Hinter die Maske blicken
Der erste Eindruck wiegt schwer – im Leben wie auch bei Castings. Sympathie verschafft mehr Auftritte als pures Talent. Ist das unfair? Unsere Kolumnistin Steffi Gygax denkt über die eigenen Vorurteile nach.
Von Stefanie Gygax
Mein erster Ballettlehrer sprach einst einen Satz, den die kleine Stefanie nie wieder vergessen konnte: „You never get a second chance for your first impression.“
Wie viele Sachen aus der Schule habe ich gleich wieder vergessen, aber diese Aussage blieb hängen. Immer wieder beobachte ich bei mir selber, wie das erste Sehen wirkt. Es zeigt die Wichtigkeit der emotionalen Komponente, welche immer Auswirkung auf die künstlerische Tätigkeit hat. Wir erleben aber immer wieder, dass wir nach dem ersten Eindruck noch überrascht werden. Das freut mich pdann ganz besonders, weil ich eigentlich Vorurteile ablehne, auch wenn ich ihnen selbst immer wieder auf den Leim gehe.
Nicht nur ich. Eine Kollegin, die selbst mittlerweile Stücke produziert und Castings dafür macht, sagte mir einmal, dass die Entscheidung eigentlich zu 90% schon gefallen sei, wenn ein*e Kandidat*in zur Tür reinkommt. Meistens entscheidet der Typ Mensch und sein Auftreten, bevor er/sie beginnt zu spielen oder zu singen. Stell dir das mal vor: Dein Können ist ganz und gar sekundär!
Gerade in letzter Zeit fällt es mir wieder ganz besonders auf, wie stark der erste Eindruck wirkt. Ich will es dann oft nicht wahrhaben und beginne ein Gespräch, um das Sprichwort mit Lügen zu strafen. Aber mein erstes Gefühl bestätigt sich leider oft. Meine bald 80-jährige Gesangslehrerin, eine Operndiva, die überall auf der Welt gesungen hat, sagt immer wieder: «Wenn jemand auf die Bühne kommt, dann weiss ich schon, wie er/sie singt!»
Wie gesagt, auch ich urteile oft nach dem ersten Eindruck. Meist haben wir gar keine Kontrolle über unsere emotionale Wahrnehmung.Doch önnen wir diese Tatsache positiv für uns nutzen? Inwiefern haben wir darauf Einfluss, unseren ersten Eindruck auf andere Menschen zu verändern?
Wenn ich bei einer fertigen Produktion auf die Bühne komme, mache ich mir keine Gedanken darüber, weil ich in der Rolle bin. Aber bei einer Audition finde ich das wahnsinnig anstrengend. Ich soll mich selbst sein, authentisch und keine Rolle spielen, aber dann auf Knopfdruck in eine Figur springen, wenn ich anfange zu singen.
Vielen Menschen spielen auch privat eine Rolle, geben vor, jemand zu sein, der sie nicht sind. Die Jury oder der Arbeitgeber wird getäuscht und ist dann überrascht, wenn die Person bei der Zusammenarbeit total anstrengend ist. Denn in einem intensiven Probeprozess, in dem man oft bis aufs Äusserste gefordert ist, kann man eine Maske nur noch schwer aufrecht halten. Meiner Erfahrung nach haben wir nur wenig Einfluss auf unseren ersten Eindruck. Auch wenn ich den Moment bewusst wahrnehme und meine beste Seite zeige, heisst das nicht, dass dies auch so ankommt.
Ein Bekannter erkundigte sich bei einer gemeinsamen Kollegin, was diese eigentlich gegen mich hätte. Worauf diese antwortete: «Ja also, die Steffi war beim ersten Treffen so überschwänglich, dabei kannten wir uns ja gar nicht.» Na ja, ich hatte mich einfach dermassen auf die erste Kostümprobe gefreut, aber das kam wohl gar nicht gut an.
Gerade heute zeigte sich ein weiteres Beispiel: Ich spiele derzeit die böse Hexe bei einer Halloween-Show und die Tochter einer Kollegin wollte nach der Vorstellung die ganze Zeit wissen, wo jetzt die böse Hexe ist? Deshalb nahm sie ihre Tochter mit in die Garderobe, um ihr zu zeigen, dass die «Böse» im Stück, im wahren Leben ganz lieb ist. Dieses Mädchen schaute mich an in meiner Gruselmaske und ich redete ganz sanft mit ihr, zog allmählich Perücke und Hut aus, um ihr zu zeigen, dass ein Mensch darunter steckt.
Wie dieses 3-jährige Kind mich anschaute, werde ich wohl mein ganzes Leben lang nicht vergessen. Sie konnte nicht glauben, dass dieser erste Eindruck so falsch gewesen war. Ich musste doch böse sein, wenn ich so gruselig geschminkt bin und vorher auf der Bühne Schaden angerichtet hatte. Und trotzdem sah ich in ihren offenen Augen, dass sie von dieser Diskrepanz fasziniert war.
Mein Fazit: Der erste Eindruck hat eine immense Wirkung auf uns, aber es lohnt sich auch immer, hinter die Fassade zu blicken. Vielleicht steckt da gar keine Hexe drin.
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