Sinnkrise: «Gehöre ich auf die Bühne?»

Unsere Kolumnistin Steffi Gygax hat sich 2023 in Selbstzweifeln und Krisen selbst verloren. Dann nutzte sie diese Herausforderung, um sich selbst neu zu erfinden.

Was für ein Jahr – Jedes Silvester erwische ich mich bei diesem Gedanken. Die Ups and Downs wurden mit zunehmendem Alter schwerwiegender. Obwohl man gewisse Sachen mit der Zeit nicht mehr so tragisch nimmt, fühlt es sich so an, als würde der Rucksack des Lebens doch immer voller. Mittlerweile konzentriere ich mich viel mehr darauf, mich regelmässig von Balast zu erleichtern. Sei es, meine Grenzen klarer zu setzen, mehr Zeit für mich selbst zu nehmen, mich von Menschen zu distanzieren, die mir nicht guttun und auch nicht mehr alle Jobs anzunehmen.

Obwohl ich mich stets um meine Weiterentwicklung kümmere, hatte ich in diesem Jahr eine echte Lebenskrise, was meinen Beruf anbelangt. Ich sah es gar nicht kommen, hatte total viel Arbeit und plötzlich wurde ich von Zweifeln geplagt und stellte alles in Frage. Ich hatte an nichts mehr Freude, die Arbeit war nur noch eine Last und meine Energiereserven aufgebraucht. Nach dem Corona-Break war ich einfach nur froh, wieder im künstlerischen Bereich zu arbeiten und es ging überhaupt nicht darum, wohin ich möchte und wie ich mein nächstes Ziel erreiche.

Mein Kopf war übersättigt mit Noten und Texten, meine Sinne gelähmt und meine Stimme zeigte zum allerersten Mal Wölbungen an. Meine Lust auf die Bühne zu gehen, war zum ersten Mal ausgelöscht und soziale Kontakte konnte ich nicht mehr ertragen. Ich verstand die Welt nicht
mehr. War es nun Zeit, den Beruf zu wechseln? Habe ich ein sogenanntes Burnout? Oder eine Art Depression? Was könnte mir sonst noch Freude bereiten
ausser die Bühne?

Eine Auszeit

Ich entschloss mich für eine Auszeit von allen und allem! Die Reise ging nach Italien, wo ich für 4 Wochen bei Gasteltern wohnte und an einer Sprachschule mein Italienisch auffrischte. Neue Menschen, neues Umfeld, eine andere Sprache, anderes Klima. Während diesem Monat sang ich keinen Ton und vermisste es rein gar nicht. Die Mitstudenten bewunderten meine Videos auf YouTube und ich dachte nur: „Bin ich das wirklich? Was ist nur los mit mir … ändert sich jetzt mit 40 meine Berufung Stecke ich in der sogenannten Midlifekrise?“ Immer offen für Veränderungen, erkundigte ich mich nach einem Psychologiestudium, fing wieder an zu unterrichten als ich zurück in Zürich war und bat das Universum um ein Zeichen, wie es weitergehen soll.

Genau einen Monat nach Italien bekam ich mein erstes Vorsingen an einer Staatsoper und fühlte mich so lebendig, wie schon lange nicht mehr. Auf der Hinreise zur Audition verspürte ich ein Gefühl von tiefem Frieden und beim Vorsingen war ich so in meinem Element, wer kann da noch nach seiner Berufung fragen. Ich musste erkennen, dass sich mein Fokus  einfach nur verschoben hatte. Während dem ich eigentlich einen Schritt „zurück“ auf die Musicalbühne machte, um meinem Kindheitstraum noch einmal Raum zu geben, etablierte sich meine Sehnsucht nach der grossen Opernbühne, die ich seit ein paar Jahren verfolge, umso stärker.

Während ich jahrelang in Operetten Hauptrollen sang, fühlte ich mich doch nie richtig angekommen. Lange Zeit dachte ich, Hauptsache ich stehe auf irgendeiner Bühne und darf Rollen verkörpern. Rückblickend betrachtet, fühlte ich mich aber nie richtig wohl. Nachdem ich dann während zwei Jahren in Wien meine Gesangstechnik nochmal neu aufgleiste und nach Corona meine ersten Opernrollen singen durfte, war das für mich fast eine schockierende Offenbarung.

Das Leben als Abenteuer

Ich habe mich noch nie so vollkommen gefühlt. Wie kann das sein? Als Kind fand ich Musical toll und konnte mit Oper nichts anfangen? Meine körperlichen Beschwerden und meine stimmliche Veranlagung führten mich dann schnell mal in die klassische Richtung, aber bis Dreissig hatte ich mit Oper nichts am Hut, auch wenn meine Mutter Opernsängerin war

„Nun gut, dann werde ich jetzt wohl alles dafür geben müssen, um diese Vollkommenheit wieder spüren zu können“, dachte ich. Und siehe da, durch die
Unterstützung eines bedeutenden Kontaktes, der sich inmitten meiner „Krise“ eröffnete, bekomme ich endlich Vorsingen auf Opernbühnen, was ein langer, harziger Prozess war.

Die Krise ist überstanden und einmal mehr habe ich gelernt, dass es manchmal eine Umorientierung braucht, wenn auch im eigenen Berufsfeld, um wieder auf
den richtigen Weg zu kommen. Dazu gehörte in meinem Fall, Jobs abzusagen, auf die man keine Lust hat, auch wenn der Verstand sagt: „Du brauchst das
Geld, die fragen dich nie wieder.“

Die Ungewissheit im künstlerischen Beruf ist doch die spannendste, wenn auch die schwierigste Komponente. Manchmal zerfrisst es meinen Verstand, wenn ich nicht weiss, ob ich nächsten Monat genug Geld habe, um meine Rechnungen zu bezahlen. Im nächsten Moment feiere ich das Leben, wenn eine unerwartete Anfrage kommt, die mein Herz höher schlagen lässt.

Ich könnte nicht in einem eight-to-five Job überleben, Routine langweilt mich und macht mich wortwörtlich wahnsinnig. Mein Lieblingszitat: „Wer ständig
glücklich sein will, muss sich oft verändern“ rührt wohl daher. Ich wünsche euch den Mut, jeden Tag mit der Frage konfrontiert zu sein: „Wer möchte ich heute sein? Bin ich glücklich oder möchte ich mein Drehbuch des Lebens umschreiben? Was würde ich mir jetzt wünschen, wenn ich wüsste, dieser Wunsch geht sofort in Erfüllung?“

Wir sollten das Leben nicht hinter uns bringen, sondern ein Abenteuer daraus machen. Denn Leben ist dort, wo du noch nicht warst, alles Andere ist Wiederholung! In
diesem Sinne: „En guete Rutsch und vil Neues fürs Jahr 2024.“

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