Selbstregulierung und Ausnahmezustand am Set

Bei Castings hierzulande handelt es sich fast ausschliesslich um Schweizer Filmproduktionen, – produzent*innen, Regieleute und Schauspieler*innen, Co-Produktionen mit dem Ausland erfolgen meist im Auftrag von Schweizer Produktionen. Im Gespräch mit Corinna Glaus, erfahrene und schweizweit bekannte Mitinhaberin von Glaus & Gut Casting, zeigt sich, wie sensibel der Prozess ihrer Arbeit ist. Szenen müssen im Vorfeld besprochen und vereinbart werden, damit am Set möglichst keine Grenzverletzungen geschehen.

Vorweg – der respektvolle Umgang am Set funktioniere in der Schweizer Filmindustrie relativ gut – «es findet sogar eine Art Selbstregulierung statt, da die Produktionen durch Fehler ihre Reputation verlieren können. Bei grösseren Ländern braucht es dafür strengere Vorgaben.», meint Glaus. Sie und ihre Kolleg*innen sind bei den Castings grösstenteils anwesend und können so die Situation steuern, respektive kontrollieren. «Es handelt sich bei Casting-Prozessen grundsätzlich um eine grosse Vertrauensangelegenheit, im Vorfeld wird mit der Regie besprochen, was während den Casting-Runden ausprobiert und welche Szenen geprobt werden – je genauer diese Zielsetzung, desto besser kann das Casting von der Agentur geplant und geleitet werden.», ist Glaus überzeugt. Liebe, Sexualität und Erotik oder Gewalt – all diese zugespitzten Lebensmomente kommen in Drehbüchern vor und sind ausschlaggebend für die Entwicklung der Figuren. Diese werden in einer ersten Runde möglichst genau definiert. Emotional aufgeladene, intimen wie auch heikle Szenen sind da noch gar nicht relevant.

Vorweg – der respektvolle Umgang am Set funktioniere in der Schweizer Filmindustrie relativ gut – «es findet sogar eine Art Selbstregulierung statt, da die Produktionen durch Fehler ihre Reputation verlieren können.

Corinna Glaus, Mitinhaberin von Glaus & Gut Casting

Im Vorfeld Grenzen setzen

Bei einer extremen und affektiven Szene wie einem Mord oder einer Vergewaltigung, gibt es immer eine ausschlaggebende Vorgeschichte – das meiste entwickelt sich aus etwas heraus. Zuerst müsse der Charakter und das passende Umfeld erarbeitet werden, um einen überzeugenden Plot zu generieren – ein sensibler Prozess zwischen Regie und Schauspieler*in. In der Schweizer Produktion «Earlybirds», so Glaus, wurden gewalttätige Stunt-Szenen zuerst technisch geprobt. Dies sei sehr heftig für die Schauspieler*in – man müsse sich darüber im Klaren sein, welche expliziten Inhalte gezeigt werden, um emotional dahinterstehen zu können. «Dazu gehört auch die Möglichkeit, klare Grenzen zu setzen, beispielsweise ein Körperteil nicht zu zeigen», betont Glaus. Es gebe aber auch nicht explizit-intime Szenen mit einer grossen subtilen Wirkung, «ich denke dabei an eine Liebeszene, bei der sich zwei Personen mit einer grossen Intensität einfach nur betrachten». Solche Momente entstehen zwischen den Schauspieler*innen, da sind Regie und Caster*innen schon beinahe störend, jedoch im Vorfeld wichtig, um die Basis zu schaffen, damit so eine Szene überhaupt entstehen kann. «Alles andere ist blosser Stress, Überforderung und nicht aussagekräftig». Auch sei es wichtig, bereits während dem Casting alle Themen anzusprechen oder schriftlich abzusprechen – nie erst am Set, weil man da immer in einer schlechteren Position sei. «Schauspieler*innen ohne Agentur müssen die Gewissheit haben, dass sie mit Regie und Produktion ein Vertrauensverhältnis aufbauen und sie konkret in die Umsetzung einbezogen werden.»

