Neustart – zwischen Aufregung und Anspannung
Plötzlich nach London? Ortswechsel für Ausbildung und Karriere sind für Darstellende keine Seltenheit. Wir begleiten Corinne Soland beim Abenteuer eines Ortswechsels mit Hoffnungen, Freuden und Überraschungen.
Von Corinne Soland
Eins: Die Bewerbung
Ende Juli 2024, vor knapp 5 Monaten, betrat ich ein massives Gebäude an der Gower Street 62-64 in London. Ich wurde gebeten mit dem Lift in den 5. Stock zu fahren. Dort traf ich auf weitere Schauspielende und Theatermenschen, die bereits aufgeregt auf ihren Stühlen sassen, alle im Kreis, nervös lächelnd.
Nachdem ich meinen Rucksack hin- und meine Sachen abgelegt hatte, blickte ich mich im Raum um. Dabei kreuzte mein Blick den eines Mannes, ca. 45-jährig, Stoppelbart, Mütze und lässiges Hängen im Stuhl. Wir sagten nichts, nickten uns stumm über den Raum zu. Die jungen Menschen neben mir begannen ein zögerliches Gespräch, in das ich involviert wurde. Es ging um die bisherigen individuellen Ausbildungen, ihre vorbereiteten Texte und die möglichen heutigen Aufgaben.
Ent-Spannung
Wir taten noch eine ganze Weile so, als ob wir alle sehr entspannt wären und locker-flockig Spässe machen konnten. Bis der Mann mit Stoppelbart und Mütze die Anspannung durchbrach und in unsere Mitte warf, wie unangenehm sich das alles gerade für ihn anfühlte. Erleichterung breitete sich aus. Menschen atmeten aus. In mir drin legte sich etwas, ich lächelte, und meine Finger legten sich beruhigt auf meine Oberschenkel ab.
Wieder wechselten der Mann mit der Mütze und ich einen Blick, ich schickte ihm ein gemimtes “Thank you” . In den nächsten Minuten tauschten Menschen Plätze , relativ ungezwungen. So kam es, dass der Mann sich neben mich setzte. Wir wechselten ein paar Worte – woher kommst du (Er: London, Ich: Zürich), wie heisst du (Er: Klaus*, Ich: Corinne), was tust du (Ich: Schauspiel und Künstlerische Forschung, er: Schauspiel und Theaterpädagogik) – als eine Frau den Raum betrat und uns Willkommen hiess. Nun also würde es beginnen. Nun also wurde es Ernst. Audition time.
Spiel und Wettkampf
Am Vormittag arbeiteten wir alle zusammen in einem Workshop, von 10-13 Uhr. In drei verschiedenen Übungsanlagen wurden wir durch Viewpoints geführt, erarbeiteten eine Komposition mit szenischen Elementen und Improvisation und trugen unsere modernen und klassischen Texte einzeln, aber von der Gruppe gestützt vor. Wir bewegten uns nonstop, abgesehen von 2 Trink- und Pinkelpausen. Dies alles angeleitet vom Studiengangsleiter und unter dem wachsamen Auge einer Dozentin, die fleissig mitschrieb.
Am Nachmittag standen Einzelgespräche an: Welche Art von Theater begeistert dich? Wenn du ein Budget aufstellen könntest für eine Produktion, was und wie würdest du es produzieren? Wie würdest du ein Stück entwickeln und mit wem? Welche Themen interessieren dich und weshalb? Holy guacamole, das war intensiv … Ich wurde als letzte Person interviewt. Nachdem ich von den beiden Dozent:innen noch last-minute-must-see Theatertipps für den Abend erhalten und ihre Hand geschüttelt hatte, schwebte ich die vielen Treppenstufen aus dem 5. Stock wieder hinab und überliess meinen Körper dem Strom Menschen vor der Tür.
Alles neu
Ich war numb, aber high. Ich schwebte, weil ich so glücklich war und es gleichzeitig nicht fassen konnte, dass gerade passiert war, was passiert war. Ich hatte bei der Royal Academy of Dramatic Arts vorgesprochen, für einen Master in Schauspiel. The audacity!
