Publikumsschwund und freie, kritische Kunstbetrachtung in Gefahr

Im Februar erreichen die Redaktion zwei Meldungen aus Österreich und Deutschland, die das Theater betreffen und nicht gerade Wohlbehagen auslösen – eine kurze Zusammenfassung der Ereignisse.

„Am Rande einer Ballettpremiere hat der Chefchoreograph und Direktor des Staatsballetts Hannover unsere Tanzkritikerin zunächst verbal und dann auch physisch attackiert. Ein Angriff auf die freie, kritische Kunstbetrachtung generell.„, meldete die Frankfurter Allgemeine am 12. Februar.

Dieser Lead ist dem Artikel „Eklat in Hannover – Attacke auf unsere Tanzkritikerin“ entnommen, und erklärt, wie es zum Vorfall zwischen dem  Chefchoreograph und Direktor des Staatsballetts Hannover, Marco Goecke, und der Tanzkritikerin Wiebke Hüster zunächst verbal und dann auch physisch mit einem Angriff mit Exkrementen kam.

In Zeiten, in denen im Kunstbetrieb Sensibilität und Achtsamkeit auf allen Ebenen proklamiert wird, ist das eine besondere Perfidie.

Frankfurter Allgemeine Zeitung

„Die bewusste Herabsetzung und Erniedrigung, die aus der vorbereiteten Exkrementen-Attacke hervorgeht, nehmen wir sehr ernst. Sie zeugt vom fatalen Selbstverständnis einer Persönlichkeit in hoch subventionierter Leitungsfunktion, die meint, über alle kritische Beurteilung erhaben zu sein und sich ihr gegenüber im Zweifelsfall auch durch Anwendung von Gewalt ins Recht zu setzen. In Zeiten, in denen im Kunstbetrieb Sensibilität und Achtsamkeit auf allen Ebenen proklamiert wird, ist das eine besondere Perfidie.“ schreibt die Frankfurter Allgemeine Zeitung.

Die Konsequenzen sehen folgendermassen aus:

„Die Intendantin der Oper Hannover, Laura Berman, teilte auf Anfrage dieser Zeitung mit, dass die Staatsoper Hannover über den Vorfall „schockiert“ sei und nun „arbeitsrechtliche Konsequenzen gegenüber Ballettdirektor Marco Goecke prüfen“ werde.“

Und:

„Frank Rieger, Landesvorsitzender des Deutschen Journalisten-Verbandes in Niedersachsen, forderte eine deutlichere Reaktion: „Die Erklärung der Staatsoper zu dem Vorfall ist völlig unzureichend, denn der Angriff auf die Journalistin der F.A.Z. ist auch eine Attacke auf die Pressefreiheit.“


„Auf eine 16-Jährige kommen zwei bis drei 60-Jährige: Der demografische Wandel hat auch den Kulturbetrieb erfasst. Ist Publikumsschwund in Theater, Oper oder Kino aufzuhalten?“, schrieb der Standart im Artikel „Kultur und Demografie: Wenn die Jungen nicht mehr ins Theater gehen“, ebenfalls am 12. Februar.

„Der Kulturbetrieb – in dem in Österreich 160.000 Menschen arbeiten – hat den akuten Covid-Stresstest relativ gut überstanden.“

Linke beklagen konservative Strukturen, Konservative wettern gegen linkes Regietheater.

Der Standart

„Und dennoch: Gerade im Theaterkontext wird die Publikumskrise in den letzten Monaten kontrovers diskutiert, oft werden ästhetsche Gründe heraufbeschworen: Linke beklagen konservative Strukturen, Konservative wettern gegen linkes Regietheater. Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer (Grüne) verteilt Beruhigungspillen und lässt eine Studie erstellen. Im März soll sie fertig sein.“

Als mögliche Gründe werden der demografische Wandel genannt, der alle Bereiche der Gesellschaft erfasse und den Kulturbetrieb vor strukturelle Probleme stellt. Wegen der Überalterung des Publikums, würden die Plätze im Theater frei bleiben und das Programm so, wie es bisher gewesen sei: Auf eine heute 16-jährige Person kämen zwei bis drei 60-Jährige. Hinzu kommt das digitale Konkurrenzangebot durch Streaming, Tendenz steigend! Weitere Begründungen lauten:

„Der Kulturwissenschafter Thomas Renz vom Berliner Institut für Kulturelle Teilhabeforschung kennt die Problematik. Zwar werde das Digitale nicht als 1:1-Ersatz dem Live-Erlebnis vorgezogen, dieser Schluss wäre zu einfach; aus Untersuchungen wisse man aber, dass junge Menschen Kulturangebote heute generell in deutlich geringerem Ausmaß wahrnehmen als noch vor 30–40 Jahren. Digitale Zeitfresser spielen dabei eine Rolle.“

Das, was im Digitalen nicht vorkommt, wird häufig im Analogen gar nicht wahrgenommen.

Und:

„Die Soziologin Susanne Keuchel weiß aus Befragungen, dass bei jungen Menschen „absolutes Unverständnis darüber herrscht, wenn ein Kulturangebot nicht im Netz abrufbar ist. Das, was im Digitalen nicht vorkommt, wird häufig im Analogen gar nicht wahrgenommen.“ Zu bedenken gibt Keuchel auch, dass heutige 16-Jährige 20 Prozent ihres Lebens im digitalen Totalrückzug während der Pandemie verbracht haben. Kein Wunder, dass das Spuren hinterlässt.“

Kleine Einrichtungen schaffen sich so ihre Nischen, große privatwirtschaftliche Player wie Streamingplattformen bringen die Nische zu den Leuten, individuell maßgeschneidert direkt ins Wohnzimmer.

Der Standart

Zwischenfazit:

„Fakt ist, so gut wie alle Kultureinrichtungen bemühen sich heute darum, Junge zu erreichen. So wirklich gelingen will das aber nur jenen, die auf Zielgruppenoptimierung abzielen können: Kleine Einrichtungen schaffen sich so ihre Nischen, große privatwirtschaftliche Player wie Streamingplattformen bringen die Nische zu den Leuten, individuell maßgeschneidert direkt ins Wohnzimmer. Übrig bleiben die Tempel bürgerlicher Hochkultur, jene, die sich keine radikale Zielgruppenfokussierung leisten können, aber trotzdem Zukunft haben wollen.“

Die Kulturpolitik scheint sich der Bedeutung dieser Fragen zumindest bewusst zu sein: Der Bund lässt Studien erstellen, die Stadt Wien eine Kulturstrategie bis 2030 ausarbeiten.

