat sich die Methode „Pay what you want“ als gute Möglichkeit erwiesen, einen ersten Eindruck zu bekommen, was das eigene Publikum zu zahlen bereit ist. Ausserdem gibt es Skeptikern eine Chance etwas Neues auszuprobieren.

Digitale Grenzenlosigkeit – eine Chance

Seit Jahren wird darüber debattiert, wie man Theater, auch für jüngere Generationen, zugänglicher machen kann. Digital Natives nun mit Netztheater da abzuholen, könnte eine Möglichkeit sein, sie für dieses Medium zu interessieren und vielleicht gemeinsam weiterzuentwickeln. Auch die Intendantin Annemie Vanackere, die am Berliner HAU die Online-Sparte „HAU 4“ aufbaut, sagt, das digitale Angebot könne die Chance sein, mit dem Klischee von Theater aufzuräumen – immer sitzen zu müssen, nichts zu verstehen und nicht auf das Handy gucken zu dürfen. Digitales Theater vermag aber nicht nur neue Publikumsschichten anzusprechen, wie solche, die sich zuvor eher scheuten, ins Theater oder in die Oper zu gehen, es erlangt auch geographisch eine grössere Reichweite. Ortsungebunden, ermöglicht es auch Menschen am Erlebnis teilzunehmen, die vielleicht nicht (selber) ins Theater kommen könnten.

Mit der Fusion von theatralen und digitalen Mitteln, sind auch die Spiel- und Erzählmöglichkeiten schier grenzenlos. Einige Theater haben bereits damit experimentiert, gewisse sind noch einen Schritt weiter gegangen: Das Augsburger Theater hat Virtual Reality für sich entdeckt und unterdessen bereits fünf 3D-Produktionen im Angebot.

Was bleibt, wenn die Theater wieder öffnen?

Auch wenn für gewisse Veranstalter „Corona-Nischenformate“ solche Nischen bleiben sollen, so hat eine Umfrage unter den grossen Häusern gezeigt, dass jene in den vergangenen Monaten durch das  Experimentieren-Müssen Formate entdeckt haben, die sie gerne auch nach der Öffnung weiterführen wollen. Einige wollen sich sogar auf weitere Erkundungstour im digitalen Feld begeben, in welchem die Grenzen des klassischen Theaters überschritten werden.

Hybridvorstellungen werden als mögliche Übergangslösungenfür April und Mai gesehen. Bettina Auge vom Opernhaus Zürich meint aber, auf die Dauer seien diese nicht finanzierbar. Das Schauspielhaus Zürich möchte, wenn Live-Streams, wieder eigene Formate dafür entwickeln. Auch für das Luzerner Theater gilt es noch die neuen Formate weiter zu erforschen, mit viel Ausprobieren und Kreativität. „Ob diese Angebote weiter einen Platz im Theater finden, wird sich zeigen“, meint die stellvertretende Intendantin Sandra Küpper und fügt abschliessend hinzu: „Wir freuen uns aber natürlich vor allem darauf, das Publikum möglichst bald wieder bei uns in unseren Räumen vor Ort begrüssen zu dürfen, denn das Theater lebt vom Livegedanken und der Versammlung von Menschen zur gleichen Zeit im gleichen Raum.“

* Silja Gruner, Dramaturgin vom auawirleben Theaterfestival Bern in einem Interview für STREAM21

Wer sich etwas tiefgreifender mit der Entwicklung von Netztheater befassen will: NETZTHEATER – Ein Sammelband in dem Praktiker/innen des Theaters sowie Beobachterinnen die neuesten Tendenzen beschreiben, spannende Experimente, veränderte Arbeitsweisen und wegweisende Produktionen vorstellen: Das Theater wird digital, wird Netztheater.
Herausgegeben von der Heinrich-Böll-Stiftung sowie Nachkritik in Zusammenarbeit mit Weltübergang.

Theater finden Notlösungen, neues Publikum wird generiert, es tun sich Grenzen auf. Was aber macht Streaming mit unserer Psyche? Hierzu hat  Ensemble mit dem Medienforscher Dr. Matthias Hofer gesprochen.

Dr. Matthias Hofer ist Oberassistent am Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung der Universit t Zürich (IPMZ), Abteilung „Media Psychology & Effects“.

Herr Hofer, welche emotionale Bindung gehen Schauspieler und Zuschauer bei einer normalen Live-Vorstellung miteinander ein?

Die Schauspielerinnen sind wohl in erster Linie damit beschäftigt, ihr Schauspiel aufzuführen oder mit eventuellen Nervositäten zu kämpfen (wobei ich hier niemandem zu nahetreten will). Bei besonders emotionalen Szenen erhalten sie bisweilen auditives Feedback aus dem Publikum. Solche kollektiven Emotionsausdrücke lassen die Darstellerinnen des Publikums gewahr werden und können mitunter ihren eigenen Ausdruck intensivieren – bewusst oder unbewusst. Da gibt es also ein Wechselspiel zwischen Publikum und Bühne.

Die Zuschauerinnen gehen wohl in erster Linie mit dem Stück (Plot, Bühnenbild, Inszenierung etc.) mit, empfinden Emotionen der Darstellerinnen nach oder identifizieren sich gar mit ihnen. Aber auch der soziale Kontext, bzw. das Mitpublikum spielt beim Erleben des einzelnen Zuschauers und bei der Bindung zwischen Publikum und Schauspielerinnen eine Rolle. Ein weiterer Prozess, der sich abspielt, ist die sogenannte parasoziale Interaktion. Nehmen Sie das Beispiel eines Kasperl-Theaters, bei dem die Kinder Kasperl vor einem nahenden Krokodil warnen. Solche Interkationen sind einseitig, d.h. sie werden von den Schauspielerinnen in der Regel nicht erwidert; daher wird die Interaktion auch als parasozial bezeichnet. Es fehlt das direkte Feedback von der Bühne auf das Interaktionsangebot aus dem Publikum. Man könnte sagen, dass die Bindung auf beiden Seiten nur implizit vorhanden ist; aber sie ist vorhanden.

Wie könnte man mit Streaming eine ähnliche Wechselwirkung erzeugen? Wie sieht das mit dem Gemeinschaftsgefühl aus? Reicht da Interaktion mittels Chatfunktion?

