Eneas Prawdzic: «Subversives, utopisches Potential»

Nach 5 Jahren als Hausdramaturg am Theater Neumarkt in Zürich blickt Eneas Nikolai Prawdzic zurück auf Stücke der Hoffnung, Produktionen wie Spitzensport und verrät, wie prägend Theater sein kann
Interview: Seraina Kobler

Eneas Prawdzic, in deiner Kurzbiografie steht, Dringlichkeit sei dein Lieblingswort. Wie verwendest du es in Bezug auf das Theater?

Als Wegweiser. Die Frage stellt sich genauso beim Gestalten eines Spielplans wie während der Proben. Mein Job ist ein ständiges Einschätzen und Gewichten. Was erzählen wir mit dieser und jener Entscheidung und warum? Natürlich gibt es dafür unzählige Variablen, die es zu berücksichtigen gilt – gerade an einem Stadttheater – aber für mich ist die Frage nach der Dringlichkeit eine unverzichtbare.

Das liegt wohl an meinem Verständnis von Theater und allgemein der Künste als wichtiger Pfeiler jeder offenen und demokratischen Gesellschaft. Man könnte sagen, die Dringlichkeit ist die Nadel meines humanistischen Wertekompasses. Wo die humanistischen Werte an Boden verlieren, schlägt sie besonders aus.

Kannst du das erklären?

Wer meint, Meinungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Demokratie sind Errungenschaften, für die es sich nicht mehr einzusetzen braucht, ist naiv. Der Aufklärung weht ein eisiger Wind entgegen. Wenn die führenden Köpfe der grössten Partei in diesem Land den ungarischen Premierminister Viktor Orbán einladen und wie ein Superstar feiern, dann heisst das auch für dieses Land nichts Gutes.

Orban schwärmt von seinem Modell der illiberalen Demokratie und macht kein Hehl daraus, dass er von freien Medien oder Gerichten nur wenig hält. Wenn beispielsweise ein rechter Mob mit Unterstützung derselben Partei in diesem Land eine performative Kinderlesung mit Drag Queens und Kings stören und verbieten will, dann müssen bei uns alle Alarmglocken läuten.

Die Geschichte hat immer wieder gezeigt, dass autoritäre Kräfte, wenn sie an die Macht kommen, die Künste als etwas vom Ersten angreifen…

Ein Beispiel, das auch meine Familie betrifft: In Polen löste 1968 ein Theaterstück Jugendunruhen aus. Das Stück las man als Kritik an der Sowjetunion. Die Regierung setzte es ab. Es kam zu den grössten Demonstrationen seit Kriegsende. Leider nimmt diese Geschichte kein gutes Ende. Die Regierung hatte schnell die Schuldigen gefunden. Es traf wie so oft die jüdische Bevölkerung.

Die wenigen tausend polnischen Überlebenden der Shoah und ihre Nachkommen wurden als „fünfte Kolonne“ gebrandmarkt und aufgefordert, das Land zu verlassen. Im Zuge der antisemitischen Hetze flüchteten auch meine Grossmutter mit meiner Mutter aus Polen. Sie wurden staatenlos, erhielten über Umwege drei Jahre später in der Schweiz Asyl.

Womit kann Theater diese Kraft entfalten?

Ich würde sagen, die Antwort fällt je nach Kontext anders aus. Was aber doch unabhängig von Zeit und Raum gilt: die Kraft des „als ob“ und der Versammlungscharakter. Die Macht der physischen Kopräsenz, sie bewirkt, dass kollektive real-fiktive Erlebnisse entstehen, die mal subversives, mal utopisches Potenzial haben. Diese Erfahrungen von Agency, Freiheit oder Solidarität können sich ins Bewusstsein einschreiben. Theater kann Möglichkeitsräume erproben.

Mit dem Kollektiv «Proberaum Zukunft» lotet ihr diesen Raum noch mehr aus – und webt die Fiktion unter reale Begebenheiten, wenn etwa Politiker:innen in einem Stück sich selbst spielen …

Wir haben uns gefragt, wie wir den Theaterapparat so in Bewegung setzen können, dass Menschen sich in einer Versammlung wiederfinden, in der wichtige gesellschaftliche Entscheidungen debattiert und gefällt werden und in der die Anwesenden für einen Moment vergessen, dass es sich hierbei nur um eine Fiktion handelt.

