«Brüllen für Hexen und Drachen»

Corinne Soland bildet sich weiter. Dabei enthüllen sich Zukunftsperspektiven für Sprecher*innen und Schauspieler*innen im Bereich Gaming und VR. Und man kann lernen richtig zu schreien, zu weinen und zu röcheln. Als sterbende Spielfigur …

Jep, ich bin Weiterbildungs-Fan. Letzten Monat habe ich mir zwei Online-Kurse gegönnt – zum Thema Voiceover für Games. Ich teile mit euch ein paar der Dinge, die mich dabei am meisten beeindruckten. Dies vor allem auch in Anbetracht der Tatsache, dass ihr in Zukunft für Videospiele sprechen könntet – doch mehr dazu etwas später.

Der erste Kurs war eine generelle Übersicht über das Berufsfeld. Zwölf interessierte Sprecher*innen und Spielende erhielten einen Einblick, wie das Erarbeiten von Charakteren-Stimmen für Videospiele und interaktive Medienkunst angegangen werden kann. Der zweite Kurs beinhaltete eine ganz spezifische Unterrichtseinheit für das Feld der “Rough Vocal Effects” oder auch “Vocal Distortion”. Übersetzt heisst letzteres so etwas wie „stimmliche Verzerrung“ und beinhaltet Brüllen, Schreien, „Sterben“, Röcheln, Angriffs- oder Gefechts-Laute. Ebenso sind wir auch darauf eingegangen, wie Stimmen von Kreaturen hergestellt werden können, die nur in der Fantasie existieren. Orks zum Beispiel, Drachen – oder Aliens. Es waren viele Metal-Sänger*innen in dem Kurs, das war eine spannende Arbeitsfeld-Überlappung.

Was für ein unglaublicher Spass! Zunächst gingen wir mit dem Spezialisten Sébastien Croteau durch verschiedene Übungen für ein gutes Stimm-Aufwärmen. Danach erklärte er uns den Aufbau des Stimm-Apparates anatomisch, um auch biologisch nachvollziehen zu können, wie die Stimme Schritt für Schritt gesund ein bisschen überstrapaziert werden kann.

So gelingt dann irgendwann die “Stimm-Stunt-Arbeit”. Diese gilt laut den amerikanischen SAG-AFTRA Richtlinien als “stimmlich intensive Aufnahmearbeit”. Weil Röcheln, Hecheln und Schreien die Stimme übermässig strapazieren, ist die Aufnahmezeit auf ein Maximum von zwei Stunden zu beschränken. Interessanterweise fallen unter Stimm-Stunt-Arbeit auch Flüstern und Weinen. Beim Weinen zum Beispiel wird mehr Luft hereingesogen als herausgegeben und das ist für den Stimmband-Apparat sehr anstrengend.

Bei Stimmaufnahmen für 3D-Kreaturen gilt grundsätzlich: verliere deine Körperlichkeit nie aus dem Fokus. Die Figur, der du eine Stimme gibst, hat einen Körper. Am besten, du stellst dir vor, wie es sich anfühlt, mit einem schweren Schildkröten-Panzer auf dem Rücken herumzugehen (für die Ninja Turtles) – was macht das mit der Luftzufuhr, mit der Lunge, mit der Muskulatur im Rippenbogen und dem Zwerchfell? Welchen Einfluss hat wohl das Gewicht auf die Art, wie diese Figur eine andere anspricht?

Alles mit Mass

Diejenigen unter euch, die schon mal synchronisiert haben, wissen: Wir bringen so viel Handlung, “Action”, mit in die Stimme wie möglich. Die Bewegungen werden stimmlich hör- und fühlbar. Ausserdem: die Entscheidung für eine spezifische Stimme deines Charakters muss nachhaltig sein. Es ist super, wenn du eine ganz spezielle Stimmfarbe für eine Figur findest, aber wenn du vier Aufnahmetage hast und jeweils aus stimmlicher Erschöpfung nach 3 Stunden nicht mehr in dein gewähltes Register, die Höhe oder Verzerrung gehen kannst, bringt das leider nicht viel für die Produktion, im Gegenteil – es kann sie verzögern.

