Schein versus Sein

„Schein oder nicht Schein“ ist doch eigentlich die Frage, mit der man sich bei der „First Impression“ beschäftigen sollte.  Es wird abgecheckt, wer kennt wen, wie sieht die Konkurrenz aus, wie ist die Stimmung im Leading Team, werde ich mich wohlfühlen? Wie Tierchen müssen wir uns erst beschnuppern, aneinander gewöhnen, abschätzen lernen, uns positionieren. Es passiert automatisch.

Schon oft habe ich mir die Frage gestellt, weshalb wir auch im Alltag Rollen einnehmen? Wieso rede ich mit dem Verkäufer anders als mit meiner Kollegin? Weshalb habe ich bei meinem Neffen einen anderen Tonfall als bei meiner Mutter? Versuche mal einen Tag lang, dich bei jedem Menschen genau gleich zu verhalten! Rede mit deinem Kollegen genauso, wie mit der Dame im Supermarkt. Nutze den gleichen Tonfall für dein Kind, wie für deinen Chef. Deine Welt wird sich von Grund auf verändern, und zwar zum Guten, weil du keine „Rollen“ mehr einnehmen musst. Seit ich das praktiziere fühle ich mich viel wohler gegenüber unbekannten Menschen, nehme jedoch den alltäglichen Zirkus noch viel stärker wahr.

Montag 10 Uhr am ersten Probetag herrscht für mich immer die Hochsaison von „Sein und Schein“. Es liegt Spannung in der Luft, ist man gut genug vorbereitet, wie sind die Kollegen? Diese Situation ist für mich immer noch eine Herausforderung. Gehe ich auf neue Leute zu, fühlen sich die Meisten unwohl, denn Herdentierchen bilden gerne Grüppchen mit Menschen, die sie schon kennen. Deshalb lieber erstmal beobachten und warm werden. Kein Problem für mich, beim nächsten Mal ist es mir egal und ich gehe auf Niemanden zu, erhasche dafür aber komische Blicke. Wer macht sich denn schon selbst zum Aussenseiter?

„Ah ja stimmt“, kommt es mir in den Sinn, „das ist jetzt wieder dieses Schubladisierungs-Phänomen, dass dich jeder erstmal einschätzen möchte.“ Erschreckend, dieses Schauspiel zu beobachten. Macht jemand einen theatralischen Spruch, wird plakativ gelacht, Aufregung mündet in überdrehtes Verhalten. Alle wollen sich erstmal beweisen, ihr Revier markieren. Oft werden die Rollenspiele im Alltag gar nicht hinterfragt, weil man ja gelernt hat, dass man den Regisseur mit Respekt behandeln soll und sich bei der Dresserin keine Mühe geben muss .

Ich erblicke immer wieder Maschinen auf der Bühne, tote Augen, hochgezogene Mauern. Das macht mich traurig. Das Leading Team vergisst manchmal um die
Verantwortung, die Sie tragen. Ich möchte im Theater berührt werden, genauso wie bei der Oper und dem Film. Wahre Kunst ist für mich, den Schein abzulegen und dem Publikum einen Einblick in die Seele zu gewähren. Vielleicht war die deutsche Wortfindung „Schau-Spiel“ nicht die Passendste. Ich möchte keine Schau erleben, sondern dass der Schauspieler die Rolle lebt und mich damit berührt, dass sein „SEIN“ mit dem Charakter der Rolle verschmilzt.

Aber auch das beginnt bei uns selbst im täglichen Leben. Wir werden erzogen und gezogen, bis wir nicht mehr wissen, wer wir eigentlich sind und was wirklich aus uns selbst kommt. Und dann werden wir Schauspieler des Lebens oder Schauspieler auf der Bühne, was uns noch viel weiter weg vom eigentlichen SEIN-Zustand bringt. Der SCHEIN bekommt einen weiteren SCHEIN auf der Bühne, vor der Kamera, im Kaufhaus, beim Arzt und plötzlich sind wir ausgebrannt, weil wir mit all den „gelebten“ Rollen jeden Tag viel zu viel Energie verbrauchen. Uns fehlt die Besinnung auf uns Selbst und dann „finden“ wir uns beim Psychotherapeuten oder beim Yoga-Retreat wieder.

Die Maske, im lateinischen übrigens PERSONA, darf abgelegt werden. Die Person soll Mensch SEIN und zu seinem natürlichen Ursprung zurückgehen, in dem wir „einfach“ zeigen, wie wir uns fühlen und einander so SEIN lassen, wie wir sind. Ich glaube daran, dass ich eines Tages Montagmorgen um 10 Uhr in einem neuen Probesaal stehe und mich wie zu Hause fühle, weil sich alle Beteiligten am richtigen Ort zur richtigen Zeit empfinden und die Schönheit jedes einzelnen Charakters erkennen, um den Schein SEIN zu lassen

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