Publikumsschwund und freie, kritische Kunstbetrachtung in Gefahr

Im Februar erreichen die Redaktion zwei Meldungen aus Österreich und Deutschland, die das Theater betreffen und nicht gerade Wohlbehagen auslösen – eine kurze Zusammenfassung der Ereignisse.

„Am Rande einer Ballettpremiere hat der Chefchoreograph und Direktor des Staatsballetts Hannover unsere Tanzkritikerin zunächst verbal und dann auch physisch attackiert. Ein Angriff auf die freie, kritische Kunstbetrachtung generell.„, meldete die Frankfurter Allgemeine am 12. Februar.

Dieser Lead ist dem Artikel „Eklat in Hannover – Attacke auf unsere Tanzkritikerin“ entnommen, und erklärt, wie es zum Vorfall zwischen dem  Chefchoreograph und Direktor des Staatsballetts Hannover, Marco Goecke, und der Tanzkritikerin Wiebke Hüster zunächst verbal und dann auch physisch mit einem Angriff mit Exkrementen kam.

In Zeiten, in denen im Kunstbetrieb Sensibilität und Achtsamkeit auf allen Ebenen proklamiert wird, ist das eine besondere Perfidie.

Frankfurter Allgemeine Zeitung

„Die bewusste Herabsetzung und Erniedrigung, die aus der vorbereiteten Exkrementen-Attacke hervorgeht, nehmen wir sehr ernst. Sie zeugt vom fatalen Selbstverständnis einer Persönlichkeit in hoch subventionierter Leitungsfunktion, die meint, über alle kritische Beurteilung erhaben zu sein und sich ihr gegenüber im Zweifelsfall auch durch Anwendung von Gewalt ins Recht zu setzen. In Zeiten, in denen im Kunstbetrieb Sensibilität und Achtsamkeit auf allen Ebenen proklamiert wird, ist das eine besondere Perfidie.“ schreibt die Frankfurter Allgemeine Zeitung.

Die Konsequenzen sehen folgendermassen aus:

„Die Intendantin der Oper Hannover, Laura Berman, teilte auf Anfrage dieser Zeitung mit, dass die Staatsoper Hannover über den Vorfall „schockiert“ sei und nun „arbeitsrechtliche Konsequenzen gegenüber Ballettdirektor Marco Goecke prüfen“ werde.“

Und:

„Frank Rieger, Landesvorsitzender des Deutschen Journalisten-Verbandes in Niedersachsen, forderte eine deutlichere Reaktion: „Die Erklärung der Staatsoper zu dem Vorfall ist völlig unzureichend, denn der Angriff auf die Journalistin der F.A.Z. ist auch eine Attacke auf die Pressefreiheit.“


„Auf eine 16-Jährige kommen zwei bis drei 60-Jährige: Der demografische Wandel hat auch den Kulturbetrieb erfasst. Ist Publikumsschwund in Theater, Oper oder Kino aufzuhalten?“, schrieb der Standart im Artikel „Kultur und Demografie: Wenn die Jungen nicht mehr ins Theater gehen“, ebenfalls am 12. Februar.

„Der Kulturbetrieb – in dem in Österreich 160.000 Menschen arbeiten – hat den akuten Covid-Stresstest relativ gut überstanden.“

Linke beklagen konservative Strukturen, Konservative wettern gegen linkes Regietheater.

Der Standart

„Und dennoch: Gerade im Theaterkontext wird die Publikumskrise in den letzten Monaten kontrovers diskutiert, oft werden ästhetsche Gründe heraufbeschworen: Linke beklagen konservative Strukturen, Konservative wettern gegen linkes Regietheater. Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer (Grüne) verteilt Beruhigungspillen und lässt eine Studie erstellen. Im März soll sie fertig sein.“

Als mögliche Gründe werden der demografische Wandel genannt, der alle Bereiche der Gesellschaft erfasse und den Kulturbetrieb vor strukturelle Probleme stellt. Wegen der Überalterung des Publikums, würden die Plätze im Theater frei bleiben und das Programm so, wie es bisher gewesen sei: Auf eine heute 16-jährige Person kämen zwei bis drei 60-Jährige. Hinzu kommt das digitale Konkurrenzangebot durch Streaming, Tendenz steigend! Weitere Begründungen lauten:

„Der Kulturwissenschafter Thomas Renz vom Berliner Institut für Kulturelle Teilhabeforschung kennt die Problematik. Zwar werde das Digitale nicht als 1:1-Ersatz dem Live-Erlebnis vorgezogen, dieser Schluss wäre zu einfach; aus Untersuchungen wisse man aber, dass junge Menschen Kulturangebote heute generell in deutlich geringerem Ausmaß wahrnehmen als noch vor 30–40 Jahren. Digitale Zeitfresser spielen dabei eine Rolle.“

Das, was im Digitalen nicht vorkommt, wird häufig im Analogen gar nicht wahrgenommen.