Ein weiteres Element, das Sébastien mit uns geteilt hat, war, dass wir oftmals extreme Situationen für die Stimme vermeiden möchten, weil sie körperlich mit einem schlimmen Ereignis oder unerwünschten Nebeneffekt verbunden sind. Beispiele dafür sind Husten, Erbrechen-Laute oder Schmerz-Schreie. Wir müssen also in uns drin, quasi in den Zellen, das Signal geben, dass es in Ordnung ist für die Stimme, gerade an diesen Ort zu gehen.

Konstante Kontrolle über das Ausatmen, beziehungsweise eine verlässlichen, stabilen, gleichmässigen Druck herstellen zu können, ist das elementarste, meinte er. Zur Entspannung wurden jegliche Übungen empfohlen, die mit einem Strohhalm und Wasser gemacht werden. Blubbern für die Zombies!

Bald Schweizer Gamewelten?

Und jetzt noch nebst all der Begeisterung, die ich teilen wollte, der Grund, weshalb diese Art von Weiterbildungen relevant für euch sein könnten:
Es gibt in der Schweiz Bestrebungen, mehr Videospiele zu fördern. Bisher gibt es auf Kantons-Level nur eine klar als Games-Förderung ausgewiesene Unterstützung im Kanton Waadt (50’000 Franken). Andere Kantone oder Förderinstitutionen haben Modelle, die Videospiele unter anderem Label fördern, z.B: “Medienkunst” (Basel) oder “Interaktive Medien” und “She Got Game” (Pro Helvetia).

Oftmals sind Produkte, die sich international absetzen sollen, so produziert, dass sie mit Englisch als “lingua franca” arbeiten. Englisch ist die Sprache für den „grossen Markt“, das internationale Spieler*innen-/Nutzer*innen-Publikum quasi. Spiele, die Deutsch, Schweizerdeutsch, Italienisch, Französisch oder Rätoromanisch als Hauptsprache haben, werden auf einen kleineren Absatzmarkt treffen.

Da in Zukunft jedoch Games gezielter als kulturelle Produkte und nicht nur als wirtschaftlicher Faktor (als reines Unterhaltungsmedium) unterstützt werden sollen, können wir davon ausgehen, dass auch Videospiele mit anderen Sprachen als Englisch produziert werden. Dies eröffnet Sprecher*innen der vorher genannten und auch weiterer Sprachen einen zusätzlichen Arbeitsmarkt. Ausserdem gibt es viele Games, die nicht mit “herkömmlicher Sprache” arbeiten, sondern eine Kunst-Sprache erschaffen oder eben die Figuren vor allem über Geräusche oder Stimm-Stunt-Arbeit zum Leben erwecken.

Gönn dir was

Zum Schluss passend dazu the allerbest news: Der Verband für professionelle Sprecher*innen (www.vps-asp.ch) gibt Anfang 2024 neue Richtlinien heraus, unter anderem einen Schweizer Ansatz für “Voiceover für Games”. Haltet also Ausschau nach den VPS Tarifen 2024 und fragt im neuen Jahr sonst auch dort im Sekretariat nach, wenn ihr euch für dieses Berufsfeld interessiert.

Und gönnt euch doch was Kleines oder Mittelgrosses für euer Schauspiel-Selbst, so zum neuen Jahr? Je nach Budget: eine Weiterbildung, ein Blubber-Röhrli für die Stimm-Entspannung (muss nicht LaxVox sein, ich habe meins aus dem OBI) oder einen neuen Leuchtstift. So, dass ihr euch ready fühlt für die neuen Herausforderungen im 2024.

PS: Die Kurse hatte ich beim Halp Network gebucht, kann ich nur empfehlen. Der zweite Instruktor war Brook Chalmers – weitere spannende Links sind: www.iwanttobeavoiceactor.com und www.voiceacting.boards.net.

Hier noch ein Leckerchen: Keanu Reeves bei den Arbeiten zum Game „Cyberpunk 2077“, wo er die animierte Hauptrolle von Johnny Silverhand spielt. Triggerwarung!

Corinne Soland schreibt im ENSEMBLE zum Leben in einer als Darsteller*in im 21. Jahrhundert. Corinne spielt “Anna” in Neumatt, “Isabelle” in Monsieur Claude und seine Töchter (Bernhard Theater), “Emma” im VR Game Amazing Monster! und spricht als “Jimmy” und “Dimitri” im Guetnachtgschichtli. Corinne lebt in Basel und unterrichtet Motion Capture Schauspiel an interessierte Spielende.

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