Schweizerisches Theatertreffen mit „transkantonalem“ Anspruch
Letzen Mittwoch bis Sonntag fand das Schweizer Theatertreffen in Fribourg statt, Ensemble hat sich mit Julie Paucker getroffen. Sie ist seit 2022 als künstlerische Leitung engagiert und hat mit der damaligen Geschäftsleitung die Veranstaltung konzeptuell vorangetrieben. Ein Gespräch über die dringliche Rolle der Mehrsprachigkeit im Theater und Kollaborationen über die Kantonsgrenzen hinweg.
Julie Paucker ist von Haus aus Dramaturgin, sie arbeitete in der Schweiz als auch in Deutschland am Theater Basel, am Deutschen Nationaltheater in Weimar und anderen. Mit ihrer transnationalen Kompanie Kula produziert sie mehrsprachige Stücke, diesem Schwerpunkt widmet sie sich nun auch in der Schweiz. Sie meint: „Sowohl die Ästhetik als auch die Theatervorgänge, -abläufe und -prozesse werden inzwischen international anders gedacht und bergen spezielle Herausforderungen.“ Darauf war die 47-Jährige bestens vorbereitet, sie begreift den Unterschied zwischen den Kantonen als Chance, voneinander zu lernen.
„Sowohl die Ästhetik als auch die Theatervorgänge, -abläufe und -prozesse werden inzwischen international anders gedacht und bergen spezielle Herausforderungen.“
Paucker arbeitete während ihres Studiums bei Migros Kulturprozent und weiss daher, dass die Thematik um die Mehrsprachigkeit die Förderer schon längere Zeit beschäftigt. „Diese Frage lässt einen nicht los, sowohl auf künstlerischer Ebene als auch auf struktureller Ebene. Ein Produktionsprozess ist generell spannender, wenn man mit unterschiedlichen Auffassungen arbeitet». Transnationales, oder eben „transkantonales“ Theater interessiert die gebürtige Zürcherin in vielen Aspekten. Es schärfe den eigenen Blick hinsichtlich dessen, was man aus anderen „Theater-Systemen übernehmen, angleichen und verbessern könne“.
„Diese Frage lässt einen nicht los, sowohl auf künstlerischer Ebene als auch auf struktureller. Ein Produktionsprozess ist generell spannender, wenn man mit unterschiedlichen Auffassungen arbeitet.“
Dies gelte auch für die Schweiz, wo verschiedene Systeme wie kleinere Stadttheater, Häuser von nationaler Ausstrahlung und freie Szene nebeneinander existieren. Dazu komme die Romandie, wo man eher auf das Touring-System mit produzierenden und einladenden Häusern setze. Gerade in den Bereichen „Theater-Markt“, Verkauf und Werbung, wie auch bei der Förderung, könne man viel voneinander lernen. Wegen der Sprachdifferenz stehe die Schweiz modellhaft für Europa oder sogar die Welt – eine riesige Chance also, mit kultureller Diversität umzugehen, sie zu begreifen und sich zu Nutze zu machen. Paucker meint dazu: „Danach ist man auch international fit, denn es sind dieselben Fragen, die sich zwischen unterschiedlichen Ländern stellen!“ Es ist somit auch die Kernmission des Theatertreffens, Theater aus allen Regionen zu versammeln und an ein lokales Publikum heranzutragen, zu wachsen zwischen Landesteilen und Theaterschaffende zusammenzubringen. „Es ist immer ein Erlebnis, zu sehen, wie wenig man sich kennt, obwohl man im selben Business, auf vergleichbarem Niveau, und Bekanntheitsgrad arbeitet. Da kann man etwas bewegen!“, ist Paucker überzeugt.
Es ist somit auch die Kernmission des Theatertreffens, Theater aus allen Regionen zu versammeln und an ein lokales Publikum heranzutragen, zu wachsen zwischen Landesteilen und Theaterschaffende zusammenzubringen.
„Mit dem Titel des Rahmenprogramms „Umbruch, Aufbrauch“, möchte ich ein Zeichen setzen. Besonders wächst die Bewusstheit darüber, dass man sich verbinden kann, gemeinsam über Kultur nachdenken und sich inspirieren lassen.“ Ein weiteres Beispiel für die Stärkung ist die diesjährig neue, kooperative Idee des „Salon d’artistes“, eine Tradition aus der Romandie, bei dem Stücke vor Veranstalter*innen präsentiert werden. Damit wird ein Markt generiert und Interesse geweckt, bevor das Stück überhaupt produziert ist. Ausserdem entstehen daraus Ko-Produktionen und Einladungen, nachdem die Stücke gepitcht wurden.
Die Sélection hat als marktorientierteste Veranstaltung das Potenzial, Künstler*innen auf Tour zu bringen. «Es wird viel produziert und zu wenig gezeigt, obwohl das verdient wäre!».
