«Diversitätsarbeit ist kein Wettkampf!»

Eine Diversitäts-beauftragte Person, oder in Englisch «Diversity Agent», gab es als Stelle am Schauspielhaus Zürich bisher noch nicht – Diversitäts-Fragestellungen waren aber durchaus vorhanden, verstärkt mit der Intendanz Blomberg-Stemann und deren progressiver künstlerischer Setzung. Worauf die benötigte Stabsstelle kreiert wurde, Yuvviki Dioh besetzt diese mit Bravour und grossem Ehrgeiz. Ein Gespräch über ihre Arbeit und Visionen.

Als Orientierung für die Erschaffung der Stabsstelle diente ein Modell aus Deutschland, das bereits ab 2018 in verschiedenen Institutionen umgesetzt wurde. Über den Deutschen Kulturförderungsfonds mit dem Programm 360 Grad werden externe Gelder für diversitätsfördernde Projekte akquiriert, genau darin liegt aber der zentrale Unterschied zur Schweiz. Dioh wird vom Haus aus finanziert, dabei ist sie zuständig für die diversitätsorientierte Organisationsentwicklung, als grössere Felder gelten hierfür das Programm, Publikum und das Personal. Ihre Arbeit ist strategisch, sie kreiert Handlungsmassnahmen und neue Ideen – ihre Stelle fungiert quasi als Navigationszentrum.

Am Haus hat sie gemeinsam mit der Leitung lange überlegt, was das Verständnis und die Vision dafür sein könnten, «mit dem Ziel, zu transformieren und diverser zu sein!» Vier Begrifflichkeiten sind dabei wichtig: Diversität, Inklusion, Gleichstellung und Zugehörigkeit.

Dioh ist 32 Jahre alt und hat in Kommunikationswissenschaften doktoriert: «Ich habe mich aber nicht mehr wohl gefühlt an der Universität und deshalb aktiv nach einer Alternative gesucht!» Während des Studiums war sie bereits aktivistisch unterwegs, im Rahmen des Black-Lives-Matter-Movement und der LGBTQIA+ -Bewegung, «und so bin ich immer tiefer in die Materie und in die Themen Marginalisierung und Anti-Diskriminierung gerutscht».

Dabei vermittelt sie auch an Events und Podien ihr wissenschaftliches Knowhow. Ihren Weg in die Bühnenbranche in Zürich fand sie über den Tanz, den sie seit ihrer Kindheit inn einer Tanzgruppe pflegte, bis sie Mitte Zwanzig andere Prioritäten setzte. Später, als Teil der Gruppe Jungtheater, verantwortete den Bereich Strukturarbeit in Leitung und Vorstand. „Durch diese Erfahrungen fanden all meine Fähigkeiten zusammen und ermöglichten mir, die jetzigen Stelle zu übernehmen», erklärt sie ihren Werdegang.

Diversität am Schauspielhaus

«Eine kurze Erklärung zum Begriff Diversität gibt es nicht», sagt Dioh. Am Haus hat sie gemeinsam mit der Leitung lange überlegt, was das Verständnis und die Vision dafür sein könnten, «mit dem Ziel, zu transformieren und diverser zu sein!» Vier Begrifflichkeiten sind dabei wichtig: Diversität, Inklusion, Gleichstellung und Zugehörigkeit. «Am Schauspielhaus geht es um echte soziale Gerechtigkeit. Diversität soll nicht als Tokenism missbraucht werden.

Die Argumentation sieht so aus: Das Schauspielhaus soll ein Ort sein, wo verschiedene Lebensrealitäten aufeinandertreffen, dies soll gelebt werden und künstlerisch ergründet.» Denn: «Was machen wir am Theater – wir setzen uns mit Welt, Mensch, Gesellschaft auseinander.» Und genau dies soll positiv und in inspirierendem und sicherem Raum stattfinden, dafür braucht es viel Arbeit – auch wenn es vielleicht erstmal nach wenig klingt.

Der Begriff Diversität als Basis, der oft mit Heterogenität und Vielfalt erklärt wird, heisst in erster Linie «Repräsentation von Differenz», die auf Identitätskategorien gründet. «Die Triade Race, Class, Gender aber auch Disability, physische und psychische Fähigkeiten, Religion, Weltanschauung, sexuelle Orientierung, Alter und vieles mehr, was noch kommen wird», ergänzt Dioh.

Diese Kategorien sollen in den Alltag der Institution implementiert werden, «gleichsam für Mitarbeiter*innen als auch für das Publikum». Ziel ist es, die Chancengleichheit zu erhöhen und Barrieren abzubauen. Dafür braucht es ein Verständnis, wie Marginalisierung reproduziert wird. Dioh erklärt das etwas genauer mit den Fragen: «Wo schliessen wir als Theater aus, auch historisch betrachtet … Wen sprechen wir heute an? Wer arbeitet eigentlich bei uns? Welche Strukturen braucht es, damit wir einschliessend sind?» Das bedeutet ein Verständnis der Beziehung zwischen Individuum und sozialer Umwelt, von Diskriminierungsformen, Privilegien und Benachteiligungen – «viele Aspekte müssen berücksichtigt werden, damit man im Betrieb nachhaltig, divers und sozial gerecht agieren kann.» Über allem stehen die Themen Transformation und Nachhaltigkeit – «es ist aber noch nicht alles festgeschrieben, sondern darin werden Strategien und Handlungen formuliert», sagt sie.