Denkbar wären Hologramme eines Publikums, aber das ist wohl eher Zukunftsmusik und es fragt sich, ob sich der Aufwand lohnen würde. Ein Gemeinschaftsgefühl über eine Chatfunktion, wie wir das bei YouTube oder Facebook-Live-Streams kennen, reicht da wohl nicht aus, um gleiches Erleben zu erzeugen. Buchstaben und Emojis können die Körperlichkeit kaum ersetzen und die soziale Präsenz nur unzureichend andeuten. Zudem haben wir bei solchen Chats das Problem der Ablenkung vom Geschehen auf der Bühne.

Ja, auf diese Ablenkung möchte ich noch eingehen: Nun sitzt man auf dem Sofa statt still in den Stuhlreihen, holt sich noch was aus dem Kühlschrank oder schreibt eine SMS. Wie wirkt sich diese Unverbindlichkeit und Unkonzentriertheit auf das Erlebnis und auf die Wertschätzung gegenüber der Produktion aus?

Solche Unterbrechungen stören natürlich die aufmerksame Rezeption. Die Ablenkung kann sich letztlich negativ auf das Unterhaltungserleben und die Wertschätzung auswirken.

Glauben Sie, dass es nach einem Tag voller Zoom-Meetings / intensiver Bildschirmzeit noch einem Ausgleich dienen kann, einen Theater-Stream zu schauen? Oder sind diese Einflüsse allenfalls zu ähnlich, als dass der Geist dabei entspannen kann?

Das ist eine gute Frage, auf die letztlich empirische Forschung eine Antwort geben könnte. Wenn wir aber davon ausgehen, dass ein Theater-Stream eher ruhig ist, könnte man hier schon von einer entspannenden Wirkung ausgehen. Auf der anderen Seite verbleiben wir vor dem Bildschirm; was darauf gezeigt wird, ist meines Erachtens unerheblich. Ein Spaziergang dürfte da mehr Entspannung bringen als ein Theater-Stream.

Was halten Sie selbst von Theater-Streams? Schauen Sie sich diese selber auch an?

Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich mir noch nie ein solches Streaming angeschaut habe. Ich finde es aber eine tolle Sache und zwar nicht nur in Zeiten einer Pandemie. Denken Sie etwa an Menschen, die in ihrer Mobilität eingeschr nkt sind und trotzdem gerne ein Theaterstück geniessen.

Auf SPECTYOU stehen Aufzeichnungen von Theaterstücken und neue Formate an der Schnittstelle zur Digitalität zu fairen Preisen zur Verfügung. Theater, Gruppen oder Solodarstellende können hier ihre Produktionen kostenlos hochladen oder als Livestream und Limited Stream anbieten und diese auf der Plattform mit den eigenen Profilen verknüpfen.

Illustrationen von Ch. Knecht aus

„Tellspiele 2020 – TELLEVISION“

Übers eigene Gärtli hinaus – Gemeinsam etwas erreichen

(bg) Seit Anbeginn der Pandemie setzt sie sich für einen Dialog zwischen Bund und dem Kultur- und Veranstaltungssektor ein und wurde zur wichtigsten Instanz für Kulturschaffende und -verbände: Die Taskforce Culture.

Ein schwieriges Jahr liegt hinter uns. Auch wenn wir erste Lockerungsschritte gehen konnten, sind wir gerade auch in der Kultur- und Eventbranche noch meilenweit entfernt von einer Realität, wie wir sie vor Corona kannten. Ungern erinnern wir uns an den Tag, als der Bundesrat mit einem Veranstaltungsverbot unsere Pläne und Lebensinhalte zerstörte. 280 Millionen Franken sollten dessen wirtschaftliche Auswirkungen auf den Kultursektor vorerst abfedern – unbürokratisch, gezielt und rasch.

280 Millionen Franken und jede Menge Fragen

Leider sah für viele die Realität anders aus und für Verbände, Kulturinstitutionen und Künstler und Künstlerinnen blieben existenzielle Fragen offen: Wer soll die Ausfallentschädigung einfordern? Der Veranstalter, die Künstlerin, die Agentur oder alle? Welche Aufwände können bei Veranstaltungen als finanzieller Schaden geltend gemacht werden? Sind die Gagen der Künstler und Künstlerinnen darin enthalten? Können auch weggefallene Engagements im Ausland abgerechnet werden? Wie wird mit Engagements in Verhandlung umgegangen, welche aufgrund des Verbots nicht abgeschlossen wurden? Wie erfolgt der Einbezug der Laienverbände durch das BAK, wie stellt das BAK sicher, dass man alle Bereiche der Laienkultur einbezieht? …

Austausch und Intervention

Angesichts dieser vielen Fragen, dem Bedürfnis nach Austausch und Intervention, bildete sich die verbandsübergreifende Taskforce Culture (ursprünglich Taskforce „Corona Massnahmen Kultur“). Sie vermittelt zwischen den zuständigen Verwaltungseinheiten und dem Kultur- und Veranstaltungssektor. Aktuell sind die fünf Dachverbände Suisseculture, Suisseculture Sociale, Cultura, Schweizer Musikrat und Cinesuisse sowie 37 weitere Vertreterinnen und Vertreter von Kulturverbänden in der Taskforce aktiv vertreten.

Ohne TFC total aufgeschmissen

„SzeneSchweiz“ ist nicht direkt in der TFC vertreten. „Damals ist alles dermassen explodiert, dass bei uns alle beschäftigt waren mit Feuerlöschen, Trösten und Beraten, dass sich da niemand gefunden hat, der Zeit hatte und extern noch ehrenamtlich den Verband hätte vertreten können“, sagt die Geschäftleiterin von „SzeneSchweiz“, Salva Leutenegger. „Wir waren froh, dass man uns aber stets direkt informiert hat – das war eine sensationelle Zusammenarbeit. Ohne die Beratung der Taskforce Culture wären wir total aufgeschmissen gewesen. „Die Taskforce Culture sei nicht nur aus Sicht der Verbände an der Front unabdingbar gewesen, sie sei innert Kürze auch zu etwas vom Wichtigsten für alle Kulturschaffenden geworden.“

„Ensemble“ hat sich mit den beiden Taskforce-Culture-Mitbegründerinnen Nina Rindlisbacher (SMR – Schweizer Musikrat) und Sandra Künzi (t. -Theaterschaffende Schweiz) unterhalten.