Die Debatte in der Kulturpolitik über ein potenzielles Überangebot sei dringend notwendig, meint Renz und zudem solle, gemäss Keuchel, die kostenlose Zugänglichkeit für subventionierte Kultur ermöglicht werden. Beide Experten plädieren für Durchmischung in soziokulturellen Räumen, die der Zersplitterung in Milieus entgegenwirken. „Die Kulturpolitik scheint sich der Bedeutung dieser Fragen zumindest bewusst zu sein: Der Bund lässt Studien erstellen, die Stadt Wien eine Kulturstrategie bis 2030 ausarbeiten.“ Zu guter Letzt noch der Fakt: „Dass unabhängig von Alter und Herkunft laut manchen Befragungen bis zu 50 Prozent der Bevölkerung überhaupt keine Kulturveranstaltungen besuchen, steht auf einem anderen Blatt. Das wäre wohl ein Auftrag ans Bildungssystem.“

Neues im Februar

reso Tanznetzwerk Schweiz 

Text übernommen aus dem Newsletter

Neues OpenScape-Event: Prototyping Cultural Practices

The Khan (Tripoli / LB) und OpenScape untersuchen die Beziehungen zwischen Institutionen, Kunstschaffenden und den Bewohner·innen vor Ort in einer Reihe von Online-Dialogen und einer abschliessenden öffentlichen Veranstaltung. In den kommenden Wochen veranstalten wir öffentliche Gespräche zwischen Vertreter*innen eines Kulturorts und einem·r Künstler*in, die über die Auswirkungen ihrer Arbeit diskutieren werden. Diese Gespräche werden live geführt und aufgezeichnet, so dass man sie auch später anhören kann. Am 28. Februar findet von 14:30-16:30 Uhr eine öffentliche Online-Veranstaltung statt, bei der die Teilnehmenden die Möglichkeit haben, Künstler*innen und Institutionen direkt zu ihren jeweiligen Verantwortlichkeiten zu befragen.

Podcast „Dance goes École“: Neue Folge auf Französisch

Nach einer ersten Podcast-Reihe «Tanz goes Schule» startet Reso nun eine zweite Serie von spannenden Podcasts zu verschiedenen Tanzformaten, die den schulischen Alltag bereichern – diesmal aus der Romandie und in französischer Sprache. Ab sofort kann man die neue Folge «Wouah! Eine Schulaufführung, die es in sich hat» auf unserer Webseite hören.

Das Tanzfest 2023: Preisträger·innen bei Dance on Tour

Auch 2023 bietet das Tanzfest in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Kultur den Preisträger·innen der Schweizer Preise Darstellende Künste eine Plattform, um ihre Tanzkreationen einem grossen, breit gefächerten Publikum zu präsentieren: Fünf Arbeiten von preisgekrönten Künstler*innen werden im Rahmen einer Tournee schweizweit am diesjährigen Tanzfest vom 10. bis 14. Mai 2023 gezeigt – in spannenden Settings abseits der klassischen Bühnensituationen.


Schweizer Künstlerbörse 2023

Vom 19.-22. April findet die Schweizer Künstlerbörse 2023 statt, Eröffnungsabend ist der Mittwoch, 19. April im Kultur- und Kongresszentrum Thun. Im Rahmen des Eröffnungsabends wird Mike Müller sein Stück «Erbsache – Heinzer gegen Heinzer und Heinzer» aufführen. In der Komödie treffen sich drei zerstrittene Geschwister wegen einer Erbangelegenheit vor Gericht. Diese und zahlreiche weitere Figuren verkörpert der vielseitige Autor und Schauspieler als virtuose, hochamüsante und absurde One-Man-Show. Mike Müller wurde letztes Jahr mit einem «Schweizer Preis Darstellende Künste» ausgezeichnet. Die Schweizer Künstlerbörse ist Promotionspartnerin der vom BAK vergebenen Preise und freut sich, Mike Müller am Eröffnungsabend eine Plattform bieten zu dürfen.  Ab 18:30 Uhr wird zum Apéro im Foyer des KKThun eingeladen, an dem Frau Gemeinderätin Katharina Ali-Oesch und weitere Vertreterinnen und Vertreter der Politik Ansprachen halten werden. Durch diesen ersten Teil des Abends führen unsere «Special Guests», die Gnunns der Westschweizer Theatergruppe The Big Bang CompanyGnunns sind quirlige Dämon*innen, die gerne tanzen, lachen und allerlei Schabernack treiben.Bestellen können Sie Ihre Tickets für den Eröffnungsabend bis am Donnerstag, 23. Februar online via folgenden Link.


Am 6. März startet der m2act Call for Action 2023! m2act, das Förder- und Netzwerkprojekt des Migros-Kulturprozent für die Darstellenden Künste, gibt euch die Möglichkeit, Veränderungen anzupacken!

  • Möchtest du mit deinem Team eine aktuelle, konkrete Herausforderung eurer Arbeitsrealität anpacken oder eure Arbeitsweise nachhaltig verändern?
  • Wollt ihr diesen Prozess mit der Unterstützung von Expert*innen angehen?
  • Gibt es bestimmte Tools, Methoden oder Prozesse, die ihr dabei anwenden möchtet?
  • Spiegelt sich euer Vorhaben in den Zielen von m2act wider? (faire Praxis, Nachhaltigkeit, offener Wissenstransfer)
  • Seid ihr bereit, eure Erkenntnisse aus dem Prozess aufzubereiten und mit anderen zu teilen?
  • Habt ihr Zeit, euer Vorhaben bis im Sommer 2023 detailliert auszuarbeiten und bis im Sommer 2024 abzuschliessen?

Der m2act Call for Action 2023 richtet sich an Compagnien, Häuser, Festivals, Produktionsbüros, Netzwerke und andere feste Formationen und Strukturen, die ko-kreativ – also gemeinsam mit Expert*innen – eine konkrete Herausforderung ihres Arbeitsalltags angehen und Lösungsansätze anwenden möchten. Ihr könnt selbst Expert*innen vorschlagen oder, sollte euer Vorhaben ausgewählt werden, gemeinsam mit m2act geeignete Personen suchen.

Ab dem Montag, 6. März 2023 könnt ihr euer Vorhaben eingeben. Eingabeschluss ist der 4. April 2023 (Das Gesuchsportal schliesst automatisch um Mitternacht.)

Der nächste m2act Anlass findet vom 15. – 17. September 2023 in Bern statt. Für diese Veranstaltung kollaborieren wir mit Burning IssuesIntegrARTBühnen Bern, der Dampfzentrale und dem Schlachthaus Theater. Unter dem Titel «M2ACT x BURNING ISSUES – Performing Arts & Action» bündeln wir die Expertise verschiedener internationaler Akteur*innen, die sich für einen nachhaltigen, gerechten und fairen Kulturbereich engagieren. Save the date!

Löhne auf der Bühne: Zu wenig zum Leben

Die Löhne am Theater sind tief. Zwischen 4000 und 4500 Franken brutto verdienen Schauspieler:innen bei 100 Prozent im Erstengagement nach einem intensiven Studium mit Hochschulabschluss. Selbst Menschen, die ohne Ausbildung in der Gastronomie arbeiten, verdienen mehr.

