«Alles vergessen, was ich gelernt hab!»

Hollywood, London, Berlin? Nein, Sandro Stocker zog aus, um in Lima Telenovela-Star zu werden. Wir sprachen mit Sandro über Kulturschock, Netzwerk und eine Filmindustrie ohne staatliche Unterstützung.
Das Interview wurde per Videocall geführt.

Sandro, deine Karriere in der Schweiz lief gut. Wie kommt man als Schweizer Schauspieler dazu, plötzlich seine Sachen zu packen und sich in Peru auf die Suche nach einer Telenovela-Karriere zu machen?

Sandro Stocker: Das habe ich mich auch schon gefragt. Aber ich bin nicht einfach eines Morgens aufgestanden und nach Lima geflogen. Das war ein Prozess. Vor circa drei Jahren, also noch mitten in der Pandemie, wurde ich vom Kinderhilfswerk Embolo-Foundation angefragt, ob ich für sie als Botschafter nach Peru gehen würde. Durch die Corona-Massnahmen waren Einreisen nur für Personen möglich, die hier Verwandte haben. So habe ich das Land wiederentdeckt.

Wiederentdeckt?

Ja, als ich das letzte Mal vor der Pandemie nach Peru reiste, hatte ich sehr schwierige Erfahrungen gemacht. Damals war ich sechzehn und danach überzeugt, dass ich nie mehr nach Peru wollte.

Was hat sich geändert?

Ich hab mich geändert. Ich bin nicht mehr 16 und ich bin wohl offener für neue Kulturen und flexibler. Und nach einigen Besuchen verliebte ich mich in das Land.

Wie hast du dich eingelebt? Wie war der Kulturschock?

Die Schere zwischen Arm und Reich ist hier extrem.  Es gibt kaum einen Mittelstand und nur Bessergestellte können es sich leisten, überhaupt eine Karriere im Filmbusiness anzustreben. Ich lebe zum Beispiel in Miraflores, einem der wohlhabenderen Teile von Lima, um von der Szene auch ernst genommen zu werden. Zuerst versuchte ich, in meiner Schweizer Naivität, dieses Klassendenken zu durchbrechen, aber Peru hat nicht auf mich gewartet, damit ich eine soziale Revolution beginne. Inzwischen spiele ich nach den hiesigen Spielregeln.

Wie sieht das aus?

Hier gibt es nicht wie in der Schweiz einen Verband oder staatliche Stellen, bei denen man sich Unterstützung und Information holen kann. Hier läuft alles über persönliche Netzwerke. Ich ging zuerst einfach mal auf Google und suchte nach „Filmindustrie Peru“. Da gabs keine Treffer.

Was hast du dann gemacht?

Ich suchte mir die Social Media-Profile der  erfolgreichen peruanischen Schauspieler*innen und spamte sie mit Anfragen voll.

Das hat funktioniert?

Nur einer hat geantwortet. Der peruanische Filmemacher Tommy Paraga war gerade mit seinem Film „Cancion sin Nombre“ in Cannes und meinte, wir sollten mal was trinken gehen. Er war es, der mich hier meinen ersten Kontakten vorstellte und mir die Tür in die peruanische Filmwelt einen Spalt öffnete.

⇒Du hast eine Geschichte zu erzählen? Melde dich hier!⇐

Wie reagieren die Filmleute in Peru auf einen Schweizer?

Zuerst war da das Sprachproblem. Ich brachte zwar etwas Spanisch mit, aber für die meisten Gespräche musste ich auf Englisch zurückgreifen. Aber auch das Spanisch, das ich sprach, unterschied sich vom peruanischen Dialekt. Inzwischen nehme ich Peruanisch-Unterricht.

Hat die peruanische Filmindustrie auf Sandro Stocker gewartet?

Nicht wirklich. Aber gerade durch meinen Hintergrund hab ich ein Alleinstellungsmerkmal. Ich sehe aus wie ein junger Peruaner, also wäre ich grundsätzlich in Konkurrenz mit Schauspielern, die besser Spanisch sprechen und die Szene besser kennen. Da hätte ich wenig Chancen. Aber durch meinen offensichtlich fremden Background werde ich auch für andere Rollen gecastet.