Es gebe aber auch nicht explizit-intime Szenen mit einer grossen subtilen Wirkung, «ich denke dabei an eine Liebeszene, bei der sich zwei Personen mit einer grossen Intensität einfach nur betrachten»

Intimität klären – Intimacy-Coaches als Sprachrohr

In Spielfilmen werde der Plot jeweils hergestellt, «das Handwerk der Filmenden ist es, so gut zu faken, dass alles glaubhaft erscheint. Dabei ist Sexualität ein prädestiniertes Thema, dass jeweils sehr individuell umgesetzt wird. Seitens Regie führt das auch zu Überforderung – dabei ist es nicht zielführend, eine Sexszene ‘dokumentarisch’ zu filmen, und zu glauben, sie sei deshalb berührender, krasser, glaubhafter oder natürlicher.» Die Produktion «99 Moons», die 2022 erschienen ist, handelt von einer heftigen Beziehung, die sich vor allem über Szenen mit klaren sexuellen Handlungen definiert. Beim gemischten Cast von Laien und Profis war ein Intimacy-Coach anwesend, um den Ablauf zu leiten – «quasi ein*e Anwält*in für die Schauspielenden», erklärt Glaus. Bis ins Detail wird das Vorgehen gemeinsam erarbeitet, «der Intimacy-Coach ist wichtiger Aspekt der Sprache der beiden Akteur*innen, Im Casting-Prozess ist dies wichtiger als die Szenen selbst.» Grenzverletzungen können also insbesondere im Vorfeld vermieden werden. Dies zeigt Wirkung – noch bis in die 90er Jahre wurde am Set relativ unbedacht agiert, traumatische Situationen, teils ohne böse Absicht, seien an der Tagesordnung gewesen. Die Produktion war «wie eine grosse Maschine, die laufen musste» – sich dagegenzustellen barg die Gerfahr, diskreditiert zu werden. «Das waren heftige Zustände und darin liegt der Ursprung der Me too-Bewegung. Seitdem ist es Produzent*innen nicht mehr möglich, Übergriffe unter dem Deckmantel von künstlerischer Tätigkeit zu vertuschen», zeigt sich Glaus erleichtert. Doch auch heute noch ist es wichtig, für das Wohlbefinden einzustehen und im Falle von Unsicherheit die Agentur stellvertretend handeln zu lassen und einen Verband wie SzeneSchweiz darauf anzusprechen.

Seitens Regie führt das auch zu Überforderung – dabei ist es nicht zielführend, eine Sexszene ‘dokumentarisch’ zu filmen, und zu glauben, sie sei deshalb berührender, krasser, glaubhafter oder natürlicher.»

Weiter gebe es auch Produktionen ohne Caster*innen, die für das Auftreten von Red Flags prädestiniert seien. In Seminaren und Workshops betont Glaus «als Schauspieler*in ist man selbst verantwortlich, und muss klären, mit welcher Art Produktion man es zu tun hat.» Dasselbe gelte für E-Castings mit sogenanntem «Self-Taping» – zwar ein praktikables Vorgehen – aber auch dort müsse besondere Vorsicht gewahrt werden. Das Credo an sich selbst laute: «Ich zeige mich kritisch, mit einer Wachheit und Reife.» Das sei, gemäss Glaus, längst nicht allen Schauspieler*innen gegeben und müsse trainiert werden.

«Filme sind immer ein Spiegel der Realität, die Auswahl von Schauspielenden an Castings sollten keiner Alibi-Übung gleichkommen, die sich auf mehr Diversität beruft.»