SANDRA KÜNZI lebt und arbeitet in Bern. Sie gehört zur ersten Generation des Schweizer Poetry Slams. Heute schreibt sie für Bühne, Radio und Papier. 2008 war sie Literaturstipendiatin der Stadt Bern in Glasgow, 2011 wurde ihr Theaterstück „Jazzy“ aufgeführt, 2013 erschien ihr erstes Buch „Mikronowellen“, 2014 erhielt sie die Auszeichnung „Weiterschreiben“ der Stadt Bern und 2017 ein Schreibstipendium des Kantons Bern für ihre Erzählung „Die Hülle“. Sie ist die Präsidentin des Verbandes t. theaterschaffende Schweiz und Mitglied der Task Force Culture, die sich seit Beginn der Corona-Krise für die Kulturszene einsetzt.

NINA RINDLISBACHER ist ausgebildete Pflegefachfrau und Juristin. Sie arbeitete zunächst im Gesundheitswesen und war dann mehrere Jahre als Juristin tätig, u.a. an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Fribourg. Nebenberuflich engagierte sie sich seit jeher im Kulturbereich. Sie arbeitete für Film- und Musikfestivals sowie für einen Konzertveranstalter in Bern. Sie spielt Querflöte und Piano und wirkte als Instrumentalistin und Sängerin im Verlaufe der Jahre in mehreren Musikprojekten mit. Seit Dezember 2017 ist sie für den SMR als Assistentin tätig und hat per 1. September 2018 die Leitung der Geschäftsstelle übernommen. Zudem gehört sie der Geschäftsleitung des SMR an. Sie ist Mitglied der Taskforce Culture.

Die Taskforce Culture ist ein Kind der Pandemie. Wie kam es dazu?

Die Taskforce Culture (TFC) ist ad hoc nach der ersten Anhörung von diversen Kulturverbänden durch das Bundesamt für Kultur BAK am 12. März entstanden: Verschiedene Verbände haben im Nachgang dazu eine gemeinsame Medienmitteilung verfasst, damals allerdings noch nicht als Taskforce Culture. Man realisierte schnell, dass die Lage für den Kultursektor existentiell bedrohlich war, gleichzeitig stellten sich enorm viele Fragen. Es war klar, dass es in dieser schwierigen Lage ein Austauschgefäss innerhalb des Kultursektors brauchte und man nach aussen gemeinsam auftreten musste, um politisch etwas zu erreichen. Die Leitungen liefen heiss und wer genau den definitiven Anstoss für die Gründung gab, ist im Nachhinein nicht mehr eindeutig auszumachen.

Wie schafft man es, so viele verschiedene Akteure in eine Organisation einzubinden und zu vertreten?

Von Anfang an war es wichtig, sich die Vielfalt des Kultursektors stets vor Augen zu halten. Deshalb funktioniert die TFC sparten- und verbandsübergreifend, operiert schweizweit aber immer innerhalb bestehender Verbandsstrukturen. Trotz genrebedingten Unterschieden gibt es Gemeinsamkeiten, die alle verbinden und dementsprechend auch  ähnliche Fragestellungen und Probleme.

Innerhalb der TFC trifft man sich wöchentlich. Was geschieht an diesen Sitzungen?

Die Treffen folgen einer Traktandenliste und dienen dem gemeinsamen Austausch, dem Sammeln und Kategorisieren von Problemen und Verteilen der Aufgaben. Themen sind beispielsweise der Vollzug der Unterstützungsmassnahmen oder die Öffnungsschritte, Aufgaben das Planen und Koordinieren der politischen Arbeit im Parlament oder von Medienmitteilungen.

Auch mit dem Bundesrat tauscht man sich regelmässig aus

Der Austausch mit Bundesrat Alain Berset erfolgt ungefähr alle zwei Monate, bisher haben drei Treffen stattgefunden. Sie fanden bisher nicht mit der gesamten Taskforce Culture statt, das EDI lädt jeweils nur ausgewählte Kulturverbände ein. Diese decken sich mehrheitlich mit denjenigen Vereinigungen, die in unserer Arbeitsgruppe aktiv sind. Die TFC versucht, diese Sitzungen zu koordinieren und im Vorfeld gemeinsame Standpunkte herauszuarbeiten.

Habt Ihr ein Motto oder einen Leitsatz für Eure Arbeit?

Immer für die Sache (Kultur) und immer über den eigenen Verband hinaus denken! Die TFC funktionierte bisher so gut, weil in unserer Arbeitsgruppe Leute mitarbeiten, die in der Lage sind, über das eigene Gärtli hinaus zu denken. Ich habe das Glück Präsidentin eines Verbandes zu sein, in dem sowohl Veranstaltende als auch Produzierende bzw. Kulturschaffende Mitglieder sind. Das ist anspruchsvoll und toll.

Was sind die bisher wichtigsten Meilensteine der Organisation?

Wir haben es geschafft, dass die kulturspezifischen Unterstützungsmassnahmen im Covid-19-Gesetz verankert wurden. Diese wurden zuerst vom Bundesrat in einer Verordnung festgehalten und mussten im Herbst 2020 vom Parlament ins Covid-19-Gesetz übernommen werden. Es war alles andere als sicher, ob diese Massnahmen ihren Weg ins Gesetz finden würden. Über 80 Kulturverbände und – Organisationen haben zusammen eine Stellungnahme für den schweizerischen Kultursektor erarbeitet und im Rahmen des Vernehmlassungsverfahrens eingereicht. Damit gelang in der kurzen Frist von drei Wochen ein starkes Zeichen. Wir konnten ebenfalls erreichen, dass auch Freischaffende Ausfallentschädigungen beantragen konnten, was zuvor nur für Selbstständige möglich war. Zudem konnten wir dazu beitragen, dass der Corona-Erwerbsersatz nicht nur den Selbstständigen offen steht, die wegen Betriebsschliessungen gar nicht arbeiten dürfen, sondern auch denjenigen, deren Erwerbstätigkeit massgeblich eingeschränkt ist.

Gibt es ein persönliches Highlight?

Ich fand es sehr befriedigend, als wir im Herbst 20 die mehrfach geforderte Sitzung mit Herrn Bundesrat Berset abhalten konnten. Ich hatte von Anfang an den Eindruck, dass ihm die schwierige Situation der Kultur und auch der Gastronomie absolut klar war. Man spürt aber auch, wie schwierig es für einen einzelnen Bundesrat ist, weil das Gremium als Einheit funktioniert. Und da liegen die Mehrheiten tendenziell nicht auf unserer Seite.

Was habt Ihr in der Zusammenarbeit mit dem Bund gelernt?