Von Yan Balistoy*

Aber es geht doch nicht nur ums Geld, oder? Das macht euch doch bestimmt auch Spass! Es gibt zahlreiche Einwendungen, um die Unverhältnismässigkeit am Theater zu rechtfertigen. Spass, Freiheit und das exklusive Künstler:innenleben ersetzen vermeintlich Fairness, Stabilität und Nachhaltigkeit.

Lange hat sich am Mindestlohn und an der intransparenten Lohnpolitik der einzelnen Häuser nicht viel verändert. Die Theaterhäuser entscheiden selbst, wie sie ihre Lohnentwicklungen gestalten möchten. Es gibt Fälle, in denen die Berufserfahrung keine Auswirkungen auf den Lohn hat. Die steigenden Lebenskosten überrollen die stehengebliebenen Löhne von festangestellten Künstler:innen und erschweren damit ihre Lebensbedingungen.

Natürlich: It’s not all about money, aber eine faire Bezahlung ist ein nun mal eine wichtige Existenzgrundlage. Künstler:innen arbeiten in Theatern, um ihr Leben zu finanzieren und leisten nicht ehrenamtliche Arbeit, weil es halt „Spass macht“. „So ist das halt am Theater“ oder „in Deutschland sind die Löhne schlechter“ sind nur zwei Scheinargumente, wenn es darum geht, unzureichende Entlöhnung an Schweizer Häusern zu rechtfertigen.

Die Angst vor der „Nicht-Verlängerung“ 

Weshalb ändert sich in der ganzen Branche nichts? Missstände anzusprechen, gefährdet die eigene Position. Künstler:innen haben Angst, ersetzt zu werden. Wir haben Angst, weil genug andere den Arbeitsplatz widerspruchslos und gerne hinnehmen würden. Spricht man Missstände an, könnte es dazu führen, dass sich das Verhältnis mit der Leitung verschlechtert, wodurch Möglichkeit näher rückt, „nicht verlängert“ zu werden. Die Nicht-Verlängerung erlaubt der Arbeitgeber:innenseite jedes Jahr Arbeitsverhältnisse nach purer Willkür aufzulösen. Es ist eines der stärksten Machtinstrumente, über das eine Theaterleitung verfügt. Diese Angst ist der Grund, warum ungerechte Arbeitsbedingungen bestehen können.

Es scheint ein geschlossener Kreis zu sein, doch alles hat einen Ursprung. Und dieser liegt in der Ausbildung. Nehmen wir beispielsweise das Schauspielstudium. Um in einem Schauspielstudium aufgenommen zu werden, muss ein Mensch vorsprechen gehen. Dabei wird schnell klar, dass willkürlich und intransparent über die Bewerber:innen entschieden wird. Weshalb jemand angenommen oder abgelehnt wird, bleibt für immer ein Rätsel.

Bewerber:innen reisen während der Vorsprechphase ein oder zwei Jahren durch Deutschland, Österreich und die Schweiz, um einen begehrten Platz an einer der zweiundzwanzig staatlichen Schauspielschulen zu ergattern. Dabei werden an einer Schauspielschule von mehreren hundert Bewerber:innen im Schnitt zehn bis zwanzig neue Student:innen in einen Jahrgang angenommen.

Ist man erfolgreich im Studium aufgenommen worden, folgt ein drei- oder vierjähriges Vollzeitstudium mit Präsenzpflicht. Absenzen werden rigoros geahndet. Ein Nebenjob ist nur unter Aufgabe der eigenen Freizeit möglich. „Alles oder nichts“ wird zur angelernten Haltung. Denn jetzt, wo man es geschafft hat, wird man nicht riskieren wollen, den wertvollen Platz zu verlieren. Die Schwierigkeit „hineinzukommen“ erhöht den Wert des Studiums und damit der versprochenen Zukunft.

Die Überbewertungsspirale

Der Wert wird nicht nach den zukünftigen Arbeitsbedingungen gemessen, sondern anhand der Exklusivität der Studienplätze. Einfacher gesagt: Je schwieriger die Aufnahmebedingungen, desto höher die Qualität des Studiums. Je weniger Studienplätze, desto wertvoller das Studium. Je wertvoller das Studium, desto höher die Bereitschaft, über seine Grenzen hinauszugehen. Je höher die Bereitschaft, desto höher die Investition. Je höher die Investition, desto wertvoller Studium.

Es findet eine Überbewertungsspirale statt. Dieser Wert orientiert sich an der Exklusivität und nicht der Sache selbst. Das Studium wird attraktiv gedeutet, weil es exklusiv ist und nicht, weil die Zukunft, für die es ausbildet, attraktiv ist. Damit wird ein Grundbaustein für das Verständnis für die Arbeit als Schauspieler:in gelegt. Der Wert der Ausbildung wird auf die zukünftige Arbeit am Theater übertragen. Auch hier gilt: Erfolg bleibt ein Geheimnis. Hauptsache durchbeissen und Glück haben, dass irgendwann jemand anbeisst.

Auch in der Berufswelt spielt das Verhältnis von Angebot und Nachfrage eine massgebende Rolle. Je weniger Plätze, desto wertvoller der Arbeitsplatz. Und weil man sich glücklich schätzen kann, einen wertvollen Arbeitsplatz zu haben, ist die Bereitschaft auch höher, mal wegzuschauen, wenn geschrien wird, wenn die Ruhezeiten nicht eingehalten werden, wenn man nicht gehört wird, wenn man nicht weiss, wie man morgen, übermorgen oder nächsten Monat arbeitet und wie man sein Leben finanzieren soll. Was für ein Glück, einen so wertvollen Platz zu haben, da seh ich vor lauter Sonnenstrahlen die fehlende Anerkennung, die Unterbezahlung, die Perspektivenlosigkeit und den Machtmissbrauch gar nicht mehr. Und ausserdem, wem es nicht passt, kann gehen, es gibt genug andere. Wir haben gelernt, dass wir uns davor fürchten sollen ersetzt zu werden, weil es nicht genug Plätze gibt. Aber diese Beschränkung rechtfertigt die Beschränktheit der Arbeitsbedingungen nicht.

Mit dieser Grundeinstellung brauchen wir uns nicht zu wundern, weshalb unsere Rechte systematisch untergraben werden und sich die Arbeitsbedingungen nicht weiterentwickeln. Unsere Arbeitsbedingungen sind ein Resultat des Systems, welches auch wir sind. Und wir werden behandelt, wie wir uns behandeln lassen. Wir müssen lernen, zusammen Grenzen zu setzen. Nein zu sagen, und zusammen faire Arbeitsbedingungen einzufordern. Anstelle von Angst, von Kolleg:innen ersetzt zu werden, muss neues Vertrauen aufgebaut werden, dass wir für einander einstehen.

Nur so können wir den Damm durchbrechen, um eine faire Arbeits- und Lebensgrundlage für Künstler:innen am Theater zu schaffen.

