Schöne, neue Welt
Wir leben an der Bruchkante zur Zukunft – digitale Personas können Menschen ersetzen, technische Entwicklungen rasen an uns vorbei, um im Übermorgen auf uns zu warten. Corinne Soland taucht in Gefahren und Möglichkeiten.
Von Corinne Soland
Künstliche Intelligenz und Schauspiel. Ja, es löst etwas aus in uns, oder? Zu denken, in einer grösseren Produktion können “sie” uns jetzt einfach jünger oder älter retuschieren (gerade gesehen in der SRF Serie “Mindblow”). Oder ersetzen? Modellieren ist ja seit längerem möglich, doch erst durch die gesteigerte Rechenleistung der letzten paar Jahre sowie der Entwicklung von computerbasierten Modellen können solche Prozesse nun deutlich effizienter gestaltet werden und werden somit in mehr Produktionen eingesetzt. Auch inhaltlich ist das Interesse an Stoffen gestiegen, die sich mit künstlicher Intelligenz beschäftigen.
Gestern: Scarlett Johansson musste 2024 rechtlich gegen OpenAI vorgehen, um zu verhindern, dass ChatGPT nach ihrer Stimme klingt. Mit dem Film “Her” wurde ein Vorbild geschaffen, das die Schauspielerin nun tatsächlich zu spüren bekommt. Auch die berühmte “Sky” Stimme ist davon betroffen.
Vorvorgestern: 2019 gab es Neuigkeiten über einen Film mit James Dean – beziehungsweise seinem digitalen Double, hergestellt aus bestehendem Filmmaterial und neu zusammengesetzt von einem Algorithmus. Zelda Williams, Tochter des verstorbenen Schauspielers Robin Williams, bezeichnete dies als “puppeteering the dead”, “mit den Toten Puppen spielen”. Bis heute ist der Film nicht erschienen.
Gestern: Ein Chinesisches Gericht hat im April 2024 zu Gunsten einer Synchronsprecherin entschieden, die sich gegen den missbräuchlichen Einsatz ihrer Stimme gewehrt hatte. “Das Gericht stellte fest, dass die Beklagten unerlaubt die Stimme der Klägerin in ihren KI-Text-zu-Sprache- Anwendungen genutzt haben, wodurch die Persönlichkeitsrechte der Klägerin verletzt wurden. Frau Yin forderte, dass die Beklagten sie für ihre wirtschaftlichen Verluste und seelischen Schmerzen entschädigen und sich für die unerlaubte Nutzung ihrer Stimme entschuldigen.
Das Gericht entschied, dass die KI-generierten Stimmen aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit Frau Yins Stimme identifizierbar waren und daher ihre Persönlichkeitsrechte verletzten. Weiterhin stellte das Gericht fest, dass die Beklagten nicht die erforderlichen Genehmigungen für die Verwendung ihrer Stimme hatten und ordnete eine Entschädigungszahlung an Frau Yin an. Dieser Fall markiert ein bedeutsames Urteil zum Schutz vor der unbefugten Verwendung von KI zur Nachahmung menschlicher Stimmen. Es zeigt auch die Bedeutung von klaren Regelungen und Genehmigungen bei der Nutzung von KI-Technologien und könnte zukünftige Verhandlungen und Vertragsbeziehungen in der Medien- und Unterhaltungsindustrie beeinflussen.”
Vorgestern: Helena lebt in den USA, arbeitet als Musikerin und Sprecherin und bereut, ihre Stimme für 3000 Franken an Microsoft verkauft zu haben.
Vorvorgestern: Szenen aus dem Film “S1mone” von Andrew Niccol: Ein Produzent (Al Pacino) steht vor dem Problem, dass ihm seine Hauptdarstellerin vom Set gelaufen ist. Er beschliesst kurzerhand, eine virtuelle Schauspielerin zu kreieren und feiert damit grosse Erfolge, kommt aber an seine Grenzen, als Simone (Rachel Roberts) für weitere Filme, Live-Auftritte und Interviews angefragt wird und er die virtuelle Person auch vor seiner Familie geheim halten muss.
Heute: Undenkbar und skandalös war es im Film “S1mone” eine solche virtuelle Person zu kreieren, zu besetzen und als real auszugeben – heute würde ein*e Produzent*in wahrscheinlich gefeiert werden dafür, einen solchen Meilenstein zu erreichen. Wenn wir den Film heute anschauen, bemerken wir aber auch, dass allgemein ein gesellschaftlicher Wandel stattfand: die blonde, weisse Schöne wird künstlich hergestellt, wird zur digitalen Puppe eines männlichen weissen Wahnsinnigen und kümmert sich dann auch noch um dessen Gefühle, als ihm die Sache über den Kopf zu wachsen beginnt. Care Arbeit eines Roboters also. “Taking care of someone”, sich um eine Person kümmern, entweder mit Fürsorge-Arbeit oder/und auf einer emotionalen Ebene – das wäre mal ein Thema, das die gleichen Schlagzeilen verdient hätte wie derzeit die Künstliche Intelligenz!