Und:

„Die Soziologin Susanne Keuchel weiß aus Befragungen, dass bei jungen Menschen „absolutes Unverständnis darüber herrscht, wenn ein Kulturangebot nicht im Netz abrufbar ist. Das, was im Digitalen nicht vorkommt, wird häufig im Analogen gar nicht wahrgenommen.“ Zu bedenken gibt Keuchel auch, dass heutige 16-Jährige 20 Prozent ihres Lebens im digitalen Totalrückzug während der Pandemie verbracht haben. Kein Wunder, dass das Spuren hinterlässt.“

Kleine Einrichtungen schaffen sich so ihre Nischen, große privatwirtschaftliche Player wie Streamingplattformen bringen die Nische zu den Leuten, individuell maßgeschneidert direkt ins Wohnzimmer.

Der Standart

Zwischenfazit:

„Fakt ist, so gut wie alle Kultureinrichtungen bemühen sich heute darum, Junge zu erreichen. So wirklich gelingen will das aber nur jenen, die auf Zielgruppenoptimierung abzielen können: Kleine Einrichtungen schaffen sich so ihre Nischen, große privatwirtschaftliche Player wie Streamingplattformen bringen die Nische zu den Leuten, individuell maßgeschneidert direkt ins Wohnzimmer. Übrig bleiben die Tempel bürgerlicher Hochkultur, jene, die sich keine radikale Zielgruppenfokussierung leisten können, aber trotzdem Zukunft haben wollen.“

Die Kulturpolitik scheint sich der Bedeutung dieser Fragen zumindest bewusst zu sein: Der Bund lässt Studien erstellen, die Stadt Wien eine Kulturstrategie bis 2030 ausarbeiten.

Die Debatte in der Kulturpolitik über ein potenzielles Überangebot sei dringend notwendig, meint Renz und zudem solle, gemäss Keuchel, die kostenlose Zugänglichkeit für subventionierte Kultur ermöglicht werden. Beide Experten plädieren für Durchmischung in soziokulturellen Räumen, die der Zersplitterung in Milieus entgegenwirken. „Die Kulturpolitik scheint sich der Bedeutung dieser Fragen zumindest bewusst zu sein: Der Bund lässt Studien erstellen, die Stadt Wien eine Kulturstrategie bis 2030 ausarbeiten.“ Zu guter Letzt noch der Fakt: „Dass unabhängig von Alter und Herkunft laut manchen Befragungen bis zu 50 Prozent der Bevölkerung überhaupt keine Kulturveranstaltungen besuchen, steht auf einem anderen Blatt. Das wäre wohl ein Auftrag ans Bildungssystem.“

Neues im Februar

reso Tanznetzwerk Schweiz 

Text übernommen aus dem Newsletter

Neues OpenScape-Event: Prototyping Cultural Practices

The Khan (Tripoli / LB) und OpenScape untersuchen die Beziehungen zwischen Institutionen, Kunstschaffenden und den Bewohner·innen vor Ort in einer Reihe von Online-Dialogen und einer abschliessenden öffentlichen Veranstaltung. In den kommenden Wochen veranstalten wir öffentliche Gespräche zwischen Vertreter*innen eines Kulturorts und einem·r Künstler*in, die über die Auswirkungen ihrer Arbeit diskutieren werden. Diese Gespräche werden live geführt und aufgezeichnet, so dass man sie auch später anhören kann. Am 28. Februar findet von 14:30-16:30 Uhr eine öffentliche Online-Veranstaltung statt, bei der die Teilnehmenden die Möglichkeit haben, Künstler*innen und Institutionen direkt zu ihren jeweiligen Verantwortlichkeiten zu befragen.