In der Session sind die Karten oft schon gemischt. Wenn man etwas erreichen will, muss man bereits viel früher ansetzen, nämlich in den parlamentarischen Kommissionen. Ausserdem sind persönliche Kontakte Gold wert und Vertrauen ist die Währung. In Bern läuft aktuell die Sommersession. Ab Juni gibt es neue Lockerungsschritte, gelten neue Massnahen.

Was ist Euer Standpunkt dazu?

Es braucht mehr Mittel für die Ausfallentschädigung und den Schutzschirm für grössere Anlässe. Nötig sind ausserdem mehr Finanzhilfe für die Kulturvereine im Laienbereich sowie die Verlängerung des Corona-Erwerbsersatzes. Eine Nicht-Erneuerung bedeutet für sehr viele Freischaffende der Super-Gau. Natürlich wünschen wir uns generell eine Verlängerung der Entschädigungsmassnahmen über Ende 2021 hinaus. Erstmal muss am 13. Juni aber das Covid-19-Gesetz angenommen werden. Wenn es abgelehnt wird, ist die Grundlage weg und wir stehen im Regen.

Wie verhält Ihr Euch konkret in Bezug auf die Abstimmung über das Covid-19-Gesetz?

Gerade haben wir wieder zwei Medienmitteilungen veröffentlicht, die nächste ist bereits im Entwurf. Ausserdem haben wir Abstimmungsempfehlungen an die Räte und Rätinnen versandt. Das ist sehr wichtig, aber auch aufwändig, weil man die Geschäfte genau kennen und studieren muss.

Bis vor Corona hat jeder (Dach-)Verband oft einzeln gekämpft und sich manchmal sogar gegenseitig konkurriert. Ist das „Zusammen stärker sein – gemeinsam mehr erreichen“ auch ein zukunftstaugliches Modell?

Unbedingt. Aber wie gesagt: Aus meiner Sicht steht und fällt es mit den beteiligten Menschen. Es braucht Schnelldenkende mit viel Knowhow und wenig Eitelkeit. Die TFC entstand beim Machen, sie ist informell und dennoch stark, weil sie aktiv ist und anpackt.

Alle Medienmitteilungen sowie die Auflistung der Mitglieder von Taskforce Culture und weiterführende Informationen finden Sie hier.

Covid-19-News für Kulturschaffende – Pro Kultur Kanton Zürich bietet einen Überblick.

„Kultur ist mein Beruf“

Eine Kampagne von SONART und Partner:innen, entstanden aus der Taskforce Romandie. „Wir Künstler und Künstlerinnen sind nur ein kleiner Teil der Eventbranche und die Erfolgreichen von uns werden diese Krise finanziell irgendwie überstehen. Aber es geht um alle anderen, welche hinter und vor den Kulissen die ganze Zeit dafür arbeiten, dass wir alle Kultur geniessen können.“

(Dabu Bucher von DABU FANTASTIC).

Es sind viele!

Sie sind Fachpersonen aus der Kulturszene. Sie haben sich, unabhängig von ihren unterschiedlichen Rollen und Interessen, zusammengeschlossen, um ihre Branche als Wirtschaftssektor zu verteidigen. Eine Branche, die 15 Milliarden Franken Umsatz macht. Jeder 10. Schweizer Betrieb zählt in irgendeiner Form zur Kultur- oder Kreativwirtschaft. Sie alle haben die Pandemie und die damit verbunden Massnahmen hart getroffen.

In einem Video machen bekannte Schweizer Bühnenkünstler:innen auf die Situation aufmerksam und bitten um Unterstützung. „Die Branche der auftretenden Künstler:innen war die erste, die runtergefahren wurde. Und es wird auch dieser Wirtschaftszweig sein, der als letztes wieder hochgefahren wird“, meint Manu Burkart (DIVERTIMENTO) und James Gruntz betont: „Kultur zu schaffen ist ein Beruf und unsere Arbeit ist systemrelevant.“

Mit der Kampagne fordern die Branchenvertreter von Bund und Kantonen:

• Unkompliziert zugängliche wirtschaftliche und kulturelle Massnahmen, die alle Berufsfelder der Kulturbrache erfassen

• Rasche Bearbeitung der Gesuche und Auszahlung gesprochener Gelder

• Einbezug der Verbände bei der Planung der Wiedereröffnung

• Bis sechs Monate nach Ende der Krise Unterstützungsmassen (Vorlaufzeit bis zu einem Normalbetrieb)

• Eine Weiterführung der ordentlichen Kulturförderungen ohne Kürzungen, mit auf die Situation angepassten Kriterien

Ihr Ziel: Verbindliche Planbarkeit mit Konzepten, für die Kulturbranche und Behörden gemeinsam einstehen und beim Publikum Vertrauen schaffen.

„Wir sind viele!“ – steht es gross und fett, weiss auf schwarz im Abschlussbild des Kampagnen-Viedos. Fachpersonen aus dem Kultursektor können sich auf der digitalen Wand der Website registrieren. Ein Zähler zeigt: 5601

(Stand 30.Mai).

Weitere Infos und Registrierung hier.

Nachruf Nicolas Baerlocher – Kulturbeamter mit Herz und Seele

Am 17. Februar ist Nicolas Baerlocher in Zürich gestorben. Mit ihm ist ein ganz grosser Kultur-Impresario von uns gegangen.

Solidarität war nie unkünstlerisch

11 Jahre lang war sie Präsidentin des Schweizerischen Bühnenkünstlerverbands. Auf die Delegiertenversammlung dieses Jahres wird Elisabeth Graf nun zurücktreten. Mit einem Abschiedsbrief wendet sie sich heute an Kolleginnen und Kollegen und die Mitglieder des SBKV.

Aufbruch in eine neue Ära

Die Delegierten von  SzeneSchweiz  haben einen neuen Präsidenten gewählt

(rs) Es war die erste Delegiertenversammlung von „Szene-Schweiz“. Sie stand ganz im Zeichen der Präsidentschaftswahl. Mit Matthias Albold und Martin Krämer empfahlen sich zwei sehr profilierte und durchaus unterschiedliche Kandidaten zur Nachfolge von Langzeitpräsidentin Elisabeth Graf.