«Am Schauspielhaus geht es um echte soziale Gerechtigkeit. Diversität soll nicht als Tokenism missbraucht werden. Die Argumentation sieht so aus: Das Schauspielhaus soll ein Ort sein, wo verschiedene Lebensrealitäten aufeinandertreffen, dies soll gelebt werden und künstlerisch ergründet.»

Vermittlungsprogramme und Barrierefreiheit

Der letzte spürbare Erfolg sei schwierig zu definieren: «… wenn bei Vorstellungen immer mehr verschiedene Leute kommen – das ist Communitybuilding-Arbeit! Auch der Begriff Audience Development geht in dieselbe Richtung, wie auch die Frage nach der Lokalität, denn nicht alle Diversitäts-Massnahmen funktionieren überall.» Wichtig sei es, regional, überregional bis international zu agieren und daneben wirklich in Kontakt zu treten mit Leuten in der Stadt. Dioh sagt: «Es sind nicht alle Zuschauer*nnen oder Mitarbeitende Fan unserer Institution, (Diversitäts-)Arbeit und Kunst.

Es gibt aber sehr viele schöne Begegnungen, auch direkt mit den Künstler*innen. Daneben gibt es auch weniger sichtbare Erfolgsmomente, in der Arbeit im Betrieb, wenn der Prozess, die Arbeitspraxis sich langsam verstetigen. Misserfolge hingegen gibt es immer dann, wenn etwas verpasst wurde oder die Infrastruktur nicht barrierefrei ist.

Der Pfauen ist beispielsweise nicht konzipiert für Menschen, die architektonisch andere Zugänge brauchen. Und die Website ist für viele noch nicht zugänglich, die eine leichte Sprache, Bildbeschreibungen und Screen-Readers brauchen. Ich habe einen hohen Anspruch an mich selbst, die Infrastruktur ist an sich aber leider limitiert». Am Haus sind weitere Vermittlungsprogramme in Planung, darunter taktile Führungen, sowie die stetige Vernetzung mit Selbstvertreter*innen in der Kunst und Kulturszene.

«Es sind nicht alle Zuschauer*nnen oder Mitarbeitende Fan unserer Institution, (Diversitäts-)Arbeit und Kunst. Es gibt aber sehr viele schöne Begegnungen, auch direkt mit den Künstler*innen. Daneben gibt es auch weniger sichtbare Erfolgsmomente, in der Arbeit im Betrieb, wenn der Prozess, die Arbeitspraxis sich langsam verstetigen. Misserfolge hingegen gibt es immer dann, wenn etwas verpasst wurde oder die Infrastruktur nicht barrierefrei ist.“

Im Oktober 2023 moderierte Dioh eine Podiumsdiskussion mit dem gerade neu gewählten Zürcher Nationalrat und Behindertenrechtsaktivisten Islam Alijaj, Nicole Grieve (Kultur Inklusiv), Cem Kirmizitoprak (Inklusions-Agent und selbstvertretender Politiker), Edwin Ramirez (Criptonite) zum Thema Politik, Behinderung und Theater. «Dort haben wir sehr gut inklusiv gearbeitet, es wurde ein Skript für Gebärde-Dolmetscher geschrieben, es gab verschiedene Sprech-Tempi, etc.» sagt sie, und sieht die im Podium geäusserte Kritik in Bezug auf die fehlende Barrierefreiheit als Erfolg und Resultat einer wachsenden Debatten-Kultur.

Machtmonopole aufweichen

Im Diversitäts-Kompass des Schauspielhauses wird auf die Notwendigkeit von flachhierarchischen Strukturen hingewiesen, die die Machtstrukturen der Institution «Stadttheater» durchleuchten. Am Schauspielhaus Zürich wird zusätzlich versucht, flachhierarchischere Strukturen zu etablieren. Zum Beispiel: In einem wöchentlichen Beratungsgremium, wo alle Leitungsfunktionen und Stabsstellen zusammenkommen, werden alle wichtigen Punkte gemeinsam besprochen.

Dadurch sollen in Entscheidungsmomenten Machtmonopole aufgeweicht werden. Die Kommunikation ist zentral, alle Leute am Haus mit ihrer jeweiligen Expertise sind bei der Lösung eines Problems gefragt. Es herrscht ein reger Austausch, «einchecken und konkrete Zielvereinbarungen sind dafür ein regelmässiges Tool, an Transparenz, Vertrauen, Wertschätzung und Respekt muss stetig gearbeitet werden. Letztendlich sollen Entscheidungen nicht isoliert gefällt werden, um die Durchsetzung von Eigeninteressen zu minimieren», ist Dioh überzeugt.