*Yan Balistoy ist ein multidisziplinärer Künstler. Er immigrierte in seiner Kindheit in die Schweiz. Seit seinem Schauspielstudium an der Zürcher Hochschule der Künste arbeitet er im Film und auf der Bühne. Aktuell ist er am Theater Neumarkt in Zürich engagiert, wo er seine erste Arbeit als Regisseur verwirklichen wird.

Kraft und Leidenschaft – Nachruf auf Franca Basoli

Text von: Peter Niklaus Steiner

Viel zu früh und überraschend ist Franca (23. Februar 1966 bis 2. Januar 2023) von uns gegangen. Heute wissen wir, dass sie schwer erkrankt war. Franca zog über all die Jahre nur wenige ins Vertrauen, ihr Krebsleiden sollte bis zum Schluss ihr Geheimnis bleiben. Für sie stand nicht die Krankheit im Fokus, sondern das Leben, das man bei Franca getrost mit dem Theater gleichsetzen darf. Theater ist Leben und kann dieses wunderbar potenzieren – Franca wusste das und hat es bis zuletzt ausgekostet. In vielen Rollen: Als Schauspielerin, Regisseurin, Theaterleiterin und Pädagogin. So diszipliniert, wie sie arbeitete, konnte sie sich im Spiel gehen lassen und ihre Leidenschaft mit andern teilen. Ich rede aus eigener Erfahrung: Sei es als «Annie Wilkes» in Stephen Kings «Misery», als «Martha» in «Wer hat Angst vor Virginia Woolf» oder «Antonia» in «Offene Zweierbeziehung», das Spiel mit ihr war intensiv, lustvoll, beherzt und mit viel Spass verbunden!

Theater ist Leben und kann dieses wunderbar potenzieren – Franca wusste das und hat es bis zuletzt ausgekostet.

Nach der Ausbildung als Primarlehrerin wechselte Franca an die Schauspielschule Zürich, die sie 1992 mit dem Diplom abschloss. Noch während ihrer Zeit an der Schule gründete sie mit Kolleginnen und Kollegen zusammen eine Theatergruppe und brachte eigene Produktionen auf die Bühne. Sie spielte in Fredi Murers «Vollmond» (1997) und zahlreichen Produktionen bei SRF und etlichen Werbespots. Unzähligen Theaterrollen gab sie ihre Prägung, unter anderem am Theater Neumarkt und dem Sogar Theater in Zürich, dem Theater an der Effingerstrasse in Bern, dem Laxdal Theater in Kaiserstuhl, dem Theater Bilitz in Weinfelden und dem turbine theater in Langnau am Albis. Noch im September und Oktober des vergangenen Jahres spielte sie – von der Krankheit versehrt und doch voller Energie – das Zweipersonenstück «Glück», das sie zusammen mit Christian Seiler produzierte und auf die Bühne brachte.

Zu ihrem Repertoire gehörte auch die Regiearbeit, die sie mit wachsender Begeisterung und zugleich Erfahrung in weiten Teilen der Schweiz ausübte.

Auch der Gesang gehörte zu ihrer Leidenschaft: Sie veranstaltete Abende mit Liedern von Bertold Brecht oder Zarah Leander und trat in Musicals auf. Zu ihrem Repertoire gehörte auch die Regiearbeit, die sie mit wachsender Begeisterung und zugleich Erfahrung in weiten Teilen der Schweiz ausübte, so etwa bei den legendären Tellspielen in Interlaken (2008-10), der Freien Bühne Uster, der Aemtlerbühne in Mettmenstetten, den Spielleuten von Seldwyla in Bülach und zuletzt bei der Kulisse in Küsnacht, deren Regie zu «Der Tag, an dem der Papst entführet wurde» sie nicht mehr vollenden konnte. Sie leitete das Théâtre de Poche in Biel und das Miller’s Studio in Zürich. Und sie unterrichtete mit grossem Einsatz und Sendungsbewusstsein Generationen von Schauspielschülerinnen und -schüler an der SAMTS (Stage Art Muscial & Theatre School) in Adliswil und der Stage Academy of Switzerland in Zürich.

Seit ich sie kannte, hatte Franca immer mehrere Projekte gleichzeitig am Laufen. Arbeit war nicht Energieräuber, sondern Energiespender!

Es gab jemanden an ihrer Seite, auf den sie sich tausend Prozent verlassen konnte, ihren geliebten Ehemann Caspar, dem ihr Herz gehörte.

Seit ich sie kannte, hatte Franca immer mehrere Projekte gleichzeitig am Laufen. Arbeit war nicht Energieräuber, sondern Energiespender! Sie blühte auf und ihre Augen strahlten, wenn sie von ihren Projekten erzählte und andere für Projekte begeisterte. Ihr war bewusst, dass nichts für ewig ist und das Glück und die Erfüllung im Moment zu suchen und zu finden sind. Vieles blieb unvollendet in ihrem bewegten Leben und vieles hat sie vollbracht. Den Applaus hat sie allemal verdient! Mir bleibt die Bewunderung für ihr enormes Engagement, für die Herzlichkeit und den Spass, die sie teilen konnte, für ihren Durchsetzungswillen und die grosse Kraft, der sie zur Frau der Tat machte. Und doch hatte sie auch eine andere Seite: So schillernd und bewegt sie im Leben stand, hatte sie doch einen stillen Hafen. Es gab jemanden an ihrer Seite, auf den sie sich tausend Prozent verlassen konnte, ihren geliebten Ehemann Caspar, dem ihr Herz gehörte. Ihm und Francas Familie gilt in dem Moment meine Anteilnahme und mein Mitgefühl. Wo Franca jetzt auch immer sein mag, das Spiel geht weiter und in ihm bleiben wir verbunden. Franca ist und bleibt ein Teil davon, als liebe und geschätzte Kollegin, die uns in Erinnerungen stets begleiten wird.

Als wir ganz am Anfang unsere FemaleAct-Clips drehten, war sie die gestandene Kollegin, welche Ruhe, Souveränität und Grandezza ausstrahlte und mit ihrer liebevollen Art Ruhe und Humor in die Szenerie brachte.

Auch der von Schweizer Schauspielerinnen* geführte Verein FemaleAct trauert um ihr geschätztes Mitglied Franca Basoli. 
Seit der ersten Stunde stand sie Seite an Seite mit uns allen und setzte sich für die Sache ein. Als wir ganz am Anfang unsere FemaleAct-Clips drehten, war sie die gestandene Kollegin, welche Ruhe, Souveränität und Grandezza ausstrahlte und mit ihrer liebevollen Art Ruhe und Humor in die Szenerie brachte.Franca wird uns als eine engagierte und offene Kollegin in Erinnerung bleiben.Liebe Franca, Danke für alles.“FemaleAct Januar 2023

 

„Workshop: Vorbereitung auf ein Casting“ Interview und Eindrücke

Am 28. November und 5. Dezember organisierte das Büro von ScèneSuisse in der Romandie zwei Workshops mit David Baranes zum Thema „Comment mieux appréhender son casting“, die bei den Teilnehmer*innen ein voller Erfolg waren.