Elf Jahre amtete Elisabeth Graf als Präsidentin des SBKV. In ihrem letzten Amtsjahr stemmte sich der Verband mit aller Kraft gegen die verheerenden Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Kulturbranche, gleichzeitig feierte er sein hundertjähriges Bestehen, fusionierte mit dem Tessiner Partnerverband TASI und gab sich den neuen Namen SzeneSchweiz. Elisabeth Graf hatte als SBKV-Präsidentin wahrlich aufregende Monate und Jahre hinter sich, nun sah sie den Moment für ihren Rücktritt gekommen. Zum letzten Mal richtete sie ihre „Worte der Präsidentin“ an die Delegierten, welche am 5. Juni im Volkshaus in Zürich tagten.

„Es braucht einen frischen Wind.“

Es sei richtig und wichtig, sagte Graf, dass der neue Verband „SzeneSchweiz“ nicht als erstes eine „Ex-SBKV-Präsidentin“ zur Wahl ins Präsidium vorgeschlagen bekomme. Es brauche nun frischen Wind und eine neue Energie im Verband. Aber auch ohne Fusion wäre sie zurückgetreten, betonte Graf, die den Fokus ihrer kurzen Rede vor allem auf ihre Arbeit bei der International Federation of Actors (FIA) richtete, wo sie einen Vorstandssitz innehatte. „Die FIA ist uns immer einen Schritt voraus“, sagte sie und meinte damit vor allem die Bemühungen um Diversität und Inklusion. Aufwand und Ertrag für einen Vorstandssitz bei der FIA rechne sich aber nicht, weshalb „SzeneSchweiz“ fortan nur noch ein einfaches Mitglied beim internationalen Schauspielerverband sein werde.

Laudatio für Elisabeth Graf

Im späteren Verlauf der DV würdigte Ernst Brem sen., der langjährige Syndikus des SBKV, die Arbeit von Elisabeth Graf. In seiner Rede strich er einige Eckpunkte ihrer Präsidentschaft heraus wie beispielsweise die Gründung der Umschulungsstiftung SSUDK oder die Revision des Urheberrechts. Er bezeichnete den Verband als Schiff, das in den vergangenen Jahren in gefährlichen Gewässern unterwegs war, und Elisabeth Graf als Kapitänin, welche die drohenden Gefahren rechtzeitig erkannte und sich nie scheute, unangenehme Fragen zu stellen. „Dank dir hatte der Verband ein menschliches und vertrauenswürdiges Gesicht“, sagt Brem an Elisabeth Graf gewandt.

Rückblick auf das vergangene Jahr

Nach den Worten der Präsidentin folgte der Jahresbericht der Geschäftsleiterin Salva Leutenegger. Sie griff drei wichtige Punkte heraus. Erstens und kaum überraschend die Auswirkungen der Corona-Pandemie: Aufgrund der weltweiten Gesundheits- und Wirtschaftskrise sah sich der SBKV mit einer enormen Beratungswelle konfrontiert, war aber in der Lage, schnell zu reagieren. Man stellte 50’000 Franken für Darlehen an die Mitglieder zur Verfügung (maximal 1000 Franken pro Mitglied). Insgesamt zwölf Mitglieder hätten dieses Angebot genutzt. Nachdem unter dem Dach von „Suisseculture“ die „Taskforce Culture“ gegründet worden war, kämpfte der Verband im engen Austausch mit Kantons- und Bundesämtern für bessere Unterstützungsmassnahmen und lieferte seinen Mitgliedern laufend aktuelle Informationen.

Rechtsgutachten bezeichnet Pandemie-Klauseln als nichtig

Den zweiten Punkt, den Salva Leutenegger aus dem Geschäftsbericht aufgriff, war ein Gutachten, welches der SBKV bei Rechtsprofessor Thomas Geiser in Auftrag gegeben hatte. Dabei ging es um die Klärung der Frage, ob es zulässig war, dass die Anstellungsverträge von Darsteller:innen plötzlich Zusatzklauseln enthielten, welche die Arbeitgeber:innen im Falle einer Pandemie von der Lohnfortzahlungspflicht entbinden sollten. Das Gutachten habe klar bestätigt, dass solche Klauseln nichtig seien. Die Lohnfortzahlungspflicht sei ein zwingendes Recht und könne selbst dann nicht abgeändert werden, wenn die Arbeitnehmer:innen entsprechende Verträge unterschrieben hätten. Der SBKV stellte das Gutachten allen Schweizer Berufsverbänden gratis zur Verfügung.

Kehrtwende bei den Mitgliederzahlen

Der dritte Punkt war ein Rückblick auf die Arbeit der Geschäftsstelle in Zürich. Leutenegger lobte das enorme Engagement der beiden Angestellten Zineb Benkhelifa und Joëlle Turrian, welche menschlich wie fachlich ein grossartiges Team bildeten und im vergangenen Krisenjahr Unmögliches geleistet hätten. Erfreulich sei auch der Aufschwung bei den Mitgliederzahlen. Insbesondere viele jüngere Freischaffende seien dem Verband im vergangenen Jahr beigetreten.

Margit Huber ist Sektionsleiterin fürs Tessin

Nach Salva Leutenegger blickte auch die neue „Sektionsleiterin Tessin“ auf das vergangene Jahr zurück. Es handelt sich dabei um die ehemalige Geschäftsleiterin von TASI Margit Huber. Sie berichtete davon, dass im Tessin im vergangenen Jahr eine kantonale Berufsschule für zeitgenössischen Tanz mit integrierter Berufsmatura gegründet wurde. Ausserdem habe das Fernsehen der italienischsprachigen Schweiz (RSI) den darstellenden Künstler:innen im Tessin eine digitale Plattform zur Verfügung gestellt, um die Sichtbarkeit von Kunst und Kultur auch während der Pandemie zu gewährleisten. Das Echo auf diese Initiative des abtretenden RSI-Direktors Maurizio Canetta sei sehr gross gewesen. Insgesamt habe die Gründung von „SzeneSchweiz“ der Verbandsarbeit im Tessin neuen Schwung gegeben. „In diesem Sinne wollen wir weiterarbeiten“, sagte Margit Huber.

