Publikumsschwund und freie, kritische Kunstbetrachtung in Gefahr
Im Februar erreichen die Redaktion zwei Meldungen aus Österreich und Deutschland, die das Theater betreffen und nicht gerade Wohlbehagen auslösen – eine kurze Zusammenfassung der Ereignisse.
„Am Rande einer Ballettpremiere hat der Chefchoreograph und Direktor des Staatsballetts Hannover unsere Tanzkritikerin zunächst verbal und dann auch physisch attackiert. Ein Angriff auf die freie, kritische Kunstbetrachtung generell.„, meldete die Frankfurter Allgemeine am 12. Februar.
Dieser Lead ist dem Artikel „Eklat in Hannover – Attacke auf unsere Tanzkritikerin“ entnommen, und erklärt, wie es zum Vorfall zwischen dem Chefchoreograph und Direktor des Staatsballetts Hannover, Marco Goecke, und der Tanzkritikerin Wiebke Hüster zunächst verbal und dann auch physisch mit einem Angriff mit Exkrementen kam.
In Zeiten, in denen im Kunstbetrieb Sensibilität und Achtsamkeit auf allen Ebenen proklamiert wird, ist das eine besondere Perfidie.
Frankfurter Allgemeine Zeitung
„Die bewusste Herabsetzung und Erniedrigung, die aus der vorbereiteten Exkrementen-Attacke hervorgeht, nehmen wir sehr ernst. Sie zeugt vom fatalen Selbstverständnis einer Persönlichkeit in hoch subventionierter Leitungsfunktion, die meint, über alle kritische Beurteilung erhaben zu sein und sich ihr gegenüber im Zweifelsfall auch durch Anwendung von Gewalt ins Recht zu setzen. In Zeiten, in denen im Kunstbetrieb Sensibilität und Achtsamkeit auf allen Ebenen proklamiert wird, ist das eine besondere Perfidie.“ schreibt die Frankfurter Allgemeine Zeitung.
Die Konsequenzen sehen folgendermassen aus:
„Die Intendantin der Oper Hannover, Laura Berman, teilte auf Anfrage dieser Zeitung mit, dass die Staatsoper Hannover über den Vorfall „schockiert“ sei und nun „arbeitsrechtliche Konsequenzen gegenüber Ballettdirektor Marco Goecke prüfen“ werde.“
Und:
„Frank Rieger, Landesvorsitzender des Deutschen Journalisten-Verbandes in Niedersachsen, forderte eine deutlichere Reaktion: „Die Erklärung der Staatsoper zu dem Vorfall ist völlig unzureichend, denn der Angriff auf die Journalistin der F.A.Z. ist auch eine Attacke auf die Pressefreiheit.“
„Auf eine 16-Jährige kommen zwei bis drei 60-Jährige: Der demografische Wandel hat auch den Kulturbetrieb erfasst. Ist Publikumsschwund in Theater, Oper oder Kino aufzuhalten?“, schrieb der Standart im Artikel „Kultur und Demografie: Wenn die Jungen nicht mehr ins Theater gehen“, ebenfalls am 12. Februar.
„Der Kulturbetrieb – in dem in Österreich 160.000 Menschen arbeiten – hat den akuten Covid-Stresstest relativ gut überstanden.“
Linke beklagen konservative Strukturen, Konservative wettern gegen linkes Regietheater.
Der Standart
„Und dennoch: Gerade im Theaterkontext wird die Publikumskrise in den letzten Monaten kontrovers diskutiert, oft werden ästhetsche Gründe heraufbeschworen: Linke beklagen konservative Strukturen, Konservative wettern gegen linkes Regietheater. Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer (Grüne) verteilt Beruhigungspillen und lässt eine Studie erstellen. Im März soll sie fertig sein.“
Als mögliche Gründe werden der demografische Wandel genannt, der alle Bereiche der Gesellschaft erfasse und den Kulturbetrieb vor strukturelle Probleme stellt. Wegen der Überalterung des Publikums, würden die Plätze im Theater frei bleiben und das Programm so, wie es bisher gewesen sei: Auf eine heute 16-jährige Person kämen zwei bis drei 60-Jährige. Hinzu kommt das digitale Konkurrenzangebot durch Streaming, Tendenz steigend! Weitere Begründungen lauten:
„Der Kulturwissenschafter Thomas Renz vom Berliner Institut für Kulturelle Teilhabeforschung kennt die Problematik. Zwar werde das Digitale nicht als 1:1-Ersatz dem Live-Erlebnis vorgezogen, dieser Schluss wäre zu einfach; aus Untersuchungen wisse man aber, dass junge Menschen Kulturangebote heute generell in deutlich geringerem Ausmaß wahrnehmen als noch vor 30–40 Jahren. Digitale Zeitfresser spielen dabei eine Rolle.“
Das, was im Digitalen nicht vorkommt, wird häufig im Analogen gar nicht wahrgenommen.
Und:
„Die Soziologin Susanne Keuchel weiß aus Befragungen, dass bei jungen Menschen „absolutes Unverständnis darüber herrscht, wenn ein Kulturangebot nicht im Netz abrufbar ist. Das, was im Digitalen nicht vorkommt, wird häufig im Analogen gar nicht wahrgenommen.“ Zu bedenken gibt Keuchel auch, dass heutige 16-Jährige 20 Prozent ihres Lebens im digitalen Totalrückzug während der Pandemie verbracht haben. Kein Wunder, dass das Spuren hinterlässt.“
Kleine Einrichtungen schaffen sich so ihre Nischen, große privatwirtschaftliche Player wie Streamingplattformen bringen die Nische zu den Leuten, individuell maßgeschneidert direkt ins Wohnzimmer.
Der Standart
Zwischenfazit:
„Fakt ist, so gut wie alle Kultureinrichtungen bemühen sich heute darum, Junge zu erreichen. So wirklich gelingen will das aber nur jenen, die auf Zielgruppenoptimierung abzielen können: Kleine Einrichtungen schaffen sich so ihre Nischen, große privatwirtschaftliche Player wie Streamingplattformen bringen die Nische zu den Leuten, individuell maßgeschneidert direkt ins Wohnzimmer. Übrig bleiben die Tempel bürgerlicher Hochkultur, jene, die sich keine radikale Zielgruppenfokussierung leisten können, aber trotzdem Zukunft haben wollen.“
Die Kulturpolitik scheint sich der Bedeutung dieser Fragen zumindest bewusst zu sein: Der Bund lässt Studien erstellen, die Stadt Wien eine Kulturstrategie bis 2030 ausarbeiten.
Die Debatte in der Kulturpolitik über ein potenzielles Überangebot sei dringend notwendig, meint Renz und zudem solle, gemäss Keuchel, die kostenlose Zugänglichkeit für subventionierte Kultur ermöglicht werden. Beide Experten plädieren für Durchmischung in soziokulturellen Räumen, die der Zersplitterung in Milieus entgegenwirken. „Die Kulturpolitik scheint sich der Bedeutung dieser Fragen zumindest bewusst zu sein: Der Bund lässt Studien erstellen, die Stadt Wien eine Kulturstrategie bis 2030 ausarbeiten.“ Zu guter Letzt noch der Fakt: „Dass unabhängig von Alter und Herkunft laut manchen Befragungen bis zu 50 Prozent der Bevölkerung überhaupt keine Kulturveranstaltungen besuchen, steht auf einem anderen Blatt. Das wäre wohl ein Auftrag ans Bildungssystem.“
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