Text von Viviane Bonelli

Viviane Bonelli nutzte die Gelegenheit, um dem Referenten David Baranes einige Fragen zu stellen:

Wie haben Sie den ersten Tag mit den Schweizer Schauspieler*innen verbracht?

Es war das erste Mal, dass ich in die Schweiz gekommen bin, um den Workshop anzubieten, den ich sonst  nur in Frankreich anbiete. Alles in allem war es eine sehr angenehme Erfahrung, die Schauspieler*innen waren sehr aufnahmefähig und hörten zu. Ich bin wirklich begeistert von dieser Begegnung und wurde zudem sehr freundlich empfangen.

Haben Sie vor, die Künstler*innen, die Sie in der Schweiz gesehen haben, ein weiteres Mal einzusetzen?

Ja, ich werde an einem Film arbeiten, der in Deutschland und Frankreich zur Zeit des Zweiten Weltkriegs spielt. Dafür brauche ich Schauspieler*innen, die einen deutschen Akzent haben und die beide Sprachen sprechen. Es war eine tolle Überraschung, dass die Schweizer Schauspieler*innen grösstenteils zweisprachig sind. Man denkt im ersten Moment, im Vergleich zu deutschen Schauspieler*innen, nicht unbedingt daran.

Was hat Sie an diesem Tag am meisten beeindruckt?

Die Motivation der Schauspielern*innen aus der Schweiz, die ihre Karriere außerhalb des Landes entwickeln.

Ich fand es gut, Personen mit deutscher Muttersprachen auf Französisch spielen zu sehen.

David Baranes, Casting-Direktor

Was ist für Sie der grundlegende Unterschied zwischen französischen Schauspielerinnen und Schauspielern?

Ich frage mich, ob es den oder die typische Schweizer Schauspieler*in gibt? Sie wirken generell zwar etwas ernster, hatten ihre Texte aber sehr gut gelernt und es war sehr angenehm mit ihnen zu arbeiten. Ich fand es gut, Personen mit deutscher Muttersprachen auf Französisch spielen zu sehen.

Würden Sie wieder in die Schweiz kommen?

Ja, natürlich gerne.

Was haben Ihnen die Genfer Schauspieler*innen gebracht?

Energie und Lust zu arbeiten.

Was hat Sie an den zwei Tagen des Workshops in der französischsprachigen Schweiz am meisten positiv überrascht?

Die Motivation der Schauspieler und die Lust, zu experimentieren und ihre Grenzen zu öffnen.

Es ist ein Hype, der gerade erst entsteht und nach Ausdruck verlangt – ein Markt, der nur darauf wartet, zu explodieren.

Sie sprechen von der Begeisterung des französischen Marktes für belgische Schauspieler, wie denken sie über die Zukunft von Schweizer Schauspieler*innen auf dem Französischen Markt nach?

Es ist ein Hype, der gerade erst entsteht und nach Ausdruck verlangt – ein Markt, der nur darauf wartet, zu explodieren. Dieser Reflex ist quasi vorgezeichnet, den es in Frankreich so noch nicht gibt. Man denkt in erster Linie ausserhalb Frankreichs an belgische Schauspieler*innen, aber nicht direkt an die Schweiz. Einen französischen Casting-Direktor einzuladen, ermöglicht es uns zu zeigen, dass es hier Schauspieler*innen gibt, die es zu entdecken gilt. Die Schweiz ist in der Distanz von Frankreich nicht weiter entfernt als Belgien. Wenn wir diese Workshops also weiter ausbauen, werden wir voraussichtlich den Schweizer Markt in Paris entwickeln. Warum sollten die Belgier eine Chance haben und nicht auch die Westschweizer? Beide sprechen Französisch.

Hatten Sie eine positive Überraschung oder eine Entdeckung unter all diesen Schauspieler*innen?

Ja, ich habe mehrere entdeckt und insbesondere eine Schauspielerin hat sich deutlich von der Masse abgehoben.

Wenn Sie nach Paris zurückkehren, wie würden Sie dieses für Sie neue Casting-Gebiet Schweiz beschreiben?

Was die Infrastruktur und die Organisation betrifft, ist es sehr geordnet. Zudem würde ich verbreiten, dass die Schweiz ein echtes Potenzial an Schauspieler*innen zu bieten hat, das nur darauf wartet, entdeckt zu werden. Schweizer Schauespieler*innen, das klingt exotisch! Wenn wir buntgemischte Castings machen, suchen wir überall in Frankreich und Belgien, aber eben bisher nicht in der Schweiz. Ich werde die Dringlichkeit betonen.

Sie sprechen zu Beginn des Workshops gerne über Ihre Anekdoten, warum?

Das sind Anekdoten, um zu erklären, wie ein Casting-Direktor auf diese/n und jene/n Schauspieler*in zugeht, um den/die Richtige zu finden. Sie erklären auch, wie man besser an das Casting herangeht, um eine Rolle zu bekommen!

Was Viviane Bonelli am meisten beeindruckt hat, ist, dass David Baranes ein wohlwollender Casting-Direktor ist, dem die Schauspieler*innen am Herzen liegen. Und was hielten die Schauspieler*innen von ihm?

„Davids Persönlichkeit war genau richtig für das Casting, er hat die Schauspieler*innen spielen lassen und ist ihnen mit viel Respekt und Ermutigung entgegengetreten (was meiner Erfahrung nach bei weitem nicht immer der Fall ist…). Außerdem war es toll, Kolleg*innen zu treffen und Zeit mit ihnen zu verbringen, die ich nicht kannte.“ Mathieu Z.

„Zunächst möchte ich dir dafür danken, dass du diesen Workshop möglich gemacht hast. Ich habe diese Zeit der Arbeit und der Begegnungen sehr genossen. Es wäre schön, wenn wir wieder
Workshops wie diesen mit Casting-Direktoren aus Frankreich oder der Westschweiz veranstalten können.“ Délia A.

 

Ensemble Magazin – und weiter gehts!

Ein Jahr Ensemble Magazin – euer neues Online Magazin rund um Themen zu arbeitsrechtlichen Fragestellungen, Hintergründen und Vielfalt in den darstellenden Künsten. Als neue und vor allem junge Chefredakteurin ist es mir eine grosse Freude, mich in die verschiedenen und diversen Themen einzuarbeiten, ungewohnte Blickwinkel aufzuzeigen und damit ein breites Spektrum abzudecken. Nicht immer sind die Themen einfach, mit dem diesjährigen Skandal rund um die Ausbildung im Ballett wurde klar, dass noch viel Arbeit ansteht in der Schweiz, Missstände erst aufzudecken, neue Konzepte zu erarbeiten und dann auch zielgerichtet umzusetzen. Aber das macht Mut – es geht voran und alles zeigt in eine Richtung, wo Fairness und Respekt feste Grundpfeiler sind. Die professionellen Darstellenden Künste sind ein essentieller Teil der Gesellschaft, bieten viele Arbeitsplätze und sind für unsere gelebte, kulturelle Vielfalt unabdingbar. Deshalb ist es wichtig, und das ist unsere Arbeit bei Ensemble Magazin, zu informieren und auch die besonders schönen Seiten und die Kraft, die dem innewohnt ihnen, geschätzte Leserschaft, zu vermitteln.

Wir möchten unseren Pool an Freelancer stets erweitern und somit auch der Leserschaft unseres Magazins eine Aktualität bieten, die notwendig ist. Wir sind an der Quelle mit der schweizweiten Ausrichtung von unserem Berufsverband SzeneSchweiz, können mit unseren zahlreichen berufstätigen oder ehemals berufstätigen Mitgliedern stets in einen wertvollen Austausch treten. Unsere Ausrichtung durchdringt das weite Feld der Darstellenden Künste.

Die Redanktion von Ensemble Magazin und der Berufsverband Darstellende Künste SzeneSchweiz wünscht Ihnen schöne Festtage und freut sich auf ein ereignisreiches 2023!

Strafverfahren abgeblitzt – SzeneSchweiz im Recht

Im Frühling 2021 wurde gegen die Geschäftsführerin von SzeneSchweiz, Salva Leutenegger, Strafanzeige wegen Nötigung und Widerhandlung gegen das Bundesgesetz gegen den unlauteren Wettbewerb eingereicht. Anzeigeerstattende waren nebst einer schillernden Casterin deren als Kapitalgesellschaft statuierte Casting-Firma.

Wie jede Strafanzeige zog die Anzeige die Eröffnung eines Strafverfahrens nach sich, die Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl nahm die Ermittlungen auf. Die Anzeige war mit zwei Begebenheiten begründet worden: Erstens habe Salva Leutenegger die Casterin wiederholt aufgefordert, sich an die Branchenrichtlinien betreffend Gagen und Buy-outs einzuhalten und auf eine faire Geschäftspraxis umzusteigen, weil sie sich sonst gezwungen sähe, die Mitglieder von SzeneSchweiz, die Branche und die Öffentlichkeit vor der Geschäftspraxis der Casting-Firma zu warnen. Zweitens habe sie eine E-Mail an diverse Schauspielschulen versandt, in welchem sie die Arbeit der Casterin als unseriös bezeichnete.

Verfahren eingestellt

Diesen Herbst stellte die Staatsanwaltschaft das Strafverfahren ein. Die zuständige Staatsanwältin verwarf sämtliche Vorbringen der Anzeigeerstattenden (in den nachstehenden Zitaten «Privatklägerschaft») mit deutlichen Worten. So führte sie zum Vorwurf der Nötigung unter anderem aus:

«Im vorliegenden Mailschreiben […] weist die Beschuldigte auf die Gagenrichtlinien hin und fordert Einhaltung der Mindestgagen und Buyouts. Damit bewegt sich der Berufsverband im Rahmen seiner satzungsmässigen Aufgaben und vertritt die beruflichen und wirtschaftlichen Interessen seiner Mitglieder […]. Auch kann es nicht per se unerlaubt sein, als Berufsverband zur lnteressenwahrung publik zu machen, dass die Privatklägerschaft die in den Richtlinien des SBKV [heute: SzeneSchweiz] vorgesehenen Mindestgagen unterbiete […]. Der strafrechtliche Schutz geht nicht so weit, dass niemand der Privatklägerschaft ihre Geschäftspraxis entgegenhalten dürfte, auch ist sachliche Kritik in der Öffentlichkeit grundsätzlich erlaubt.»

Und weiter:

«Der Zweck dieser Mailschreiben liegt damit vorwiegend darin, von der Privatklägerschaft ‚eine Stellungnahme zu den erwähnten Punkten zu erhalten und in einen Austausch zu treten. Anlass scheinen Beanstandungen mehrerer Verbandsmitglieder zu sein, wobei es durchaus Aufgabe eines Branchenverbandes ist, solchen Hinweisen nachzugehen und betroffene Kreise darüber zu orientieren.»

Zum Vorwurf der wettbewerbsrechtlichen Herabsetzung hielt die Staatsanwältin fest, dass die Nachricht an Schauspielschulen, worin diese aufgefordert werden, nur mit seriösen Anbieter*innen zusammenzuarbeiten weder völlig sachfremd noch unsachlich sei. Auch dieser Tatbestand sei folglich nicht erfüllt.

Die Einstellungsverfügung ist rechtskräftig. Die Anzeigeerstattenden haben dagegen kein Rechtsmittel erhoben.

Bewertung aus Sicht von SzeneSchweiz und anderer Berufsverbände

Der Versuch der betreffenden Casterin, den Widerstand durch einen von Mitgliedern eingeschalteten Berufsverband mittels Strafanzeige gegen die Geschäftsführerin zu brechen, ist in vielerlei Hinsicht problematisch.

  • Erstens entfaltet eine Strafanzeige kurzfristig immer eine hemmende, einschränkende Wirkung für den betroffenen Verband und noch mehr für die betroffene Person. Wer eine Vorladung der Staatsanwaltschaft oder der Polizei als beschuldigte Person erhält, ist zunächst mal verunsichert. Solange das Strafverfahren läuft, überlegt sich die betroffene Person zweimal, ob sie wie gewohnt bei der fehlbaren Agentur interveniert.
  • Zweitens wird mit einer Strafanzeige immer auf die Frau bzw. die Person gespielt. Das Strafrecht adressiert immer zunächst die ausführende natürliche Person. Ein Verband bzw. die juristische Person wird bis auf wenige Ausnahmen nur belangt, falls ein Tatvorwurf keiner natürlichen Person zugerechnet werden kann. Macht die angezeigte Person wie in diesem Fall einfach nur ihre Arbeit, trifft sie die Strafrechtskeule dennoch als Privatperson. Es geht um ihren Leumund, sie wird persönlich als Beschuldigte einvernommen, ihr droht im Falle einer Verurteilung die Strafe.
  • Drittens tragen die Anzeigeerstattenden kein Risiko. Die Kosten für das Strafverfahren – wie aussichtslos auch immer es ist – trägt der Staat. Erst das Rechtsmittelverfahren, konkret die Beschwerde gegen die Einstellungsverfügung, ist mit einem Kostenrisiko für die Privatklägerschaft verbunden.

Das klare Ergebnis des Strafverfahrens und die klaren Aussagen der Staatsanwältin bestätigen, dass die Geschäftsleitung von SzeneSchweiz mutig und richtig gehandelt hat. Dennoch bleibt aufgrund dieser Punkte ein schaler Nachgeschmack.