Diversität vs. schauspielerische Qualität

Im Hinblick auf Diversität am Set herrscht eine eigene Dynamik bei der Wahl der Besetzungen. «Filme sind immer ein Spiegel der Realität, die Auswahl von Schauspielenden an Castings sollten keiner Alibi-Übung gleichkommen, die sich auf mehr Diversität beruft.» Die Schwierigkeit bestehe darin, die Rollen angemessen zu verteilen, im Hinblick auf kulturelle Herkunft wie auch andere wichtige Charakteristiken einer Person und der zu vergebenden Rolle. «Letztendlich brauchen wir aber Besetzungen, die der Rolle gerecht werden. Das kann unterschiedliches bedeuten – wir Caster*innen stehen am Ende der Kette und müssen bei bereits bestehenden Filmprojekten überzeugende Schauspieler*innen finden.», sagt Glaus. Es gebe Richtlinien vom Bundesamt für Kultur als auch bei Fernsehredaktionen, die Diversität in jedem Bereich einfordern – dies wird sich zukünftig noch mehr etablieren auf allen Ebenen, damit mehr Schauspielende den Mut haben sich zu outen und für mehr Sichtbarkeit sorgen. «In der Filmindustrie gibt es aber diesen verzögerten Rhythmus, da Filme sich immer an der Gesellschaft orientieren», erklärt Glaus. In Bezug auf Minoritäten müsse teils in ganz Europa gecastet werden, um passende Besetzungen zu finden. Es stelle sich durchaus die Frage nach der Gleichbehandlung von Schauspielenden, jedoch gehe es primär um die eingeforderte schauspielerische Qualität.

„Die Gefahr einer schlechten Besetzung ist in solch spezifischen Fällen sehr hoch, was zu einem Rückfall in Sachen Respekt, beziehungsweise einer eventuellen Stigmatisierung der Rolle als auch der Person dahinter führen kann“

Fremde Sprachen und Beeinträchtigung als Herausforderungen 

Auch die Besetzung im Film «Semret» aus dem Jahr 2022 war eine Herausforderung für Glaus und ihre Agentur. Es geht um eine aus ihrem Heimatland Eritrea geflüchteten Frau und ihre Tochter. Dafür musste eine Schauspielerin gefunden werden, die Tigrinya spricht – «was eigentlich unmöglich ist. Wir haben dann eine passende Besetzung aus England gefunden, primär eine Musikerin. Die Gefahr einer schlechten Besetzung ist in solch spezifischen Fällen sehr hoch, was zu einem Rückfall in Sachen Respekt, beziehungsweise einer eventuellen Stigmatisierung der Rolle als auch der Person dahinter führen kann» – eine sehr komplexe Angelegenheit, die sich auch um ethische Fragen dreht. «Die eigene Geschichte fliesst notgedrungen immer mit ein, es geht um Vertrauen im Hinblick auf die eigene Biografie, um Emotionen und Erlebnisse.» Besonders bei Laiendarsteller*innen muss sorgfältig geprüft werden, ob die Rolle überzeugt.

Filmsets können aber, wie Glaus sagt, dennoch oft «wie eine Militär- oder Pfadi-Übung sein, teils dauern die Aufnahmen 10-12h bei miserabler Witterung und an unkomfortablen Orten – sie sind quasi immer wieder als ‘Ausnahmezustand’ zu verstehen».

Ein anderes Beispiel für eine herausfordernde Besetzung der Hauptrolle war die SRF-Serie «Neumatt». In Kooperation mit dem Theater Hora wurden die Anforderungen an Schauspielende mit Beeinträchtigung, beziehungsweise deren Rollen, besprochen. Am Set herrsche oft ein stressiger Rhythmus, der geeignet abfedert werden muss und die Anforderungen an die Bedürfnisse anpasst. In der Hauptrolle war ein Laiendarsteller mit Spielerfahrung, der die Thematik der Beeinträchtigung aber nicht ausgespielt, sondern inhaltlich zurückgebunden und nur minimal thematisiert hat. «Man muss sich über die Bedeutung einer Beeinträchtigung bewusst sein – physisch, emotional als auch kognitiv stellt sie Herausforderungen» und es fragt sich, wie sie im Film «aufgefangen» werden können. Auch bei der Arbeit von Kindern am Set gelten besondere Bedingungen des Staatssekretariats für Wirtschaft Seco, die eingehalten werden müssen. Filmsets können aber, wie Glaus sagt, dennoch oft «wie eine Militär- oder Pfadi-Übung sein, teils dauern die Aufnahmen 10-12h bei miserabler Witterung und an unkomfortablen Orten – sie sind quasi immer wieder als ‘Ausnahmezustand’ zu verstehen».

Bild: Ariane Pochon (zvg)

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