Paucker entscheidet im Alleingang, welchen Künstler*innen sie eine Plattform geben möchte, sie erhält dafür im Vorfeld Unterstützung von Scouts aus den verschiedenen Regionen. Für die Sélection werden fünf Positionen vergeben, die Shortlist dient dazu, den Künstler*innen zu mehr Sichtbarkeit zu verhelfen. Es besteht das Potenzial, „über die Sprachgrenze“ hinaus eingeladen zu werden, die Sélection hat als marktorientierteste Veranstaltung das Potenzial, Künstler*innen auf Tour zu bringen. Paucker meint: „Es wird viel produziert und zu wenig gezeigt, obwohl das verdient wäre!». Primärer Aspekt sei es, den Spagat zwischen Festival, einem lokalen, plus ein gesamtschweizerisches Publikum zu meistern. „Darunter gibt es ganz unterschiedliche Ansichten und Rezeptionen zu Stücken – Theater-Kosmen und Ästhetiken werden teils anders interpretiert und finden nicht immer bei allen Landesteilen Gefallen. Es müssen also Stücke gefunden werden, die dazu verführen, sich mit Theater der anderen Kantone zu beschäftigen. Sie müssen solide sein, einen ästhetischen Anspruch erfüllen und von ganzem Herzen vertretbar!“ Aus diesem Grund hat man sich auch vom Kuratorium und Jury entfernt, Paucker verleiht der Auswahl ihr Profil, „Ich suche in der Gemengelage passende Stücke“, sagt sie und schmunzelt.
„Darunter gibt es ganz unterschiedliche Ansichten und Rezeptionen zu Stücken, Theater-Kosmen und Ästhetiken werden teils anders interpretiert und finden nicht immer bei allen Landesteilen Gefallen. Es müssen also Stücke gefunden werden, die das können und dazu verführen, sich mit Theater der anderen Kantone zu beschäftigen.“
Die Sélection auf einen Blick
Darunter hat „Ödipus Tyrann„…
überzeugt, es handelt sich um ein Powerplay von zwei Frauen unter der Regie von Nicolas Stemann. «Ich habe Frauen noch nie so spielen sehen – die Tragödie wird mit einem grossen Stadttheatergestus vertreten, die Rollen schauspieltechnisch auf hohem Niveau und mit einem extremen Selbstbewusstsein gespielt – was überzeugt und gleichzeitig berührt.» Mit der Eröffnung möchte Paucker ein Zeichen setzen für die grossartigen schauspielerischen Leistungen und Regiehandschriften.
ist eine deutsch-schweizerische Produktion vom Theater Neumarkt, wie der Titel sagt „- Der einzige Politthriller der Schweiz“, und war bisher immer ausverkauft. „In dieser Produktion versammelt sich vieles, was ich persönlich gerne mag. Es ist gleichsam Revue, musikalische Choreografie und „Marthalerisch“ vom Stil her – schräg und skurill mit einem poetisch-dokumentarischen Boden. Für das Theatertreffen ist das Stück wie gespuckt – die Schweiz behandelt einen Politfall, das passt auf vielen Ebenen gut! Gleichzeitig ist das Stück EWS ein Kind unserer Zeit!“ Ein grosser Anteil der Schauspielerinnen sind Laien. «Expert*innen und Zeug*innen des Alltags sind als Praxis neuerdings beliebt!» Ausserdem tritt mit Lara Stoll eine sehr gute Slam-Poetin auf und rundet das Ganze ab.
„In dieser Produktion versammelt sich vieles, was ich persönlich gerne mag. Es ist gleichsam Revue, musikalische Choreografie und „Marthalerisch“ vom Stil her – schräg und skurill mit einem poetisch-dokumentarischen Boden. Für das Theatertreffen ist das Stück wie gespuckt – die Schweiz behandelt einen Politfall, das passt auf vielen Ebenen gut! Gleichzeitig ist das Stück EWS ein Kind unserer Zeit!“
findet in Klassenzimmer statt, Paucker sagt dazu: «das Stück ist aber nicht für Kinder – das ist schon der Witz». Laura Gambarini erteilt eine Deutschlektion vor einem vorwiegend frankophonen Publikum, «eine grosse Komödie in a Nutshell – das muss man nicht weiter begründen, es geht um den Röstigraben und die schlechte Sprachkompetenz der Romands».
Bei „Le relazione pericolose“…
ist die italienische Version des französischen Briefromans «Gefährliche Liebschaften», Künstlerische Leitung hat der Direktor des Theaters, Carmelo Rifici, übernommen. Paucker erklärt: «Er hat mit verschiedenen Texten gearbeitet, um die philosophische Auseinandersetzung mit Macht, Liebe, Kampf und Krieg anhand der Hauptfiguren durchzuspielen – idealer Stoff für die Kriegsführung in der Erotik!» Es handelt sich um eine aussergewöhnlich schöne, installative Bühnengeschichte, mit einfachen theatralen Mitteln werden grosse Bilder erzeugt. «Ich wollte unbedingt eine grosse Bühnenproduktion aus der italienischen Sprache ans Theatertreffen bringen, wo im Tessin vorwiegend kleinere erarbeitet werden – oder Abgänger*innen der Scuola Dimitri, deren Produktionen eher verspieltere Formen annehmen. Italienisch ist ausserdem eine grossartige Bühnensprache!»