Podcast „Dance goes École“: Neue Folge auf Französisch

Nach einer ersten Podcast-Reihe «Tanz goes Schule» startet Reso nun eine zweite Serie von spannenden Podcasts zu verschiedenen Tanzformaten, die den schulischen Alltag bereichern – diesmal aus der Romandie und in französischer Sprache. Ab sofort kann man die neue Folge «Wouah! Eine Schulaufführung, die es in sich hat» auf unserer Webseite hören.

Das Tanzfest 2023: Preisträger·innen bei Dance on Tour

Auch 2023 bietet das Tanzfest in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Kultur den Preisträger·innen der Schweizer Preise Darstellende Künste eine Plattform, um ihre Tanzkreationen einem grossen, breit gefächerten Publikum zu präsentieren: Fünf Arbeiten von preisgekrönten Künstler*innen werden im Rahmen einer Tournee schweizweit am diesjährigen Tanzfest vom 10. bis 14. Mai 2023 gezeigt – in spannenden Settings abseits der klassischen Bühnensituationen.


Schweizer Künstlerbörse 2023

Vom 19.-22. April findet die Schweizer Künstlerbörse 2023 statt, Eröffnungsabend ist der Mittwoch, 19. April im Kultur- und Kongresszentrum Thun. Im Rahmen des Eröffnungsabends wird Mike Müller sein Stück «Erbsache – Heinzer gegen Heinzer und Heinzer» aufführen. In der Komödie treffen sich drei zerstrittene Geschwister wegen einer Erbangelegenheit vor Gericht. Diese und zahlreiche weitere Figuren verkörpert der vielseitige Autor und Schauspieler als virtuose, hochamüsante und absurde One-Man-Show. Mike Müller wurde letztes Jahr mit einem «Schweizer Preis Darstellende Künste» ausgezeichnet. Die Schweizer Künstlerbörse ist Promotionspartnerin der vom BAK vergebenen Preise und freut sich, Mike Müller am Eröffnungsabend eine Plattform bieten zu dürfen.  Ab 18:30 Uhr wird zum Apéro im Foyer des KKThun eingeladen, an dem Frau Gemeinderätin Katharina Ali-Oesch und weitere Vertreterinnen und Vertreter der Politik Ansprachen halten werden. Durch diesen ersten Teil des Abends führen unsere «Special Guests», die Gnunns der Westschweizer Theatergruppe The Big Bang CompanyGnunns sind quirlige Dämon*innen, die gerne tanzen, lachen und allerlei Schabernack treiben.Bestellen können Sie Ihre Tickets für den Eröffnungsabend bis am Donnerstag, 23. Februar online via folgenden Link.


Am 6. März startet der m2act Call for Action 2023! m2act, das Förder- und Netzwerkprojekt des Migros-Kulturprozent für die Darstellenden Künste, gibt euch die Möglichkeit, Veränderungen anzupacken!

  • Möchtest du mit deinem Team eine aktuelle, konkrete Herausforderung eurer Arbeitsrealität anpacken oder eure Arbeitsweise nachhaltig verändern?
  • Wollt ihr diesen Prozess mit der Unterstützung von Expert*innen angehen?
  • Gibt es bestimmte Tools, Methoden oder Prozesse, die ihr dabei anwenden möchtet?
  • Spiegelt sich euer Vorhaben in den Zielen von m2act wider? (faire Praxis, Nachhaltigkeit, offener Wissenstransfer)
  • Seid ihr bereit, eure Erkenntnisse aus dem Prozess aufzubereiten und mit anderen zu teilen?
  • Habt ihr Zeit, euer Vorhaben bis im Sommer 2023 detailliert auszuarbeiten und bis im Sommer 2024 abzuschliessen?

Der m2act Call for Action 2023 richtet sich an Compagnien, Häuser, Festivals, Produktionsbüros, Netzwerke und andere feste Formationen und Strukturen, die ko-kreativ – also gemeinsam mit Expert*innen – eine konkrete Herausforderung ihres Arbeitsalltags angehen und Lösungsansätze anwenden möchten. Ihr könnt selbst Expert*innen vorschlagen oder, sollte euer Vorhaben ausgewählt werden, gemeinsam mit m2act geeignete Personen suchen.

Ab dem Montag, 6. März 2023 könnt ihr euer Vorhaben eingeben. Eingabeschluss ist der 4. April 2023 (Das Gesuchsportal schliesst automatisch um Mitternacht.)