So haben wir etwa zum hundertsten Jubiläum der Oktoberrevolution 2017 behauptet, die Schweizer Revolution fände gerade statt und wir seien eine der über 2000 Versammlungen, die zeitgleich über die Frage abstimmen, ob die Revolution weitergeführt und eine verfassungsgebende Versammlung einberufen werden soll oder das Ganze wieder abgeblasen wird.

Aber warum mit echten Politiker*innen und nicht mit Schauspieler*innen?

Wenn etwa Aline Trede von den Grünen oder Fabian Molina von der SP behaupten, sie seien Teil der Revolution, dann beginnt sich ein interessanter Raum zwischen Realität und Fiktion zu öffnen. Aus dieser Real-Fiktion im Zürcher Volkshaus entstand dann das Kollektiv Proberaum Zukunft. Seither entwickeln wir Versammlungsformate, in der wir fiktive Schlüsselereignisse der Geschichte erproben.

Zur Person: Eneas Nikolai Prawdzic, geboren 1989, ist seit der Spielzeit 2019/20 Hausdramaturg am Neumarkt und Co-Regisseur des Kollektivs «Proberaum Zukunft». Er arbeitete als Regieassistent am Schauspielhaus Zürich sowie als Dramaturgieassistent am Luzerner Theater. Bevor er sich dem Theater zuwandte, engagierte er sich im Feld der Politik u.a. als Politischer Sekretär sowie Mediensprecher und Kampagnen-Leiter Eidgenössischer Volksabstimmungen. Er studierte Soziologie an der Universität Zürich und an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau sowie Dramaturgie an der Zürcher Hochschule der Künste.

Wo ist da die Grenze zum Aktivismus? Wie bleibt Kunst dennoch frei?

Wir bewegen uns im fiktiven Raum. Hier herrscht das Gebot des „als ob“, was im Idealfall eine produktive Reibung mit dem Ist-Zustand ermöglicht. Mir bleibt in Erinnerung, wie nach der Real-Fiktion „Die Aarau AG“ (2021) im Aargauer Kantonsparlament sich u.a. beteiligte Politiker:innen von links bis rechts für diese Erfahrung bedankt haben.

Die Kunst kann hier Mittel sein, um das Vorstellbare durch das Erleben einer Fiktion zu erweitern. Das kann man aber auch mit einem abstrakten Gemälde, mit Tanz und Musik, die Menschen in andere Welten entführen, von dort aus sie wieder anders auf ihr Leben blicken.

Ist das auch eine Handlungsoption, gegen die Hoffnungslosigkeit, die einem manchmal unter der täglichen Nachrichtenflut befällt?

Natürlich bin auch ich oft morgens erschlagen, wenn ich die News-App öffne. Da finde ich es auch absolut legitim, wenn die Kunst auch einfach mal zur Realitätsflucht dient. Schliesslich müssen wir auch auftanken und das Leben geniessen. Dann wissen wir wieder, für was es sich zu kämpfen lohnt. Trotzdem, ein positiver Wandel wird nur dann einsetzen, wenn die Menschen sich damit befassen und sich organisieren. Da das viel zu wenig geschieht, verstehe ich alle, die an der aktuellen Situation verzweifeln.

Wie gehst du damit um?

Oft hilft mir der Perspektivenwechsel, was ja auch das Geschäft des Theaters ist. Wie sah es vor dreissig Jahren oder vor dreihundert Jahren aus? Wie nehmen Menschen mit anderen Biografien oder aus anderen Weltregionen die Gegenwart wahr? Der Perspektivenwechsel ermöglicht mir, anders auf meine Realität zu blicken. Gerade durfte ich eine Produktion der Gruppe ‚Bruch‘- dramaturgisch begleiten.

Sag Eneas, was macht ein Dramaturg eigentlich ganz genau?