Umso wichtiger erscheint es, den Zweck des Berufsverbandes hochzuhalten, sich für seine Mitglieder einzusetzen, insbesondere auf fehlbare Arbeitgebende und Castig-Agenturen einzuwirken: sachlich, bestimmt, mit klaren Worten. Denn das hier beschriebene Strafverfahren hat wenigstens das gezeigt: Jeder muss sich seine Geschäftspraxis entgegenhalten lassen.

In diesem Sinne: wir bleiben für Sie dran!

Lehrgang an der Ballettschule Theater Basel eingestellt

Knall am Theater Basel: Die Eidgenössische Ausbildung Bühnentanz wird per Ende Schuljahr eingestellt.

Meldung aus dem Basler Online Magazin Bajour vom 30.11.2022

Es ist das Ende eines dramatischen Kapitels Basler Tanzgeschichte. Wie die Ballettschule des Theater Basel (BTB) am Mittwoch mitteilt, hat der Vorstand beim Erziehungsdepartement die Schliessung des Lehrgangs zum Bühnentanz mit Eidgenössischem Fähigkeitszeugnis (EFZ-Bereich) per Ende Jahr beantragt.

Damit zieht der Vorstand die Konsequenzen aus einer Verkettung von Missständen, die sich in den vergangenen Wochen dramatisch zugespitzt hatten. Um die finanzielle Situation der Schule war es schon länger schlecht bestellt, das Weiterbestehen der Ausbildung hing von einer Finanzspritze ab, die der Grosse Rat hätte bewilligen sollen. In einer entsprechenden Motion der LDP-Grossrätin Catherine Alioth war von einer Finanzierungslücke zwischen jährlich 300’000 und 500’000 Franken die Rede.

Doch eine gemeinsame Recherche von Bajour und der NZZ am Sonntag über Vorwürfe von Demütigungen im Unterricht, systematische Beschimpfungen und Mobbing machte der Sache einen Strich durch die Rechnung. Die Direktorin der BTB, Amanda Bennett, wurde freigestellt. Sie bestreitet die Vorwürfe. Eine unabhängige Untersuchung wurde eingeleitet.

Sasha Mazzotti von der SP Stadt Basel sieht in der Schliessung eine verpasste Chance:

„Anstelle der sofortigen Schliessung der Schule, hätte ich mir einen tiefgreifenden Prozess gewünscht, der die Problematik der Ausbildung ernsthaft angeht und löst.“

Sie sei weiterhin überzeugt, dass eine Tanzausbildung auf hohem Niveau auch mit anderen Methoden machbar sei, als durch harten Drill. Die Basler Ballettschule habe sich in den vergangenen Jahren ein weltweites Renommee aufgebaut.

„Auch vor diesem Hintergrund hätte ich eine Reform – anstatt einer Schliessung – begrüsst.“

Die Schliessung sei ein Verlust für die Kulturstadt Basel.

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Malcantone im Tessin: Agorà Teatro, Magliaso

Text von Blue Sky

Der Malcantone ist ein Gebiet im Kanton Tessin, das neunzehn Gemeinden umfasst und sich vom Luganersee bis zum Monte Lema erstreckt, mit kleinen Dörfern, Bergstraßen, großen Kastanienbäumen und Weinbergen. Und genau in dieser Region befinden sich seltene Perlen der Tessiner Performancekunst.

Einst wurden Metallerze abgebaut, von denen heute nur noch wenige historische Artefakte erhalten sind, und in den Tälern können wertvolle Kunst- und Kulturschätze und charakteristische Museen besichtigt werden. Künstler*innen und Räume von ungewöhnlicher Schönheit und hoher Professionalität, die durch den Wunsch verbunden sind, ihr eigenes Menschsein mit den anderen zu teilen. Dort, wo sich die Kunst zu Hause fühlt, wird sie zu Materie, zu Körpern, und gewinnt an Wert sowohl in der stillen Suche wie auch an öffentlich zugänglichen Orten.

Blue Sky traf für Ensemble-Magazin die Künstler*innen des Malcantone, die  Mitglieder von ScenaSvizzera sind: Opera retablO von Ledwina Costantini, Salone Piazza Grande von Sandro Schneebeli, Teatro Agorà von Marzio Paioni und Olimpia De Girolamo und Teatro Lo Sgambetto unter der Leitung von Melanie Häner – jede und jeder von ihnen ist ein Mikrokosmos der Performancekunst!

Interview mit Marzio Paioni und Olimpia de Girolamo, den künstlerischen Leitern vom Agorà Teatro.

In Magliaso, nur einen Steinwurf vom Seeufer entfernt, befindet sich ein Haus, in dem sich ein Theater befindet, das Agorà Teatro, ein Haus der Künste, das 2005 von Marzio Paioni gegründet wurde.

Ensemble Magazin: Warum ein Theater in ein Haus bauen?

Marzio Paioni: Nach den Jahren des intensiven Studiums in Mailand und Rom entstand in mir der starke Wunsch, das, was ich positiv erlebte, an andere Menschen weiterzugeben. Grotowski spricht in einem seiner Texte davon, „eine Hütte zu haben“, und das ist der Ursprung der Inspiration: zu Hause einen Raum zu öffnen, um zu empfangen und zu kommunizieren. Agorà Teatro entstand also aus dem menschlichen Bedürfnis heraus, über die Theaterschule hinaus zu sagen: „Ich bin hier“ und das Leben, und eine bestimmte Art zu denken und zu handeln, mit anderen Menschen zu teilen. Ich wollte wirklich, dass das Haus und das Theater in der gleichen „Hütte“ sind, mit einer Tür als einziger Schwelle zum Überschreiten der Grenze. Ich wollte einen Ort schaffen, an dem Menschen mit sich selbst und anderen in Beziehung treten können, um ihre inneren Fähigkeiten, ihre Emotionalität und ihre Kommunikationsfähigkeit zu entdecken.

Das Theater war ein kathartischer Ort, an dem ich erneuert und geläutert auftauche, wenn ich jemanden sah, dem Dinge widerfuhren.

Marzio Paioni, Künstlerische Leitung des Agorà Teatro

Welche Bedeutung hat der Name Agorà Teatro?

Die Agora ist ein Versammlungsort, ein Platz, der seit der Antike ein Ort der Gemeinschaft war. Das Wort Theater bedeutet in seiner ursprünglichen Bedeutung „Gemeinschaft bilden“, weshalb die Griechen es vor mehr als zweitausend Jahren schufen. Das Theater war ein kathartischer Ort, an dem ich erneuert und geläutert auftauche, wenn ich jemanden sah, dem Dinge widerfuhren. 

Das Agorà Teatro will genau das sein: ein symbolischer Platz, an dem Menschen, die sich nicht kennen, zusammenkommen und wachsen können, und an dem das Publikum sich lebendig fühlen und mitmachen kann. Das ist es, was Theater ausmacht: diesen Raum zwischen dir und mir zu bewohnen.