Der nächste m2act Anlass findet vom 15. – 17. September 2023 in Bern statt. Für diese Veranstaltung kollaborieren wir mit Burning IssuesIntegrARTBühnen Bern, der Dampfzentrale und dem Schlachthaus Theater. Unter dem Titel «M2ACT x BURNING ISSUES – Performing Arts & Action» bündeln wir die Expertise verschiedener internationaler Akteur*innen, die sich für einen nachhaltigen, gerechten und fairen Kulturbereich engagieren. Save the date!

Vom Wert der Gewerkschaften – eine Metastudie

Eine Metastudie zum Einfluss von Gewerkschaften und Gesamtarbeits- verträgen auf Löhne, Arbeitsbedingungen und Produktivität.

Text übernommen aus der Studie der SGB

Seit über 100 Jahren schliessen sich Berufstätige in Gewerkschaften zusammen, um ihre Arbeits- bedingungen und ihre Rechte im Betrieb oder in den Branchen zu verbessern. So verhindern sie, dass sie gegeneinander ausgespielt werden können. Gewerkschaften verhandeln mit den Arbeitgebern Gesamtarbeitsverträge (GAV) und ersetzen so die individuelle Lohnpolitik. Sie erkämpfen in den Betrieben mehr Mitbestimmung. Und sie nehmen Einfluss auf die Politik, wenn es um Fragen des Arbeitsrechts oder der sozialen Sicherheit geht. Spätestens seit der Finanzkrise geniesst diese Arbeit der Gewerkschaften in vielen Ländern wieder sehr viel Rückhalt in der Bevölkerung.

In den letzten rund 20 Jahren haben Ökonominnen und Ökonomen die Gewerkschaften und ihren Einfluss auf Löhne und Beschäftigung besonders intensiv untersucht. Welchen Einfluss haben Ge- werkschaften und Gesamtarbeitsverträge auf die Löhne? Was sind die Auswirkungen auf die Beschäftigung, die Produktivität und die Innovationstätigkeit der Firmen?

Gewerkschaften und Gesamtarbeitsverträge sind eine Art Gegenpol zum marktmächtigen Arbeitgeber. Sie können Missbräuchen entgegenhalten und verhindern, dass Arbeitgeber ihre Stellung auf Kosten der Berufstätigen ausnützen.

Wegweisend an der neueren Forschung ist insbesondere die Erkenntnis, dass viele Arbeitgeber eine Marktmacht haben («Monopson-Theorie», siehe weiter unten). Zum Beispiel weil es für die Arbeitneh- menden aufwändig ist, ihre Stelle zu wechseln – aufgrund von firmenspezifischem Wissen, das dann verloren geht, oder hohen Umzugskosten. Oder weil Firmen nur wenige Konkurrenten auf ihrem lokalen Arbeitsmarkt haben; beispielsweise beim Extremfall SBB für Lokführer*innen.

In den neuen Untersuchungen sind frühere ökonomische Vorurteile ins Wanken geraten. Die Studien zeigen: Gewerkschaften und Gesamtarbeitsverträge sind eine Art Gegenpol zum marktmächtigen Arbeitgeber. Sie können Missbräuchen entgegenhalten und verhindern, dass Arbeitgeber ihre Stellung auf Kosten der Berufstätigen ausnützen. Das lohnt sich, besonders für Beschäftigte mit tiefen und mittleren Einkommen. Ihre Löhne profitieren am meisten von einem GAV oder einer starken Gewerkschaft im Unternehmen. Das reduziert die Lohnungleichheit. Und im Gegensatz zu früheren Befürchtungen steigt die Arbeitslosigkeit nicht. Die Auswirkungen auf die Beschäftigung sind höchstens gering und sehr umstritten.

Zahlreiche Untersuchungen zeigen, dass ein Anstieg des gewerkschaftlichen Organisati- onsgrads insgesamt zu höheren Löhnen führt. Die Auswirkung ist bei tiefen und mittleren Löhnen am grössten.

