«Stimme, Ensemble, Impulse»

Intensives Training – körperlich, stimmlich und mental – verändert nicht nur die Performance, es verändert, wie wir uns selbst und den Beruf wahrnehmen. Corinne Soland zieht Bilanz.

Mitte des Jahres. Etwas über die Halbzeit. Sieben Monate London. Sieben Monate RADA. Sieben Monate Theatre Lab. Ich realisiere langsam, wie viel ich hier erlebe. Und beginne, mir zu notieren, was denn eigentlich alles passiert ist bisher und was ich auf jeden Fall mitnehmen werde. Was folgt, ist deshalb ein nicht abschliessendes, für euch einsehbares Gedankensortieren. Vielleicht erkennt ihr euch ja auch direkt darin, wenn ihr unterwegs seid, in den Proberaum oder zu einer Vorstellung, und das lest. Liebe Grüsse von hier!

Stimme: Öffnen. Erweitern. Platz-Machen.

Sowohl die Stimm-Dozentin Suzanne West als auch der Gesangslehrer Mark Oldfield machen kein wöchentliches Training mit uns, sondern begleiten uns mit gezielten Inputs in Modulen. Besonders Mark legt grossen Wert darauf, durch eine Öffnung des ganzen Stimmapparates und der Resonanzräume für Leichtigkeit im Umgang mit der Stimme zu sorgen.

Für den griechischen Chor haben wir mit Suze “Extreme Voicing” Techniken erarbeitet und gelernt, die Stimmbänder auch durch stark beanspruchende Passagen wie Schreien im offenen Raum (Amphitheater) oder Weinen mit Übergang in den Klage- oder Trauergesang gut durch das Zwerchfell zu stützen.

Wir haben ein 10-minütiges Warmup erstellt, das aus dem Körper heraus funktioniert und in stressigen Situationen abgekürzt werden kann. Darin enthalten und neu für mich sind zum Beispiel die Zungendehnung oder die Infinity Vowel Chart. Das ist grafisch dargestellt eine liegende 8, das Unendlichkeitszeichen, worauf die Vokale AH, AY, EE, AW und OO notiert sind. Diese unterschiedlichen phonetischen Klänge kombinieren wir dann mit Konsonanten (s, t, p, w, k, etc.), um eine kleine rhythmische Abfolge auszusprechen: “stah, stay, stee, stay, stah, staw, stoo, staw”.

Ausserdem immer wieder amüsant sind die englischen Zungenbrecher, bei denen ich auch nach der fünften Wiederholung nicht nachkomme – und die den britischen Humor ins Unterrichtszimmer bringen… Hier der “fave” von Suze: “Mrs Puggy Wuggy has a square cut punt. Not a punt cut square, just a square cut punt. It’s round in the stern and blunt in the front. Mrs Puggy Wuggy has a square cut punt.”

Ensemble: Zuhören. Atmen. Dasein.

Zu Beginn begleitete uns die Schauspielerin und Bewegungsdozentin Chiara D’Anna im Prozess, uns als Menschen und Performende im Raum zu begegnen. Sie führte uns durch ein Bewegungsvokabular, das im Physical Theatre oft gebraucht wird und als Grundlage dient, sich intensiver mit gewissen akrobatischen Elementen beschäftigen zu können.

Durch den Fokus auf die Form und die aktive Zusammenarbeit, um zum Beispiel Gewicht abzugeben im Liegen über den Rücken einer:s Mitstudente:in, wurden wir körperlich aneinander gewöhnt und lernten, uns zu vertrauen. Die Entscheidung, aus uns in den ersten vier Monaten ein Ensemble zu machen, ist natürlich bewusst gefällt, und stammt aus Ian Morgan’s Expertise in Company-Produktionen.

Mein persönlich wichtigstes “Take-Away” ist, dass in einem Chor oder in einem Ensemble nicht alle gleich sein müssen – im Gegenteil. Ein Chor lässt Platz für jede einzelne Figur, sich selbst zu sein und Dynamiken aufzugreifen, die entstehen, gerade weil es unterschiedliche Energien gibt. Wir als Ensemble haben uns mit der Zeit aufeinander eingestimmt und lassen der Individualität der einzelnen Menschen und Spielenden Platz; gleichzeitig erschaffen wir etwas, das im Raum bestehen kann, das grösser ist als unsere kumulierte Energie: eine Nachhaltigkeit in unserem Wirken durch das Zusammenspiel. Am besten wird dies deutlich, wenn wir uns alle im Raum bewegen, gemeinsam atmen und unsere Bewegungen unsichtbar durch den Atem aufeinander abgestimmt sind.

Devising: Impulsen vertrauen. Bauen. Stärken.

In einem Modul präsentieren wir alle zwei Wochen ein neues 15- bis 20-minütiges Kurzstück. “Contextual Studies” ist so aufgebaut, dass wir zwei exemplarische Stücke einer bestimmten kunst- oder kulturhistorischen Epoche lesen und diese dann umsetzen. Unsere 18 Performenden sind in 3 Gruppen aufgeteilt, wobei zwei Gruppen die Texte umsetzen und eine Gruppe frei nach den Themen der Stücke etwas Eigenes kreiert.

Für die Umsetzung dieser Stücke ist zentral, dass wir uns mit den zu der Zeit des Stückes herrschenden Konventionen des Schauspiels sowie des politischen Klimas auseinandersetzen. Beides beeinflusst immens, was wir hervorbringen und je mehr wir uns auf den jeweiligen Spielstil und das “Warum” des Stückes einlassen können, umso klarer wird die Sprache der Performance selbst.

Das möchte ich unbedingt weiterziehen nach dem MA: das Interesse an dem, was bereits war und wie wir uns diese Theatersprachen aneignen und weiter kultivieren können – nebst dem Interesse daran, neues und eigenes zu erschaffen. (Nebst Theaterliteratur dafür wie “Theatre Histories – An Introduction” von Zarilli/McConachie/Williams/Sorgenfrei ist “The Story of Art Without Men” von Katy Hessel oder ihr Podcast “The Great Women Artists” empfehlenswert.)

Gleichzeitig lernen wir in den Unterrichtseinheiten “Physical Performance” und “Developing Performance” Techniken und Strategien, Performance zu entwickeln. Aus einem Bild, einer Idee, einem Gedicht, einem Lied, einem Satz oder einem Blick werden Fragmente und Szenen entwickelt. Aus einer kontextlosen Handlung, die wir beobachtet haben im Alltag, aus einer Haltung, die wir eingenommen haben im physischen Training, aus einem Gefühl, das gerade vorherrscht… Aus einem Buch, einem Film, einem Foto aus dem persönlichen Archiv, aus Aussagen in der Politik, aus der Erzählung einer Freundin, aus einem alten Projekt, aus dem Traum eines zukünftigen Projekts, aus der Idee eines Ensemble-Mitglieds. Wir lernen, uns zur Verfügung zu stellen, in der Co-Präsenz mitzubauen und Impulse zu stärken.

Sieben Monate “ofem Bode omerugele” und intensiv mit den gleichen Menschen in einem Raum arbeiten. Ich freue mich auf die verbleibenden fünf.

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