«Ohne mein grosses Zutun werden Workshops zu Black Hair, Braiding und Pflege durchgeführt, sowie Schminkkurse für verschiedene Hauttöne. Es geht den Kolleg*innen darum, dass PoC-Künstler*innen ohne Hürden oder Hemmungen in die Maske gehen können. Es herrscht glücklicherweise bereits jetzt ein reger Austausch in Bezug auf Diversität von Körpern am Theater»

Personal, Publikum, Programm – drei Felder

In ihrer Arbeit beschäftigt sich Dioh auch mit Strategien für die Personal- und Kulturentwicklung und einer diversitätsorientierteren Einstellungspraxis mit Onboarding unter Diversitätsaspekten. Sie setzt sich für die Förderung von Diversitätskompetenzen in Leitungspositionen ein und plant Sensibilisierungsmassnahmen. Die Stabsstelle gewährt Dioh die Legitimität, in vielen Gremien dabei zu sein und den Überblick zu haben zum Geschehen am Haus. Sie hat viel Freiheit, zu gestalten und neben ihr gibt es viele interne Multiplikator*innen, darunter bspw. das Dramaturgieteam, das die Repräsentationspolitik bespricht, oder Casting- und Textfragen diskutiert.

So fragt sich die Runde beispielsweise gemeinsam, «was bedeutet eine Aussage für Autor*in X» oder wen repräsentieren die Darsteller*innen in ihrem Spiel. Im Bereich Kostüm, Maske und Haar gab es einen besonderen Erfolgsmoment, erzählt Dioh: «Ohne mein grosses Zutun werden Workshops zu Black Hair, Braiding und Pflege durchgeführt, sowie Schminkkurse für verschiedene Hauttöne. Es geht den Kolleg*innen darum, dass PoC-Künstler*innen ohne Hürden oder Hemmungen in die Maske gehen können.

Es herrscht glücklicherweise bereits jetzt ein reger Austausch in Bezug auf Diversität von Körpern am Theater». Die Bereiche Damen- und Herrenschneiderei sind noch immer gegenderte Berufe, wobei in der Praxis die Grenzen verschwimmen, die Binarität wird aufgeweicht. Die Frage ist hier, wie man das strukturell einbetten kann. «In der Kunst kommen ständig neue Themen und Situationen hervor, damit umzugehen ist ein grosser Teil meiner Arbeit,» sagt Dioh.

«In der Kunst kommen ständig neue Themen und Situationen hervor, damit umzugehen ist ein grosser Teil meiner Arbeit,» sagt Dioh.

Publikumsentwicklung

Auf der Ebene der Programmgestaltung findet auch eine enge Zusammenarbeit mit der Kommunikations- und Marketingabteilung statt, gefunden werden soll eine gemeinsame Sprache für Communitybuilding und Publikumsentwicklung. Dazu meint Dioh: «Wir möchten über unser vielleicht eher bürgerliches Stammpublikum hinaus mehr verschiedene Menschen ansprechen. Wie wir das schaffen? Dahinter steckt Öffentlichkeits-, politische und Vernetzungsarbeit.»

Dioh gestaltet und organisiert dafür themenspezifische Workshops, moderiert Podiumsdikussionen, dadurch entsteht viel Vernetzung über institutionelle Arbeit. Sie folgt ihrem Credo: «Das Wissen, das wir uns aneignen, muss verbreitet werden.» Die Intendanz lässt Dioh Freiheit bei der Umsetzung, sie ist im Austausch mit anderen Institutionen, die dieses Thema strukturell umsetzen wollen. Dazu meint sie: «Diversitätsarbeit und Transformationsarbeit ist kein Wettkampf, das lehne ich komplett ab! Es geht um soviel mehr!»

Auf die Frage, wie ihre Traumvorstellung einer Theater-Institution aussähe, antwortet sie angeregt: «Sie soll vor Leben sprudeln, ein Ort sein, wo man morgens um 3 Uhr allein hingehen kann für einen lockeren Austausch – wo Menschen über Menschsein und die Welt nachdenken, über Politisches und Krisen sinnieren wollen – das ist eine super romantische Vorstellung!» (lacht) «Dieses Gefühl der Verbundenheit spüre ich dann, wenn man spätabends in der Kantine sitzt und Ideen spinnt – ich verstehe Theater als Kunst- und Diskursort, wo alle auf Augenhöhe und mit einem dezidierten Verständnis über Privilegien und Benachteiligungen agieren.

Das Theater als auch die Universität und Kunst im Allgemeinen sind Orte, wo Wissen produziert wird. Theater soll in einer Art berühren, wie es Akademien nicht können. Die Arbeitsbedingungen sollen diversen Bedürfnissen entsprechen. Zwar kann es kein konfliktfreier Ort sein, jedoch sich «safe» anfühlen für alle. Das wäre im Kern für mich das wichtigste, wir sind aber noch weit weg davon entfernt. Das neoliberalistische Leistungsdrucksystem ist auch trotz Subventionen schlecht zu überwinden. Ein Theater sollte aber ein Ort sein, wo man anders arbeitet und diese Safer Spaces entwickelt werden können.“

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