Ein Dossier der SGB wertet über 100 Studien zu Gewerkschaften und GAV und ihrer Bedeutung für den Arbeitsmarkt aus. Insbesondere zu den Themen Lohn, Arbeitsbedingungen, Beschäftigung, Arbeitslosigkeit sowie zur Produktivität und Innovationstätigkeit von Firmen. Thesenartig zusammengefasst haben die Forscher*innen Folgendes herausgefunden:

Gewerkschaften und Gesamtarbeitsverträge können die Löhne erhöhen und Ungleichheiten reduzieren. Zahlreiche Untersuchungen zeigen, dass ein Anstieg des gewerkschaftlichen Organisati- onsgrads insgesamt zu höheren Löhnen führt. Die Auswirkung ist bei tiefen und mittleren Löhnen am grössten. Managerlöhne steigen dagegen in gewerkschaftlich gut organisierten Branchen und Betrieben weniger stark. Die Aktivitäten der Gewerkschaften verhindern wohl so, dass die obersten Einkommen davonziehen und die Ungleichheit steigt. Gesamtarbeitsverträge reduzieren die Ungleichheit ebenfalls und wirken Lohnungleichheiten zwischen den Geschlechtern entgegen.

Ein Teil der Lohnerhöhungen geht auf Kosten der Gewinne. Ein höherer gewerkschaftlicher Organisationsgrad erhöht den Anteil der Arbeitseinkommen am gemeinsam erarbeiteten Wohlstand, und senkt damit den Anteil des Kapitals.

Gewerkschaften können die Produktivität erhöhen. Forscher*innen finden immer wieder einen positiven Einfluss von Gewerkschaften auf die Produktivität, zumindest in bestimmten Branchen. Der Einfluss der Gewerkschaften auf die Investitionen und die Innovation ist umstrittener.

Diese konsequente Ausrichtung an der empirischen Realität hat dazu geführt, dass die Forscherinnen und Forscher heute davon ausgehen, dass viele oder sogar die meisten Arbeitgeber die Macht haben, Löhne festzusetzen.

Die neuere Forschung zu Gewerkschaften und GAV

Noch nie konnten Ökonom*innen die Arbeitsmärkte so genau erforschen wie heute. Im Unterschied zu früher ist die Forschung heute viel empirischer. Es gibt umfangreiche Datensätze mit Informationen zu einzelnen Firmen und ihren Beschäftigten, neue statistische Methoden und leistungsfähigere Computerprogramme. Diese Voraussetzungen erlauben es, sich ein immer besseres Bild der Zusammenhänge zu verschaffen. Diese konsequente Ausrichtung an der empirischen Realität hat dazu geführt, dass die Forscherinnen und Forscher heute davon ausgehen, dass viele oder sogar die meisten Arbeitgeber die Macht haben, Löhne festzusetzen. Im Gegensatz zu einer idealisierten Welt des „perfekten Wettbewerbs“, welche lange Zeit das Standardmodell der Arbeitsmarktökonomie war, kündigen die Arbeitnehmenden ihre Anstellung nicht, wenn Arbeitgeber die Löhne geringfügig senken. Ebenso können Arbeitgeber auch dann auf ein Arbeitsangebot zählen, wenn sie schlechter zahlen als die Konkurrenz. Die Arbeitgeber haben deshalb eine so genannte „Monopsonstellung“.

Wenn Arbeitgeber alleine marktmächtig sind und/oder sich koordinieren und gemeinsam verhandeln, verändert das die Wirkungsweise der Arbeitsmärkte.

Was sind die Gründe für diese Marktmacht der Arbeitgeber?

Zunächst können Arbeitnehmende meist nicht sofort ihre Stelle wechseln. Die Arbeitssuche dauert, ist kostspielig und die Beschäftigten haben zu wenige Informationen über alternative Arbeitsangebote. Arbeitnehmende sind auch aus anderen Gründen an ihren Arbeitsplatz gebunden. Besonders Frauen, welche in vielen Haushalten die Kinderbetreuung stemmen, sind auf flexible Arbeitszeiten angewiesen und können es sich nicht erlauben, weit zur Arbeit zu pendeln. Auch lassen sich im Betrieb erworbene Qualifikationen nicht einfach auf andere Arbeitgeber übertragen. Schliesslich sind einige Arbeitsmärkte stark konzentriert. Für einzelne Berufe und Regionen gibt es schlicht zu wenige Arbeitgeber, als dass Arbeitnehmende wählerisch sein könnten. Wenn Arbeitgeber alleine marktmächtig sind und/oder sich koordinieren und gemeinsam verhandeln, verändert das die Wirkungsweise der Arbeitsmärkte. Starke Gewerkschaften können als Gegenpol auf solchen „Monopson“-Arbeitsmärkten durch höhere, kollektiv verhandelte Löhne nicht nur bessere Einkommen für ihre Mitglieder erzielen. Sondern sogar die Beschäftigung erhöhen. Zumindest führen Lohnerhöhungen in diesem Umfeld nicht zwingend zu weniger Beschäftigung und höherer Arbeitslosigkeit. Diese Zusammenhänge sind übrigens auch aus der neueren Forschung zu gesetzlichen Mindestlöhnen bekannt. Die Einführung und die Erhöhung von Mindestlöhnen hat in den wenigsten Ländern zu Beschäftigungsverlusten geführt. ÖkonomInnen glauben heute ausserdem immer öfter, dass die Verhandlungsschwäche der Arbeitnehmenden eine zentrale Ursache für viele makroökonomische Probleme wie stagnierende Löhne und stark gestiegene Profite ist.