– «das Vorurteil» ist eine Familienposition, die sich an junge Leute richtet, aber auch für Erwachsene unterhaltsam ist. Das Théâtre Am Stam Gram ist berühmt für Familien- und Kinderproduktionen, das grosse Ensemble erzählt eigene Geschichte über die Problematik des Alterns der Grossmutter. Aber das Besondere an der Produktion ist der politische Horizont, „das Stück hat gleichzeitig eine humorvolle Ebene und ist spektakulär auf technischem Niveau- es ist etwas los! Es geht um die Themen Tod, Armut und was Fantasie bewegen kann.“
Das Stück „Rendez-vous„…
stammt direkt von Eugénie Rebetez, die, in der Deutschschweiz noch kaum bekannt, in der Romandie ein gefeierter Star ist. Sie arbeitet primär mit Künstler*innen, die nicht aus ihrem Metier kommen – genau diese Begegnungen sucht sie auf der Bühne. Dies passiert physisch wie musikalisch, über Bewegung, und ist in jedem Fall sehr unterschiedlich. «Es hat mit den Realitäten zu tun, die diese Personen mitbringen. Das Resultat ist sehr zart und berührend, und trägt den Charme ihrer Person, aber auch eine gewisse Bescheidenheit, da Rebetez wirklich das Verborgenen sucht, was zwischen ihr und den Künstler*innen liegt. Es wirkt repräsentativ für den Wunsch nach dem Erfahren andere Realitäten.“, erzählt Paucker.
„Ich hoffe sehr auf Folgeeinladungen, denn dies ist sehr dringlich. Es handelt sich um eine Koproduktion, das un-schweizerischste und schweizerischste Stück gleichzeitig – die Thematik ist schweizerisch, das Ensemble international.“
wird von einem deutsch-schweizerisch-kongolesischem Ensemble gespielt, die Leute müssen extra hierfür engagiert werden. Bisher wurde das Stück erst in der Kaserne Basel mit grossem Erfolg aber vor wenig Publikum gespielt. «Ich hoffe sehr auf Folgeeinladungen, denn dies ist sehr dringlich. Es handelt sich um eine Koproduktion, das un-schweizerischste und schweizerischste Stück gleichzeitig – die Thematik ist schweizerisch, das Ensemble international.» Paucker freut besonders die Mehrsprachigkeit, die Sprachen aus dem Kongo, die Musik, der Sprechgesang – ein grosses Konzert mit dokumentarischem Inhalt. Es dreht sich um das Verhalten der Schweiz in Kolonialzeiten, Paucker erklärt: «Im Fokus stehen traditionelle Trauerrituale, welche aufgrund von Grabschändungen zelebriert wurden. Es geht um den Ernst des Themas und die Restituierungs-Debatte. Aber auch um die längerfristigen Folgen von Kolonialismus und Ausbeutung. Zusätzlich ist während der Produktionszeit ein Ensemblemitglied gestorben und damit spielt eine persönliche Trauer mit in den Abend, was man spürt und auch explizit erwähnt wird. Und dennoch erlebt man einen schönen, lustvollen und musikalischen Theaterabend mit einem moralischen, aber nicht belehrenden Apell, der sich nicht zu ernst nimmt und sehr leicht und versöhnlich wirkt.“
„Deshalb auch die Klammern „Umbruch“ – Sachen sind nicht mehr gewiss – und „Aufbruch“ mit einer positiven Note, und dem Ziel, eine Umfunktionierung vom einen zum andern herbeizuführen.“
Für die künstlerische Leiterin des Schweizer Theatertreffen Julie Paucker steht die aufwühlende Zeit, in der wir leben, sinnbildlich dafür, dass Gewohnheiten und Gewissheiten auch in der Schweiz sich verändern und sogar wegbrechen können. Sie sagt: „Wir haben hier eine sehr privilegierte Lage, es stellt sich oft die Frage, wie es weiter geht, wie sich das System verändert, und wie man die positiven Veränderungen nutzen kann. Deshalb auch die Klammern „Umbruch“ – Sachen sind nicht mehr gewiss – und „Aufbruch“ mit einer positiven Note, und dem Ziel, eine Umfunktionierung vom einen zum andern herbeizuführen. Das hat viel mit den Stücken zu tun, die absichtlich nicht nach einer Thematik ausgewählt sind, jedoch der Realität für uns alle entsprechen, dass Dinge auseinanderbrechen! Die Kooperation mit „Tasty Future“ rundet das Programm ab den Anspruch, Dinge zum Positiven verändern zu können, darunter einen Umbruch in den Medien herbeizuführen, Richtlöhne im Markt zu setzen und das allgemeine Prekariat unter den Künstler*innen zu vermindern.“
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