Das ist tatsächlich schwierig zu beschreiben (lacht). Am einfachsten erklärt: Als Hausdramaturg entwickle ich mit meinen drei Kolleginnen einen Spielplan. Das ist die kuratorische Arbeit. Wir vier splitten dann die Produktionen untereinander auf und ich bin dann für das Gelingen der mit anvertrauten Produktionen verantwortlich. Für mich beginnt produktionsspezifische Arbeit immer mit der Frage, wie ich die Regie und das gesamte Team am besten künstlerisch unterstützen kann.

Letztendlich führt das dazu, dass der Job jedes Mal etwas anders ist. Was sind die Bedürfnisse, Dynamiken und wo sehe ich Handlungsbedarf? Manchmal läuft das auf eine Art Co-Regie hinaus, ein anderes Mal bin ich mehr Outside Eye, wo punktuell die Proben begleite und erst ab den Endproben intensiv betreue. Dasselbe beim Text: Mal bin ich für den Text verantwortlich, mal bleibe ich in der Rolle des Lektors.

Das braucht eine gute Beobachtungsgabe…

Bestimmt, ja. Einfühlsam sein, Rücksicht nehmen, aber auch das eigene Ego zurücknehmen sind meiner Ansicht nach essenziell für diese Funktion. Auch wenn du während der Proben denkst, die eine Abzweigung wäre besser gewesen, wenn die Regie sich gegen deine Intention entscheidet, musst du dich damit abfinden und weiter geht’s. Neben dieser Arbeit fallen dann noch so To-dos wie Ankündigungstexte oder Pressemappen in meinen Verantwortungsbereich.

Nach fünf Jahren am Theater Neumarkt nimmst du dir eine Auszeit. Was hast du gelernt in der Zeit?

Es waren fünf intensive und lehrreiche Spielzeiten mit tollen Künstler:innen und einem inspirierenden Team. Ich habe grosses Glück, Teil dieses „unbedingten Theaters“ zu sein. Zugleich ist der Job auch auszehrend. Jemand hat es mal mit Spitzensport beschrieben. Ich finde, das beschreibt den Ausnahmezustand ganz gut, in den du gerätst, wenn die Proben starten.

Du kriegst sechs Wochen und dann go! Am Ende will jeder eine Medaille. Wenn du dir dann noch den Weg zu Ziel mit experimentellen Stückentwicklungen verkomplizierst, nimmt die Challenge weiter zu … Auch wenn das Theater mit öffentlichen Geldern finanziert wird, sind die Ressourcen knapp. Trotzdem halte ich es aus künstlerischer und menschlicher Sicht für notwendig, dass man den Marathon-Charakter ein wenig abschwächt und auch Raum fürs Flanieren lässt.

Welche Rahmenbedingungen bräuchte es, um auch im Alltag zum Durchatmen zu kommen?

Ich plädiere ganz klar dafür, dass 8 Wochen pro Produktion die Regelzeit für eine Inszenierung werden. Auch wenn das bedeutet, dass man als Haus weniger Stücke produziert. Ich bin überzeugt, solche Stücke würden noch besser und das würde sich wiederum auf die Publikumszahlen auswirken.

Idealerweise teilt man die Proben in Blöcke auf. Eine Pause kann helfen, die Dinge sacken zu lassen und noch einmal über die Bücher zu gehen. Aber an Statheatern ist das kompliziert. Trotzdem versuchen! Ausserdem ist es unfassbar wichtig, dass Resonanzräume für Austausch und Zwischenmenschliches nicht dem Stress und der fehlenden Zeit zum Opfer fallen.

Deine weiteren Pläne?

Ich würde jedem empfehlen, der, die oder they eine solche Funktion innehat, nach Möglichkeiten auch mal eine Auszeit zu nehmen. Ich hoffe, ich schaffe es, trotz all der Dringlichkeit weniger zu arbeiten, mehr zu lesen und Freundschaften zu pflegen und auch mal jenseits der Sommerpause zu reisen. Es gibt Projekte, Ideen und hoffentlich bald auch weitere Formate von Proberaum Zukunft, aber genauso freue ich mich auf das noch Unverplante, all das Unbekannte.

 

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