Zwei versierte Präsidentschaftkandidaten

Nach dem ausführlichen Rückblick auf das vergangene Jahr, galt es, nach vorne zu schauen und einen neuen Präsidenten für „SzeneSchweiz“ zu wählen. 23 anwesende Delegierte der verschiedenen Orts- und Regionalgruppen hatten die Wahl zwischen Matthias Albold (Schauspieler am Theater St. Gallen) und Martin Krämer (Chorsänger am Theater Basel). Die beiden langjährigen Vorstandsmitglieder des SBKV präsentierten sich den Anwesenden in einer kurzen Ansprache. Martin Krämer lobte seinen Konkurrenten in den höchsten Tönen, sagte aber, dass er gegen aussen aggressiver auftreten würde als Albold. Gleichzeitig bezeichnete sich Krämer als „professionellen Gruppenmensch“. Albold sagte, dass sich der SBKV in den vergangenen Jahren zu sehr mit sich selbst beschäftigt hätte. „Die Arbeit an und für unsere Kunden wurde vernachlässigt.“ Insbesondere wolle er sich um die Bedürfnisse der Freischaffenden kümmern. Beide bezeichneten ausserdem die Annäherung an die Romandie als zentrales Anliegen.

Matthias Albold ist der erste gewählte Präsident von „SzeneSchweiz“

Matthias Albold schien die Delegierten mit seinem Auftritt mehr zu überzeugen. Mit einem deutlichen Vorsprung von 16 zu 7 Stimmen wurde er zum neuen Präsidenten von SzeneSchweiz gewählt. Sichtlich gerührt bedankte er sich bei den Anwesenden für das ausgesprochene Vertrauen. „Messt mich an den Dingen, die ich angekündigt habe“, sagte er fast demütig, und zu seinem Konkurrenten Martin Krämer gewandt: „Ich brauche dich!“ Krämer war der erste, der Albold herzlich zu seinem neuen Amt gratulierte.

Neue Vorstandsmitglieder

Nebst einem neuen Präsidenten wählten die Delegierten auch drei neue Mitglieder in den Verbandsvorstand. Es sind dies die ehemaligen TASI-Mitglieder Manuela Rigo und Igor Mamlenkov aus der Sektion Tessin und aus der Regionalgruppe der Freischaffenden Zürich, Aargau, Mittelland, Ost- und Zentralschweiz der Schauspieler Martin Ostermeier.

Die Liste der Verstorbenen

Nach dem ganzen Wahlprozedere ging es zurück zur Tagesordnung. Die Delegierten hatten über einen Antrag der Regionalgruppe der Freischaffenden Zürich, Aargau, Mittelland, Ost- und Zentralschweiz zu beraten, der vom Verbandsmagazin „Ensemble“ verlangte, die Namen der verstorbenen Bühnenkolleg:innen abzudrucken. Da der Antrag zu wenig präzise formuliert war, musste das genaue Anliegen zuerst erörtert werden, denn längst ist es Usus, dass verstorbene Verbandsmitglieder im Ensemble einen Nachruf bekommen. Man einigte sich schliesslich darauf, dass im Ensemble einmal jährlich eine Liste aller verstorbenen Bühnenkolleg:innen (Mitglieder und Nichtmitglieder) abgedruckt wird. Verantwortlich für diese Liste ist die antragstellende Regionalgruppe.

Lebhafter Erfahrungsaustausch

Im Anschluss gab es für die Delegierten noch Zeit, um ihre schriftlich eingereichten Orts- und Regionalgruppenberichte mündlich zu ergänzen, was zu einem lebhaften Erfahrungs- und Meinungsaustausch führte. Mit einem grossen Dank an alle Anwesenden und insbesondere an Zineb Benkhelifa und Joëlle Turrian, welche für eine reibungslose Organisation der DV verantwortlich waren, beendete die scheidende Präsidentin Elisabeth Graf die Sitzung.

Nicht nur den Namen abstreifen

Kommentar zur Delegiertenversammlung von Rolf Sommer

Es war eine denkwürdige DV, welche am 5. Juni im Volkshaus Zürich stattfand. Nicht nur war es die erste offizielle DV unter dem neuen Namen „SzeneSchweiz“, sondern es war auch die letzte DV unter dem Vorsitz von Elisabeth Graf. Auf den neu gewählten Präsidenten Matthias Albold sowie auf den neu zusammengesetzten Vorstand warten grosse Herausforderungen. Nach dem Zusammenschluss mit TASI muss sich SzeneSchweiz dringend auf die Romandie ausrichten, um gegenüber dem Bundesamt für Kultur (BAK) eine gesamtschweizerische Tätigkeit vorweisen zu können und damit wieder in den Genuss von Fördergeldern zu kommen. Ausserdem muss der Verband endlich beweisen, dass er im Stande ist, etwas gegen den schleichenden Zerfall der Werbe- und Filmgagen zu unternehmen. Das würde den Mitgliedern weit mehr dienen als die 50’000 Franken teure Festschrift, welche mitten im Corona-Jahr als Jubiläumsgeschenk verteilt wurde. Matthias Albold hat recht, wenn er sagt, dass sich der SBKV in den vergangenen Jahren zu sehr mit sich selbst beschäftigt hat. Damit muss nun Schluss sein. SzeneSchweiz muss sich mit frischen Ideen „in Szene setzen“, seine Regionalgruppen neu beleben, seine Präsenz in den sozialen Medien ausbauen, die Lobbyarbeit professionalisieren und insbesondere die Interessen der Freischaffenden vermehrt ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellen, welche inzwischen Dreiviertel aller Mitglieder stellen, aber im Vorstand immer noch untervertreten sind. Es würde dem Verband guttun, nicht nur seinen alten Namen abzustreifen sondern auch sein angestaubtes Image.

MEMENTO MORI

Die Namen der verstorbenen Berufskolleg:innen, derer an der DV gedacht wurde:

Barbara Magdalena Ahren (71), Ennetbaden, Schauspielerin, freischaffend

Nicolas Baerlocher (82), Zürich, Kultur-Impresario

René Blum, Bern (86), Schauspieler, freischaffend

Nicolai Mylanek (81), Zürich, Schauspieler, freischaffend

Liselotte Zinder (70), Laufenburg, Schauspielerin, freischaffend

CIAO TASI!

(dh) „Warum braucht ein Deutschschweizer gleich vier Aspirin? – für jede Ecke seines Kopfes eins!“ feixt der Tessiner – während er unter Palmen Risotto löffelt und sein Auto im Halteverbot steht. Nach der Fusion mit dem Tessiner Verband TASI sind wir nun also zusammen „Szene Schweiz“ – „Scena Svizzera“. Das „Ensemble“ hat mit fünf ehemaligen TASI-Mitgliedern über Unterschiede in der Kultur, Klischees und über die Fusion gesprochen.

IGOR MAMLENKOV ist freischaffender russischer Künstler, Clown und Schauspieler. An der Accademia Dimitri hat er seinen Master in „Physical Theatre“ gemacht und währenddessen seine eigene Theatergruppe „Domovoi Theatre Company“ gegründet. Ausserdem hat er dieses Jahr den Tessiner Kulturverein „Blue Selyodka“ ins Leben gerufen.

Igor, als freischaffender Künstler im Tessin hast du natürlich dem TASI angehört. Was hat dir diese Mitgliedschaft bis jetzt gebracht?

Ha! Was für eine Frage! TASI war für mich eine Art Lebensretter, als ich während des ersten Lockdowns in eine Schöpfung geraten bin.

Du bist in eine Schöpfung geraten?

Ja, ich war gerade im kreativen Prozess einer neuen Produktion. Das Proben, die Trainings und das ganze Erarbeiten – zusammen mit dem Familienleben in einem Haus – war für mich eine tägliche Herausforderung. Es war nicht einfach! Da war TASI für mich wie eine Oase, wo ich Rat, Hilfe und Informationen bekommen konnte. Es war wichtig, einen Ort ausserhalb des Hauses und professionelle Mitarbeit zu haben.

TASI und SBKV haben zu „Scena Svizzera“ fusioniert. Hast du davon gehört?

Ma chiaro habe ich davon gehört! Und ich bin sehr froh darüber. Wir freuen uns immer über neue Kontakte und Kooperationen. Der Zusammenschluss mit dem SBKV wird hoffentlich unsere Rechte als Künstler stärken und vielleicht auch neue Bekanntschaften ermöglichen.

Wie erlebst du die Tessiner Theaterszene?

Das Tessin ist ein kleiner Ort und die Anzahl der Theater, Zuschauer und Festivals ist sehr begrenzt. Die Festivals „Artisti di strada“ und „Longlake“ unterstützen Zirkuskünstler, „Physical theatre“ und Künstler im „Dimitri-Stil“. Aber ich mag auch das „Scollandino“, wo Familien mit einer Art Wanderkarte von Ort zu Ort marschieren, sich dort eine Show ansehen, etwas essen können und dann weiterwandern. Sowas gefällt mir.

Hast du auch Erfahrungen in der deutschsprachigen Schweiz gemacht?

Ja. Es gibt viel weniger Probleme mit Kunden, die versuchen, den Preis zu senken. Da ich aber während meiner Show nicht spreche, merke ich sonst keine Unterschiede zwischen dem Tessin und dem Rest der Schweiz. Unterschiede zeigen sich eher in den verschiedenen Arten des Publikums, je nach Anlass. Und die sind wieder überall gleich – weltweit.

DAVIDE GAGLIARDI ist ein Tessiner Schauspieler und Sprecher. Er spielt in verschiedenen Tessiner Theatergruppen und arbeitet für „Lugano Turismo“, wo er theatralische Führungen in mehreren Sprachen anbietet. 2020 gründete er sein eigenes „Teatro Lunaparco“ mit der Idee, seine Stücke in der ganzen Schweiz zu zeigen.

Davide, du hast bestimmt von unserer Fusion gehört, was sagts du dazu?

Ja, ich freue mich darüber! Dadurch fühle ich mich der Deutschschweiz noch näher und hoffe natürlich, dass ich mein eigenes Stück dann hier auch einfacher verbreiten kann. Ich werde es auf Deutsch übersetzen.

Ein grosser Vorteil, Deutsch zu sprechen?

Ja, ich bin heute sehr froh, dass ich in der Schule fleissig Deutsch gelernt habe. Dadurch ergab sich die Zusammenarbeit mit der „Piccola Commedia dell’Arte“ in Zürich, wo ich ungezwungen in Deutsch und Italienisch spielen konnte. Und auch das „Teatro Paravento“, wo ich seit Jahren regelmässig auftrete, ist nur auf mich zugekommen, weil sie jemanden suchten, der Deutsch spricht. Im Tessin gibt es zwar für Publikum viele Angebote, für uns Schauspieler aber weniger Möglichkeiten.

Woran mag das liegen?

Mein Gefühl ist, dass sich die Theaterszene im deutschsprachigen Raum viel mehr kreatives Risiko „erlauben“ darf. Es gibt mehr Publikum, mehr Geld, daher kann man sich „mehr trauen“ und anders produzieren. Im Tessin haben die kleineren Produktionen viel weniger Geld zur Verfügung.

Wenn du dein Stück in der Deutschschweiz zeigen willst, wirst du dich da auch mehr trauen, oder was sind deine Erfahrungen mit unserem Publikum?

Ich muss zugeben, dass ich überrascht war, als ich zum ersten Mal in Basel in einem kleinen, überfüllten Theater sass und gesehen habe wie das Basler Publikum über eigene Klischees und sich selbst gelacht hat! Unsere Meinung im Süden ist oft: „Ach, die im Norden nehmen immer alles todernst“. Ich habe mich vom Gegenteil überzeugt – auch Deutschschweizer können lachen, und wie!

Gibt es sonst noch Klischees zu bereinigen?

Naja, von wegen Tessiner seien immer laut: Im Ruheabteil der SBB sind es oft Zürcher, die direkt unter dem Schild „Bitte nicht telefonieren“ ins Handy brüllen. Ich sage nie etwas, denke aber „eigentlich sind ja alle gleich“.

MELANIE HÄNER ist Sängerin, Regisseurin und Gesangslehrerin. Mit ihrem Pianisten tritt sie regelmässig als „Imàgo Duo“ in Italien und im Tessin auf. 2014 gründete sie das Theater „lo Sgambetto“ in Malcantone. Zur Zeit arbeitet sie an einem eigenen Musical zum Thema Immigration.

Melanie, wir reden vom Tessin, von Kultur, da hast du was auf dem Herzen.

Ja! Die Tessiner halten die Deutschschweizer ja manchmal für ein bisschen arrogant, weil sie hierher kommen, Deutsch sprechen und erwarten, dass jeder sie versteht. Sie scheinen die „Herren der Welt“ zu sein. Das hat aber bloss damit zu tun, dass das Tessin im Vergleich zur restlichen Schweiz viel kleiner ist und viel mehr kämpfen muss, um gehört zu werden.

Auch in der Kunst?

Gerade da! Das Tessin ist voller Überraschungen, die gehört und entdeckt werden sollten. Es gibt hier viele Künstler und Kunsthandwerker, die etwas versteckt arbeiten und Projekte fernab der Städte schaffen. Diese kleinen, unabhängigen Kunstprojekte sind äusserst wertvoll. Tief mit der Landschaft verbunden, repräsentieren sie unsere Kultur und Tradition.

