Wachstumsschmerzen – Februar in London

Neue Schauspielschule, Umzug nach London, neue Menschen und schlechtes Wetter – in Corinnes Kopf und Körper rumort es – Teil 3 aus Corinnes London-Serie.

Ankommen. Wachsen. Freude haben: Ich hatte mir vorgestellt, wie bereichernd die Schule sein würde – auch wenn es viel wäre. Ich hatte mir vorgestellt, wie ich wachsen würde, als Mensch, als Performer:in. Ich hatte mir vorgestellt, dass ich an Grenzen kommen würde, die ich noch nicht kannte und diesen mit gaaaanz viel Grosszügigkeit begegne und nebenbei einfach so besser würde in dem, was ich tue.

Wenn ich das jetzt so aufschreibe, dann klingt das erstmal toxisch positiv in meinen Ohren. Aber ehrlich – im Vorfeld waren diese Gedanken alle total positiv besetzt: Wachstum! Herausforderung! Persönliche Grenzen testen und verschieben! Ich habe mich auf diese Herausforderungen gefreut. Mein früheres Ich hatte mir diesen Lebensabschnitt zugestellt mit der Nachricht “I hope this experience finds you well.” Und ich habe meinem Ich vertraut, dass ich das schon hinbekommen werde.

Nun sitze ich im Bett, mit einer Grippe und sich im Kreise drehenden Gedanken. Bin ich überhaupt ein:e Performer:in? Bin ich am richtigen Ort? Bin ich bereit, meinen persönlichen Komfort aufzugeben? Wieso ist es hier immer so kalt? Ich komme aus der Schweiz, wieso macht mir die Kälte so viel aus? Wieso habe ich jede Woche eine andere Verletzung oder bin krank? Wie viele Tage sind bereits vorbei? Wie viele Tage kommen noch? Soll ich anfangen, runterzuzählen?

Kann ich nach diesem Jahr aufhören mit Theatermachen? Kann ich mir dann endlich sagen, “been there, done that” und mich etwas anderem zuwenden? Was würde ich noch gerne mit meiner Lebenszeit anfangen? Welche dieser Gedanken sind jetzt genau Fluchtgedanken und welche sind Zeichen eines „gesunden Wachstums“ oder einer Weiterentwicklung?

Natürlich schmerzt Wachstum. Oh, ich kann mich so gut erinnern, als nach der Weisheitszahn-Operation in meinem Mund mehrere Wochen neues Fleisch nachgewachsen ist. Und die Löcher ausgefüllt hat, wo vorher ein Zahn drin war. Meine Güte, war das unangenehm …

Jede Geburt von etwas ist mit dem Verabschieden von etwas anderem verbunden. Und so sterben eben gerade ganz viele kleine und grosse Glaubenssätze in mir drin ab oder entstehen neu. Viele Strategien, die ich über Jahre angewandt hatte, ob in meinem künstlerischen Leben oder in zwischenmenschlichen Beziehungen, sind hier entweder nicht zu gebrauchen oder müssen ersetzt werden, weil sie ausgedient haben.

Die Frage nach der Grenze zwischen Disziplin und Selbstausbeutung zum Beispiel. Ich habe in der freien Szene gelernt, über meine Grenzen hinaus zu arbeiten. Wenn etwas erschaffen werden soll, dann geht das nur, wenn wir Vollgas geben und uns für eine Weile selber vergessen – bis das Projekt Premiere gefeiert hat oder abgespielt ist. Danach braucht es ein paar Monate Pufferzeit, um wieder zu einer emotional und sensorisch regulierten Version deiner Selbst zu werden.

Wenn ich hier mit der gleichen Intensität an die Arbeit herangehe, bin ich nach 3 Monaten weg vom Fenster oder krank (voilà). Ich muss lernen, eine gesunde Form der Disziplin zu entwickeln, die Schritt für Schritt nimmt und dran bleibt, die aber auch weiss, wann der Arbeitsalltag zu Ende ist und das Wochenende beginnt (ein Wochenende!?). Aber! Wenn ich nicht alles gebe, wie lerne ich dann am meisten? Ich habe nur dieses eine Jahr!

Es hilft, wieder an die Weisheitszähne zu denken. Ich hatte damals absolut keine Chance, diese neue Fleischwerdung aufzuhalten. Es wucherte einfach vor sich hin. Und so ist es wohl auch jetzt. Das einzige, was ich tun kann, ist, dankbar zu sein, dass die Zellen offensichtlich wissen, was sie tun. Auch wenn ich das gerade nicht von mir selbst behaupten kann.

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