Der Cousin aus Europa?

Haha, ja solche Sachen.

Wie sieht das Arbeiten in der peruanischen Film- und Theater-Branche im Alltag aus?

Die Kultur unterscheidet sich doch sehr. Ich bin mich gewohnt, Dinge zu planen und dann auch durchzuziehen. Punkt für Punkt und pünktlich. Das ist hier Gold wert.  Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit. Arbeitsethos.

Alles, was wir in der Schweiz als etwas „bünzlig“ anschauen, gibt dir einen Vorteil?

Ja, genau. Ich hatte hier eine Theaterrolle und konnte den Text vor der ersten Probe auswendig. Die Reaktion? „Sandro, du musst etwas lockerer werden.“ Oder ein Bierchen während der Probe? In der Schweiz ein Skandal, hier völlig normal. Ich musste wirklich erst neu lernen, wie man entspannter mit dem Leben umgeht. Aber ich habe den Vorteil, dass ich beides kann.

Sandro, warum Telenovela?

Das war von Kindheit an mein Traum. Und jetzt bin ich noch jung und flexibel genug, um es auszuprobieren.

Bei den „seriösen“ europäischen Schauspieler*innen gilt diese Kunstform als „Trash“ …

Haha, ja. Es wird ganz anders gespielt. Als ich hier ankam, ging ich auf die lokalen Streamingdienste und schaute mir an, wie die Leute hier spielen. Und ich dachte „Oh. Mein. Gott.“ Hier wird alles Over the Top gespielt. Alles, was ich in meiner Ausbildung gelernt habe, muss ich wieder ablegen. Dieses „alles kommt aus den Augen“ und die zurückhaltende Attitüde bringt dich nicht weiter. Hier muss ich gestikulieren, Drama ist nicht leise und subtil, sondern sichtbar und intensiv. Aber ehrlich gesagt, passt das zu mir, ist  näher an meiner echten Persönlichkeit. Und es macht ungeheuer Spass.

Kann man davon leben?

Noch nicht. Zurzeit gebe ich Kurse für Leute, die wirklich an Schauspielerei interessiert sind, und für Jugendliche, die so einmal in den Beruf schnuppern können. Hier geben viele Telenovela-Stars kurze Workshops, aber die werden mehr von Fans besucht, die ihren Idolen einmal nahe sein wollen. Schauspielerei wird da weniger wichtig genommen. Da kommt mir meine Schweizer Mentalität wieder zugute: Kunst und Schauspielerei ist solide Arbeit. Man bringt Qualität.

Wie reagieren deine peruanischen Kolleg*innen auf deine Karriereplanung?

Die verstehen das nicht. „Wieso kommst du aus Europa hierher?“ Für die meisten wäre es das Ziel, nach Hollywood oder nach London oder Berlin zu kommen. Den umgekehrten Weg kann sich niemand vorstellen. Sie halten mich wohl für ein bisschen komisch.

Wie sieht die Filmindustrie in Lima aus? Gibt es Subventionen?

Nein, hier wird alles über Werbung und Productplacement finanziert. Und die Filme, die in Europa an Festivals eingeladen werden, die Preise und Fördergelder bekommen, laufen hier in den Kinos kaum. Das interessiert hier niemanden, oft zu arty und zu intellektuell. Die erfolgreichen Produktionen sind alle massentauglich und auf das lokale Publikum zugeschnitten. Unterhaltung. Die Leute hier brauchen keine weiteren Probleme, wenn sie ins Kino gehen. Sie wollen im Gegenteil einfach mal abschalten von ihrem oft sehr schwierigen Alltag.

Wie sehen deine nächsten Schritte aus?

Netzwerken, netzwerken, netzwerken. An Premieren gehen, Theater spielen, Kontakte pflegen. Sichtbar sein. Telenovela-Star werden.

Wir wünschen dir viel Glück!

Ein Beispiel peruanischer Telenovelas:

 

 

0 Kommentare

Hinterlasse einen Kommentar

An der Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns deinen Kommentar!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert