Leben & Kunst – eine Gratwanderung
Erlebtes füttert die Kunst, Gefühle geben der Darstellung Tiefe. Trotzdem müssen wir darauf achten, dass wir das Leben dabei nicht verhungern lassen. Eine Reflexion von Rebekka Burkhardt.
Die Theaterwelt ist ein Mikrokosmos, in den ein Mensch, vor allem in jungen Jahren, gut und gerne für lange Zeit abtauchen kann. Das Leben draussen fliesst, oft unbemerkt, am Mikrokosmos Theater vorbei. Anderer Rhythmus, anderer Takt …
Vieles passt nicht wirklich zusammen. Wir gehen zur Arbeit, wenn andere in den Feierabend gleiten. Zu Einladungen stossen wir nach der Vorstellung spät dazu – in einem komplett anderen Aggregatzustand als die Gäste am Tisch – versuchen uns nicht wie Fremdkörper zu fühlen und schnell in denselben Flow zu kommen.
Während der ersten Berufsjahre im Festengagement fällt es für uns nicht so ins Gewicht, wenn wir bei grossen Anlässen im Familien- und Freundeskreis fehlen. Wir sind ja in unserem geliebten Mikrokosmos – auf der Probebühne oder Bühne.
Doch die Jahre vergehen.
Zuerst fehlen wir an Familienweihnachten, Geburtstagspartys, Wohnungseinweihungen, Diplomfeiern und Klassentreffen. Dann kommen die Hochzeiten, Geburten und Taufen dazu, die grossen runden Geburtstage in der Verwandtschaft und später dann die Besuche an Kranken- und Sterbebetten – und die Begräbnisse. Der Lauf des Lebens eben.
Die beiden Planeten, die Theaterwelt und das Leben draussen, prallen öfter aufeinander, je älter wir werden und erzeugen gelegentlich ein unangenehmes Geräusch.
Wie lange darf ein Theatermensch am Wochenbett seiner Frau sitzen, ohne schlechtes Gewissen ob seiner Abwesenheit auf der Probe?
Ich erinnere mich an einen Dramaturgen, der wenige Stunden, nachdem seine Frau ihre gemeinsame Tochter auf die Welt gepresst hatte, dringend auf die Theaterprobe zurückwollte. Der absolute Ruf des Theaters war stärker als das Wunder eines neugeborenen Kindes und die Stille nach der Wucht einer Geburt. Seine Frau, ebenfalls am Theater tätig, nahm ihm das lange übel.
Wie gehe ich als Theaterschaffende damit um, wenn ein mir naher Mensch schwer erkrankt ist und im Sterben liegt – ich jedoch „dringend auf einer Probe oder in der Vorstellung gebraucht“ werde?
Leben oder Bühne
Mit knapp 30 Jahren stand ich auf festen Füssen im Ensemble eines guten Theaters, als die Krankheit meiner Mutter stark fortgeschritten war und ich während der ihr verbleibenden Zeit an ihrer Seite sein wollte. Also bat ich meinen damaligen Intendanten um eine sogenannte Freirunde, um nach Hause reisen zu können.
Er wollte meiner Bitte nicht nachkommen und meinte wörtlich: „Ein todkranker Mensch will auch einmal alleine sein“. Ich kann es bis heute nicht fassen, aber genau das waren seine Worte. Ich hatte nicht den Mut mich aufzulehnen und das Risiko einzugehen, dass der Intendant mich dann doch plötzlich für austauschbar hält. Das Haus hatte damals die Mittel und engagierte durchaus Gäste für Stückverträge. Es wäre also kein Problem gewesen.
Meine für mich unersetzliche Mutter schenkte mir als letzte Geste ein perfektes Timing und starb in der Spielzeitpause während der Theaterferien. Nach den Ferien war Mama begraben und ich ganz stumpf vor Trauer. Wir probten eine Komödie und ich wusste nicht wohin mit meinem Schmerz, der mich schwer und undurchlässig machte.
„Nimm es mit “, meinte der Regisseur hilflos.
„Nimm ES mit“?? – Diese absurde Aufforderung ist – oder war zumindest damals – ein gängiger Rat, damit die Schauspieler:in sofort alles in der Arbeit veredelt, was ihr widerfahren ist. Nur klappt das halt nicht so 1:1.
Während des Schauspielstudiums erlitt ich eine schmerzhafte Trennung und war am Tag darauf in der szenischen Arbeit versteinert vor Schmerz. Das Verständnis der Dozentin war gleich Null, obwohl sie von meiner Situation über Mitstudenten erfahren hatte. „Was das für ein Schmerz in meinem Gesicht sei? Der hätte in dieser Szene nichts zu suchen“, das waren ihre Worte. Ja, wenn das Leben zuschlägt, ist das ein ziemlicher Störfaktor in einem Probenprozess, der von uns Darsteller:innen Vitalität und emotionale Elastizität erfordert.
Wenn wir alles, was wir an Schmerzen und Schock erleben, sofort in Bühnengold verwandeln könnten, ohne es zuerst einigermassen zu verarbeiten, wie nice wäre das denn? Wunderbar effizient und praktisch – was wären wir für geniale ZustandsDurchlauferhitzer! Wie würden wir unsere Rollen – ohne Zeit zu verlieren – sofort mit dem Erlebten füllen!
Schmerz braucht Zeit
Aber bloss weil ich eine schmerzhafte existenzielle Situation erlebt habe, heisst es nicht, dass ich diese sofort ganz hervorragend in einer Rolle nachspielen kann. Manchmal geht das nie und das Erlebte bleibt verschlossen und unzugänglich. Meiner Erfahrung nach lösen traumatische Erlebnisse wie Trauer und Verlust erstmal Schock und Blockaden aus.
Die Psyche schützt sich und verschafft sich so die Ruhe und Zeit, die sie braucht und das Erlebte einzuordnen und Schritt für Schritt zu verarbeiten. In unserer Arbeit als Theaterschaffende ergründen wir das Leben in all seinen Facetten und zeigen dies auf der Bühne – das ist die Quintessenz unseres Berufes. Aber angesichts existenzieller Dinge wie Geburt, Krankheit und Tod im richtigen Leben, gelten andere Gesetze. Das Theater mit seinem Absolutheitsanspruch muss sich für einmal demütig zeigen und hinten anstehen.
Das deutlich zu spüren und selbstbewusst durchzusetzen ist schwer. Vor allem in jungen Theaterjahren.
Als mein Vater, selbst ein Theater-Narr, ein paar Jahre nach meiner Mutter im Sterben lag – ich war Mitte 30 und mitten in den Endproben – schickte er mich beherzt weg. „Geh auf die Probe – Höchste Eisenbahn!“, das waren seine Worte. Komplett in Trance folgte ich seiner väterlichen Aufforderung und stand die ganzen Proben und Vorstellungen hindurch unter Schock. Warum bin ich nicht an seiner Seite geblieben?
Wieder ganz stumpf vor Schmerz, war ich eher eine Last für die Produktion. Wäre es nicht professioneller gewesen, den Proben fernzubleiben? Einige Jahre später war es dann mein Ehemann, der schwer krank war. Dazu war ich Mutter einer knapp 1-jährigen Tochter.
Liebe Leser:innen dieser Kolumne, ich bitte um Verständnis für diese Dramadichte – aber so war es nun mal bei mir. So ziemlich alle existenziellen Lebensmomente fanden bei mir innerhalb einer Dekade statt.
Priorität Realität
Diesmal erlebte ich die berufliche Situation aber positiv anders: Ein Regisseur wollte mich unbedingt in seinem Stück am Stadttheater dabei haben und liess mir total freie Hand, was meine Proben Präsenz anging. „Wie immer du kannst und magst“, sagte er. „Ich möchte dich einfach unbedingt dabei haben“.
Ich konnte sein grosszügiges Angebot nicht annehmen. Ich wäre nur mit halber Theater-Kraft dabei gewesen und so blieb ich an der Seite meines todkranken Mannes und bei meinem Kind. Im Theater befassen wir uns mit den grossen Themen unseres Menschseins und bringen uns mit der Summe unseres bisher gelebten Lebens ein: mit allem, was wir sind und was wir zu wissen glauben.
Die Zuschauer danken es uns, wenn wir ihnen einen Moment der Erkenntnis und Wahrhaftigkeit schenken. Das macht das Theater so groß.
Aber wir sollten nicht vergessen: Das Leben ist grösser und der Mikrokosmos Theater muss sich dem manchmal beugen.
Am Bett eines nahen, schwerkranken sterbenden Menschen zu sitzen ist wichtiger als jede Theaterprobe.Die ersten Tage und Wochen meines neugeborenen Kindes sind kostbar und unwiederbringlich. Theaterproben hingegen können wieder aufgenommen und Vorstellungen umbesetzt werden. Und ja – natürlich gibt es auch das Phänomen der Erlösung und der Ablenkung von einer aktuellen schmerzhaften Situation, die durch die Theaterarbeit auf der Bühne für die Zeit der Vorstellung erträglich wird. Spielen, um einen Moment lang zu vergessen.
Aber das ist ein anderes Thema – In diesem Sinne, frohe Festtage!
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