Du sprichst aus eigener Erfahrung?

Ja, wenn man in der italienischen Schweiz aus der Stadt herauskommt und sich der Natur nähert, wird man viele kleine Kulturstätten entdecken, geführt von einfachen Menschen, die der Kunst eine Stimme geben wollen. Diese „Kunstsalons“ müssten unbedingt von den Behörden wahrgenommen und unterstützt werden, denn leider drohen sie sonst zu verschwinden. So ein kleines Theater haben auch wir in Malcantone geschaffen, „lo Sgambetto“.

Auch ohne Geld?

Ja. Und ich verstehe den Grund dafür noch immer nicht. Wir haben da jahrelang Theater- und Musikfestivals veranstaltet, ganz ohne öffentliche Gelder. Ich glaube, dem Kanton und den Gemeinden mangelt es einfach an Interesse und darum an Aufmerksamkeit. Das macht mich am meisten traurig.

Du meinst, Kultur wird im Tessin primär im kommerziellen Sinne und in den Städten gefördert?

Der Stolz des Tessins ist das LAC in Lugano: ein wunderbares kulturelles Zentrum und ein Ort, der sicher in seiner ganzen Grösse unterstützt werden sollte. Aber ich möchte einen Appell aussprechen: Vergessen wir die kleinen Bühnen nicht! Diejenigen, die sowohl den Strassenartisten als auch den internationalen Künstlern Raum und Stimme geben.

HENRY CAMUS und GABY SCHMUTZ sind seit rund dreissig Jahren als

„Duo Full House“ international zusammen unterwegs. Ihre Action-Comedy Show führen sie in mehreren Sprachen auf. Als Gastkomiker sind sie u.a. im Zirkus Knie und beim Humor Festival Arosa aufgetreten.

Ihr seid viel unterwegs, wohnt aber in Ascona. Wie erlebt ihr die Tessiner Kulturszene?

Sie ist vielseitig, es läuft immer etwas: Konzerte und Theater mit lokalen aber auch mit bekannten internationalen Künstlern. Man verpasst ab und zu etwas, hat aber nicht so einen Kulturstress wie etwa in Zürich. Und da ist natürlich das LAC in Lugano. Das ist zwar schön, scheint aber wie eine uneinnehmbare Festung für Tessiner Künstler – fast unmöglich für unsereins dort aufzutreten.

Im Tessin also weniger Kulturstress für Besucher. Gibt es auch Unterschiede, die ihr als Künstler auf der Bühne wahrnehmt?

Im Tessin kann man fast noch besser mehrsprachig auftreten, was ja unsere Spezialität ist. Die meisten Zuschauer hier verstehen von anderen Sprachen genug, um die Gags mitzukriegen. Ansonsten scheint uns das Publikum überall ähnlich: am Anfang höflich und zurückhaltend, später ausgelassener.

Unterschiede vonseiten der Veranstalter? Oder private?

Die Kleintheater in der Deutschschweiz programmieren viel weiter im Voraus. Im Tessin ist alles kurzfristiger und flexibler. Auch der Vorstellungsbeginn. Das entspricht wohl der Mentalität. Aber auch privat brauchst du hier keine Party früher als zwei Wochen vorher anzukünden. Handwerker kommen wann sie wollen – oder eben nicht. Autoregeln werden sehr kreativ interpretiert.

Und im Norden ist alles geregelter?

Wenn wir für Auftritte vom Tessin in den Norden fahren, haben wir oft das Gefühl, bereits im Unrecht zu sein, sobald wir aus dem Auto steigen: am falschen Ort geparkt, den falschen Abfalleimer benützt oder die falsche Person gefragt zu haben. Dafür sind die Gagen nördlichdes Gotthards ganz klar höher.

Was versprecht ihr euch von der neuen „Szene Schweiz“?

Fusionieren ist gut, Horizonte erweitern auch. Was uns im Moment aber hauptsächlich interessiert: wann dürfen wir wieder vor irgendwelchen Leuten auftreten?! – egal ob im Norden oder Süden.

MANUELA RIGO ist ausgebildete Balletttänzerin. Heute leitet sie als Tanzpädagogin ihre eigene Ballettschule in Taverne (TI). Ausserdem ist sie Präsidentin des Verbandes „Formazione Professione Danza (AFPDanza)“.

Manuela, als langjähriges TASI-Mitglied hast du aktiv an der Fusion zu „Scena Swizzera“ mitgewirkt. Was versprichst du dir davon?

Schon TASI war sehr wichtig für uns Tänzerinnen und Tänzer, um uns hier im Tessin eine gewisse Präsenz zu verschaffen. Jetzt hoffe ich, dass der Zusammenschluss zu „Scena Swizzera“ der hiesigen Tanzszene noch mehr Gelegenheiten gibt, sich auch über das Tessin hinaus zu zeigen.

Wie erlebst du die Tessiner Kulturlandschaft?

Im Tessin ist die Arbeit im künstlerischen Bereich ziemlich schwierig. Es ist schwer als professionelle, zeitgenössische Tänzerin oder Tänzer wahrgenommen zu werden. Kunst wird hier oft mit „Prestige“ verbunden, lokale Kompanien werden weniger unterstützt.

Was verstehst du unter Prestige?

Wir haben hier ein einziges grosses Theater „The LAC Theatre“ in Lugano, das vor allem Tänzer und Tänzerinnen mit „grossen Namen“ engagiert. Das Publikum scheint mehr an diesem Prestige als an Kultur generell interessiert zu sein. Und auch die Kulturpolitik hat wenig Ahnung und Interesse an der kleineren, freien Tanzszene. Das Tessiner Publikum braucht noch viel Erziehung in diesem Bereich. Aber ich habe Hoffnung.

Waren deine Erfahrungen mit dem deutschsprachigen Publikum denn da andere?

Ja, das Publikum in der deutschsprachigen Region scheint mir engagierter, wir bekommen da deutlich mehr Bestätigung für unsere Arbeit. Ich glaube wirklich, es liegt daran, dass man sich im Tessin immer noch eher an Metropolen wie Milano orientiert. Um der Fairness halber auch ein paar Deutschschweizer in einen Topf zu werfen: Was erzählt man sich im Tessin sonst so über das Publikum ennet des Gotthards? Man sagt, die Berner Zuschauer lachen über einen Scherz von Freitag irgendwann mal am Sonntagmorgen…