An der Schwelle zwischen Haus und Theater treffen wir auch ethische Entscheidungen. Wir versuchen, in der Haltung des täglichen Lebens eine innere Kohärenz zu leben, die wir auf die Bühne und zu unseren Schülern bringen. Es kann nur so sein: mit einem Habitus, der getragen, gelebt und weitergegeben wird. Unsere Studenten leben und bewohnen diese Agora: Die Haustür des Theaters steht immer offen und sie können zu den Proben und zum Training kommen.

Ein solches Theater zu haben, bedeutet, eine Gemeinschaft zu schaffen, eine Gruppe von Menschen einzubinden, die gemeinsame Werte haben: Unsere sind friedlich, der Mensch steht im Mittelpunkt und nichts ist interessant außer dem Menschen.

Was ist der Schwerpunkt eurer Arbeit?

Im Mittelpunkt unserer Arbeit steht das Wort „Person“ und seine persönliche Kraft. In diese Agora kommen Menschen („schöne Seelen“) unterschiedlicher Berufe und Altersgruppen, die alle dasselbe suchen: einen Ort, an dem sie endlich wieder mit all dem in Verbindung treten können, was die Welt draußen uns vergessen lässt. Ein solches Theater zu haben, bedeutet, eine Gemeinschaft zu schaffen, eine Gruppe von Menschen einzubinden, die gemeinsame Werte haben: Unsere sind friedlich, der Mensch steht im Mittelpunkt und nichts ist interessant außer dem Menschen. Daraus folgt, dass einer der Grundwerte die körperliche Arbeit ist. Grotowsky lehrte uns: Das Training mit seiner Disziplin ist die Gelegenheit, den eigenen Körper als Kanal für den Kontakt mit der Essenz des Menschseins, der eigenen Seele, wiederzuentdecken. Die tiefe Forschung mit und im Körper wird zum Instrument der Erforschung der Welt, des persönlichen Wachstums, des Raums für Beziehungen und des poetischen Schaffens.

Das ist der Grund, warum wir mit Grotowskis Werk in Berührung kommen: Ich leihe mein ganzes Ich der Figur, die eine Seele hat, der ich mich zur Verfügung stelle.

Wie überträgt sich das auf  eure Poetik?

Das Theater ist das Medium zur Erforschung des menschlichen Wesens in all seinen Formen und Ausdrucksweisen. Unsere Poesie befasst sich immer mit menschlichen Fragen, und existenzielle Fragen tauchen immer in unseren Kreationen auf, sowohl in der Produktion als auch in den Ausbildungskursen.  Das ist der Grund, warum wir mit Grotowskis Werk in Berührung kommen: Ich leihe mein ganzes Ich der Figur, die eine Seele hat, der ich mich zur Verfügung stelle.  Training, Stimmarbeit und Zuhören sind grundlegend, um die Tür zur Poesie zu öffnen. Im Mittelpunkt steht immer der Mensch, und dem anderen zuzuhören, ist Leben. Was und wo es mich berührt, was und wie ich fühle, wie es mich bewegt.

Jeder Text, jeder Autor gibt uns bestimmte Umstände vor, und wir versuchen, mit ihnen in Kontakt zu treten. Manchmal schaffen wir unsere eigenen, wie in La Mar. Es ist eine Suche im Menschlichen: Was haben wir mit dieser Geschichte zu tun? Welche Verbindungen gibt es zum Leben? Was geschieht dort? Es ist kein Zufall, dass der griechische Ursprung des Wortes Theater sich von theaomi, schauen, ableitet und das Wort oida, ich weiß, verwendet wird, das mit ich habe gesehen kombiniert wird. Indem ich dein Verhalten sehe, das wichtiger ist als Worte, und indem ich zuhöre, sehe und weiß ich. Und es macht immer wieder Spaß: den Blick zu wechseln.

Bei Agorà Teatro gibt es keine Trennung zwischen Ausbildung und Produktion, sondern absolute Sorgfalt in allen Schritten. Es ist unsere professionelle Einstellung, es ist eine innere Konsistenz unserer Art, Theater zu machen. Die Tiefe der Arbeit kann sich verändern, und wie weit wir gehen, aber es gibt nie ein egozentrisches Thema.

Nach dem, was ihr sagt, scheint es keine klare Trennung zwischen eurer Produktionsarbeit und euren Ausbildungskursen zu geben.

Bei Agorà Teatro gibt es keine Trennung zwischen Ausbildung und Produktion, sondern absolute Sorgfalt in allen Schritten. Es ist unsere professionelle Einstellung, es ist eine innere Konsistenz unserer Art, Theater zu machen. Die Tiefe der Arbeit kann sich verändern, und wie weit wir gehen, aber es gibt nie ein egozentrisches Thema. Unsere Schüler lernen, auf die Bühne zu gehen, indem sie dem Publikum ein Werk präsentieren, das auf dem Studium von Texten verschiedener Dramatiker beruht. Sie erleben die harte Arbeit, die es bedeutet, eine Szene zu bauen, die Disziplin des Materials, die Pflege des Raums. Wir versuchen, die Ehrlichkeit zu vermitteln, den Ideen auf den Grund zu gehen, selbst den verrücktesten, und das zu wählen, wofür man sich entschieden hat, zum Guten oder zum Schlechten.

Der Weg, auf dem man sich theatralische Techniken aneignet, hat einen großen Wert, der es einem ermöglicht, zu entdecken, warum man etwas tut.

Das Verstehen der Ausbildung, wie die Stimme, die ein großartiger Detektor ist, kommt mit der Zeit, es ist nicht sofort da, und die Ebene des kognitiven Verständnisses kommt, nachdem man wahrgenommen, gehört und erlebt hat. Das Theater ist ein Mittel, um dorthin zu gelangen. Der Weg, auf dem man sich theatralische Techniken aneignet, hat einen großen Wert, der es einem ermöglicht, zu entdecken, warum man etwas tut. Es ist möglich, unseren Reichtum zu zeigen, die Großartigkeit, die wir sind.

Biografie

Das Agorà Teatro wurde 2005 von Marzio Paioni in Magliaso gegründet, um eine ganze Gemeinschaft in die Kunst einzuführen und zu erziehen. Die künstlerische Leitung liegt derzeit bei Marzio Paioni und Olimpia De Girolamo, die von Claudio Orlandini (Mitbegründer) künstlerisch und regietechnisch beraten und von Regisseur Philippe Blanc unterstützt werden. Das Theater organisiert Ausbildungskurse für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die zu Abschlussaufführungen führen. Es veranstaltet ein Festival Segni d’arte (Zeichen der Kunst), bei dem sowohl Aufführungen als auch Fortbildungsveranstaltungen für die gesamte Bevölkerung stattfinden. Die neuesten Aufführungen unter der Leitung von Claudio Orladini sind: La Mar, I Fisici, Barbuta und Il Grande Drago.

Statistik: Bund hat Corona-Schaden für Kultur errechnet

Aus dem News-Ticker Kultur des Tagesanzeiger