Morgen: Ich kann ein Modell mit meiner Stimme trainieren, sie für mich sprechen, arbeiten und Geld verdienen lassen und in der gleichen Zeit einen Antrag schreiben für ein Theaterstück, das ich produzieren möchte. Fingers crossed, dass wir gute Richtlinien bekommen und faire Gagen-Ansätze. Es wird konkret, übrigens: Der Verband deutscher Sprecher:innen hat bereits Statements, Ausschlussrichtlinien und rechtliche Abklärungen auf seiner Website publiziert. Die Schweiz rückt nach, diverse Verbände und Dachorganisationen, u.a. Interpret*innen (SIG), SzeneSchweiz, SSFV sind daran, herauszufinden, was für die Schweiz gelten könnte. Auch das AI Toolkit von EQUITY (UK) ist empfehlenswert.
Immer?: Wie viele Millionen werden schon wieder geschätzt…? Nein, stimmt, es sind Milliarden… 434 Milliarden sogar. So viel kostet die Care-Arbeit, die momentan nicht bezahlt wird. Ausserdem: “Zwei Drittel (60%!) der unbezahlten Arbeit werden aktuell von Frauen geleistet. Würden Frauen [Anm.: leider werden sowohl trans- wie auch nichtbinäre Personen statistisch nicht erfasst] ihre unbezahlte Arbeit nur um 10 Prozent kürzen, hätte das dieselbe Auswirkung auf das Bruttoinlandsprodukt wie die Schliessung sämtlicher Einrichtungen des bezahlten Gesundheits- und Sozialwesens. Eine gewisse Umverteilung der unbezahlten Arbeit findet zwar statt, jedoch nicht von Frau zu Mann, sondern von Frau zu Frau: Immer öfter übernehmen Migrantinnen Haus-, Pflege- und Betreuungsarbeiten.”
Heute: Noch ist Maschinelle Intelligenz nicht so weit, dass sie Spielende komplett und in allen Einstellungen simulieren können. Besonders spezielle Kamera-Winkel machen der Bildgenerierung Mühe und natürlich auch der adäquate menschliche (emotionale?) Ausdruck. Noch werden wir als Spieler*innen also nicht ersetzt und dürfen unseren Beruf ausüben UND Care-Arbeit übernehmen. YAY. Jackpot.
Übermorgen: Was wir tun können, scheint mir folgendes: Laut bleiben, dass wir spielen möchten. An uns und unserem Instrument weiterforschen und neue Wege finden, Menschlichkeit darzustellen. Ein wenig darüber nachdenken, was denn Menschlichkeit für uns bedeutet – und wer es sich aktuell denn überhaupt leisten kann, Menschlichkeit zu zeigen – oder Schauspieler*in zu sein. “Taking care of each other”, als Spielende, als Menschen, die in dieser Branche unterwegs sind. Und dann ganz laut für menschliche Schauspielende einstehen, wenn der Zeitpunkt gekommen ist.
Ach ja und:
Überübermorgen: Lea Whitchers neuem Projekt folgen, in welchem sie eine utopische Parallelwelt entwirft, in der zwar auch KI Platz hat, die aber komplett auf Care Arbeit basiert. Es ist ein künstlerisches Rechercheprojekt an der Schnittstelle zwischen Literatur, Aktivismus und Theater. Ich empfehle diese Simulation allen, sie ist krasser als jedes computergenerierte Bild. Weil sie in unserem Kopf und unserem Herzen entsteht aus unserer Fantasie, genährt von Leas Texten, unserem Hässigsein und befeuert durch unseren Willen, Mut und unserer Lust, diesen Beruf “careful” ausüben zu können. Alle Infos unter #carecity _stories*, das findet euer Google Algorithmus bestimmt für euch.
Corinne Soland schreibt im ENSEMBLE zum Leben in einer als Darsteller*in im 21. Jahrhundert. Corinne spielt “Anna” in Neumatt, “Isabelle” in Monsieur Claude und seine Töchter (Bernhard Theater), “Emma” im VR Game Amazing Monster! und spricht als “Jimmy” und “Dimitri” im Guetnachtgschichtli. Corinne lebt in Basel und unterrichtet Motion Capture Schauspiel an interessierte Spielende.
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