Obwohl das Hotel nicht weit entfernt war, in dem ich ein Zimmer gebucht hatte, schwebte ich ein paar Mal um das RADA-Gebäude herum, immer wieder dieser Schriftzug, diese Namen der Abgänger:innen, diese Stadt …
Irgendwann setzte sich alles und ich stieg erneut in den 5. Stock, dieses Mal im Hotel in den Dachstock. In der brütenden Londoner Juli-Hitze legte ich mich hin und liess die Welt sich drehen. Jetzt beginnt ein neues Leben. Ich wusste, dass, auch wenn es nicht klappen würde, dieser Moment ein wegweisender war. Irgendetwas in mir drin veränderte sich. Die Bausteine in mir verschoben sich. Ich war neu. Das hier war neu.
Raum für Möglichkeiten
Ich habe in den darauffolgenden Wochen nach der Audition noch oft an diesen Moment gedacht. Ein Moment, in dem alles möglich ist. Ein Moment, in dem die Welt offen steht. Ich weiss, dass ihr das alle auch schon gespürt haben müsst. Oder immer wieder mal spürt. Dass es vielleicht der Grund ist, weshalb ihr immer wieder auf diese Bühne steht. Weil es sich einfach so verdammt richtig anfühlt.
Und es das ist, wofür ihr hier seid. Auch wenn ihr noch für ganz vieles anderes auch hier seid. Aber dafür eben auch – für diesen Moment, diesen Möglichkeitsraum, der sich auftut, wenn ihr vorgesprochen habt oder an dem Casting wart oder eure Bewerbung abgeschickt habt. Oder auch, wenn ihr die Zu- oder Absage bekommt. Freigesetzte Energie. Wohin auch immer sie als Nächstes möchte – aber sie darf jetzt.
Neustart
Im August kam die Zusage für den einjährigen Master-Lehrgang. Nebst den notwendigen organisatorischen Leistungen (Sprachtest, Visum, Finanzierung auftreiben, Wohnung finden in London und so weiter), purzeln mit der Entscheidung, diese Chance wahrzunehmen, viele bekannte und unbekannte Gefühle ins Herz und den Körper.
Einige dieser Emotionen fühlen sich an, wie ein Teil einer Heilung. Andere fühlen sich an wie dem grössten Feind die Hand schütteln. Alles ist vorhanden und wenn ich mit Menschen darüber spreche, beschreibe ich es vor allem als “It’s a fine line between anxiety and excitement” (Zitat ist von irgendeinem Psychologie-Account auf Instagram). Und nebst den Gedankenreisen, Luftschlössern und Trauerzügen, die sich in mir abspielen ist da immer wieder pulsierend in meinem Hinterkopf: “what a privilege, what a privilege, what a privilege…”.
Challenge accepted
Ich studiere im kommenden Jahr also 12 Monate lang an der Royal Academy of Dramatic Arts in London. Aufbruch in eine neue Welt. Challenge accepted. Anfang Januar beginnt die Reise: Ihr erfährt von den Ups und Downs, den Mentor:innen, den Allies, den Projekten, die wir umsetzen, den bereichernden Momenten und Begegnungen, den harten Tagen und der Geldsuche für das Studium, dem Elixier, das ich mitnehme und den Lessons learned.
Am meisten jedoch werde ich von dem erzählen, wofür ich da bin: der Ausbildung. Von Commedia dell’ Arte über Clowning zu Shakespeare in Bwitish Inglish: der Austausch über unser Handwerk, unsere Kreativität und unsere Umsetzungen der Geschichten, die erzählt werden möchten, liegt mir am Herzen. Sollten bei euch Fragen oder Kommentare dazu auftauchen, meldet euch gerne beim Ensemble Magazin oder via @solacor_ auf Instagram.
PS: Auch Klaus wurde aufgenommen – ich bin mir sicher, der Londoner und seine Familie mit den zwei Töchtern sind begeistert. Let’s see, was wir alles kreieren zusammen!
* Name anonymisiert
Hinterlasse einen Kommentar
An der Diskussion beteiligen?Hinterlasse uns deinen Kommentar!