Löhne auf der Bühne: Zu wenig zum Leben

Die Löhne am Theater sind tief. Zwischen 4000 und 4500 Franken brutto verdienen Schauspieler:innen bei 100 Prozent im Erstengagement nach einem intensiven Studium mit Hochschulabschluss. Selbst Menschen, die ohne Ausbildung in der Gastronomie arbeiten, verdienen mehr.

Von Yan Balistoy*

Aber es geht doch nicht nur ums Geld, oder? Das macht euch doch bestimmt auch Spass! Es gibt zahlreiche Einwendungen, um die Unverhältnismässigkeit am Theater zu rechtfertigen. Spass, Freiheit und das exklusive Künstler:innenleben ersetzen vermeintlich Fairness, Stabilität und Nachhaltigkeit.

Lange hat sich am Mindestlohn und an der intransparenten Lohnpolitik der einzelnen Häuser nicht viel verändert. Die Theaterhäuser entscheiden selbst, wie sie ihre Lohnentwicklungen gestalten möchten. Es gibt Fälle, in denen die Berufserfahrung keine Auswirkungen auf den Lohn hat. Die steigenden Lebenskosten überrollen die stehengebliebenen Löhne von festangestellten Künstler:innen und erschweren damit ihre Lebensbedingungen.

Natürlich: It’s not all about money, aber eine faire Bezahlung ist ein nun mal eine wichtige Existenzgrundlage. Künstler:innen arbeiten in Theatern, um ihr Leben zu finanzieren und leisten nicht ehrenamtliche Arbeit, weil es halt „Spass macht“. „So ist das halt am Theater“ oder „in Deutschland sind die Löhne schlechter“ sind nur zwei Scheinargumente, wenn es darum geht, unzureichende Entlöhnung an Schweizer Häusern zu rechtfertigen.

Die Angst vor der „Nicht-Verlängerung“ 

Weshalb ändert sich in der ganzen Branche nichts? Missstände anzusprechen, gefährdet die eigene Position. Künstler:innen haben Angst, ersetzt zu werden. Wir haben Angst, weil genug andere den Arbeitsplatz widerspruchslos und gerne hinnehmen würden. Spricht man Missstände an, könnte es dazu führen, dass sich das Verhältnis mit der Leitung verschlechtert, wodurch Möglichkeit näher rückt, „nicht verlängert“ zu werden. Die Nicht-Verlängerung erlaubt der Arbeitgeber:innenseite jedes Jahr Arbeitsverhältnisse nach purer Willkür aufzulösen. Es ist eines der stärksten Machtinstrumente, über das eine Theaterleitung verfügt. Diese Angst ist der Grund, warum ungerechte Arbeitsbedingungen bestehen können.

Es scheint ein geschlossener Kreis zu sein, doch alles hat einen Ursprung. Und dieser liegt in der Ausbildung. Nehmen wir beispielsweise das Schauspielstudium. Um in einem Schauspielstudium aufgenommen zu werden, muss ein Mensch vorsprechen gehen. Dabei wird schnell klar, dass willkürlich und intransparent über die Bewerber:innen entschieden wird. Weshalb jemand angenommen oder abgelehnt wird, bleibt für immer ein Rätsel.

Bewerber:innen reisen während der Vorsprechphase ein oder zwei Jahren durch Deutschland, Österreich und die Schweiz, um einen begehrten Platz an einer der zweiundzwanzig staatlichen Schauspielschulen zu ergattern. Dabei werden an einer Schauspielschule von mehreren hundert Bewerber:innen im Schnitt zehn bis zwanzig neue Student:innen in einen Jahrgang angenommen.

Ist man erfolgreich im Studium aufgenommen worden, folgt ein drei- oder vierjähriges Vollzeitstudium mit Präsenzpflicht. Absenzen werden rigoros geahndet. Ein Nebenjob ist nur unter Aufgabe der eigenen Freizeit möglich. „Alles oder nichts“ wird zur angelernten Haltung. Denn jetzt, wo man es geschafft hat, wird man nicht riskieren wollen, den wertvollen Platz zu verlieren. Die Schwierigkeit „hineinzukommen“ erhöht den Wert des Studiums und damit der versprochenen Zukunft.

Die Überbewertungsspirale

Der Wert wird nicht nach den zukünftigen Arbeitsbedingungen gemessen, sondern anhand der Exklusivität der Studienplätze. Einfacher gesagt: Je schwieriger die Aufnahmebedingungen, desto höher die Qualität des Studiums. Je weniger Studienplätze, desto wertvoller das Studium. Je wertvoller das Studium, desto höher die Bereitschaft, über seine Grenzen hinauszugehen. Je höher die Bereitschaft, desto höher die Investition. Je höher die Investition, desto wertvoller Studium.

Es findet eine Überbewertungsspirale statt. Dieser Wert orientiert sich an der Exklusivität und nicht der Sache selbst. Das Studium wird attraktiv gedeutet, weil es exklusiv ist und nicht, weil die Zukunft, für die es ausbildet, attraktiv ist. Damit wird ein Grundbaustein für das Verständnis für die Arbeit als Schauspieler:in gelegt. Der Wert der Ausbildung wird auf die zukünftige Arbeit am Theater übertragen. Auch hier gilt: Erfolg bleibt ein Geheimnis. Hauptsache durchbeissen und Glück haben, dass irgendwann jemand anbeisst.

Auch in der Berufswelt spielt das Verhältnis von Angebot und Nachfrage eine massgebende Rolle. Je weniger Plätze, desto wertvoller der Arbeitsplatz. Und weil man sich glücklich schätzen kann, einen wertvollen Arbeitsplatz zu haben, ist die Bereitschaft auch höher, mal wegzuschauen, wenn geschrien wird, wenn die Ruhezeiten nicht eingehalten werden, wenn man nicht gehört wird, wenn man nicht weiss, wie man morgen, übermorgen oder nächsten Monat arbeitet und wie man sein Leben finanzieren soll. Was für ein Glück, einen so wertvollen Platz zu haben, da seh ich vor lauter Sonnenstrahlen die fehlende Anerkennung, die Unterbezahlung, die Perspektivenlosigkeit und den Machtmissbrauch gar nicht mehr. Und ausserdem, wem es nicht passt, kann gehen, es gibt genug andere. Wir haben gelernt, dass wir uns davor fürchten sollen ersetzt zu werden, weil es nicht genug Plätze gibt. Aber diese Beschränkung rechtfertigt die Beschränktheit der Arbeitsbedingungen nicht.

Mit dieser Grundeinstellung brauchen wir uns nicht zu wundern, weshalb unsere Rechte systematisch untergraben werden und sich die Arbeitsbedingungen nicht weiterentwickeln. Unsere Arbeitsbedingungen sind ein Resultat des Systems, welches auch wir sind. Und wir werden behandelt, wie wir uns behandeln lassen. Wir müssen lernen, zusammen Grenzen zu setzen. Nein zu sagen, und zusammen faire Arbeitsbedingungen einzufordern. Anstelle von Angst, von Kolleg:innen ersetzt zu werden, muss neues Vertrauen aufgebaut werden, dass wir für einander einstehen.

Nur so können wir den Damm durchbrechen, um eine faire Arbeits- und Lebensgrundlage für Künstler:innen am Theater zu schaffen.

*Yan Balistoy ist ein multidisziplinärer Künstler. Er immigrierte in seiner Kindheit in die Schweiz. Seit seinem Schauspielstudium an der Zürcher Hochschule der Künste arbeitet er im Film und auf der Bühne. Aktuell ist er am Theater Neumarkt in Zürich engagiert, wo er seine erste Arbeit als Regisseur verwirklichen wird.

Yan Balistoy

Yan Balistoy © Katerina Sedy