Intimitätskoordination – ein Berufszweig auf der Überholspur

Gemäss der ersten zertifizierten Intimacy Coordinator Julia Effertz, unterstützt diese Berufsfeld den Entstehungs-Prozess intimer Szenen von der Vorbereitung, über den Dreh bis hin zur Post-Produktion.

Die Regie wird bei der Umsetzung ihrer kreativen Vision massgeblich durch den Intimacy Coordinator unterstützt und diese*r stellt sicher, dass Inhalte einvernehmlich entstehen und die Grenzen der Schauspieler*innen respektiert werden. Produktionen die mit Intimacy Coordination arbeiten verstehen die spezielle Schwierigkeit intimer Szenen und tragen Fürsorge für Cast und Crew.

Die Redaktion von Ensemble Magazin hat einen Medienspiegel für Sie zusammengestellt, der das Berufsfeld eingehender behandelt.

„Intimität fängt schon bei Kussszenen an. Jeder Kuss erzählt eine andere Geschichte, ist eine intime Berührung. Was auch sehr intim sein kann, ist eine Szene, in der eine Schauspielerin eine gebärende Frau spielt. Das ist mitunter sehr exponierend für die Schauspielerin.“

Julia Effertz, deutsche Intimitätskoordinatorin im Interview mit Edition F

Julia Effertz ist Schauspielerin und Intimitätskoordinatorin – im Interview mit Edition F spricht sie über diesen neuen Berufszweig, warum er so wichtig für die Filmbranche ist und wozu beispielsweise Genitaltaschen genutzt werden. Effertz sorgt bei den Probesituationen dafür, dass die Grenzen von Schauspieler*innen beim Drehen intimer Szenen eingehalten werden und erklärt im Interview, wo die Schwierigkeiten hierfür liegen. Ein kleiner Auszug:

Wie bei jeder intimen Szene arbeite ich mit der Schauspielerin körperlich, stimmlich und emotional. Das Ziel ist auch hier, daß ihr privater Körper geschützt ist und sie mit ihrem Körper die Rolle und ihre Geschichte erzählen kann. Ich sorge dafür, wie auch bei anderen intimen Szenen, dass es der Schauspielerin am Set gut geht, dass sie etwa zwischen den Takes nicht entblößt daliegt, sondern dass ihr sofort nach dem ‘Danke’ der Bademantel gereicht wird. Im Idealfall sollte auch hier  ein ,Closed Set’-Protokoll mit minimaler Crew eingehalten werden.

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„Ein choreografisches Hilfsmittel ist das ,Anchoring’, also die Bewegung über ,Anker’ anderer Körperstellen. Das kann man sich zum Beispiel so vorstellen: klassische Missionarsstellung, der Mann liegt über der Frau. Die Genitalbereiche berühren sich hierbei nicht, sondern der Schauspieler ankert seinen Oberschenkel an dem seiner Szenenpartnerin. Stoßbewegungen können dann über diese Ankerstelle ausgeführt werden. Je nachdem wie viel Nacktheit vereinbart ist, wird mit verschiedenen Kostümen gearbeitet. Das wären hautfarbene Slips oder sogenannte Genitaltaschen für Männer, in denen sie alles gut verpacken können.“

Es erschien ein weiterer Artikel über die Arbeit von Julia Effertz mit dem Titel „Ich bin nicht die Sexpolizei“ im Onlinemagazin ze.tt.

Einen kurzen Einblick in die Thematik gewährt das Format „100 Sekunden“ von SRF als Podcast. Er greift das Prinzip der fünf C’s auf, das auf den Punkt bringt, wie eine Intime Szene aufgebaut sein muss.

Mein privater Körper war durch die Intimitätskoordination völlig geschützt, mein Schauspielkörper füllte die Rolle ganz aus. Da habe ich verstanden: die Intimitätskoordination funktioniert. Sie sichert mich nicht nur ab, sie eröffnet mir auch absolute künstlerische Freiheiten.“

Julia Effertz

Eine weitere wichtige Intimitätskoordinatorin ist die junge Kalifornierin Amanda Blumenthal, die in den USA und Grossbritannien «Euphoria», «The L-Word» und «The Affair» begleitet. Sie sei als Sex- und Beziehungscoach tätig gewesen, als sie von der Stellenanzeige bei HBO hörte, erklärt sie im Interview mit der Annabelle.

Im Interview antwortet sie auf die Frage, ob sie viele Geschichten von Missbrauch am Set höre, folgendermassen:

„Allerdings, und es sind manchmal sehr extreme Geschichten: Von Regisseuren, die alle nachhause schicken, um ungestört die Hauptdarstellerin vergewaltigen zu können. Von Schauspielern, die während des Drehs backstage Sex haben. Von verbalen Entgleisungen nach dem Motto «Zeig mir deine Titten». Der Böse ist nicht immer der Regisseur, Übergriffe finden auch zwischen Setmitarbeitern oder Schauspielerkollegen statt.

Blumenthal spricht ausserdem darüber, dass auch das Erleben des Aggressors bei einer gewaltsamen Sexszene verstärkt thematisiert und mentoriert werden müsse, wie auch alle anderen Beteiligten, die dem Dreh beiwohnen und von den psychischen Herausforderungen einer solchen Szene betroffen sind.

Seit #MeToo herrscht unter den Männern grosse Nervosität. Viele haben Angst, sich falsch zu benehmen. Sie erkennen meist, dass wir dazu da sind, ihnen unangenehme Diskussionen abzunehmen, zu klären, wer sich wo anfassen darf und wie genau man sich küsst. Es verleiht Sicherheit, so eine vermittelnde, neutrale Person mit an Bord zu haben.

Amanda Blumenthal im Interview mit  Annabelle

Auf ihrer eigens für die Thematik kreierten Website „Intimacy professionals association“ teilt sie als führende internationale Organisation ihr Wissen mit Interessierten. Darunter ist eine Auflistung zu den wichtigsten Dienstleistungen eines Intimacy Coordinators zu finden:

  • Erleichterung des Dialogs zwischen den Schauspielern und dem Regisseur über ihr Wohlbefinden in Bezug auf den intimen Inhalt einer Szene
  • Emotionale Vorbereitung der Schauspieler auf intensive Intimitätsszenen, wie z. B. simulierte sexuelle Übergriffe, und Unterstützung während des gesamten Prozesses sowie emotionale Nachbetreuung, falls erforderlich
  • Sicherstellen, dass während des Drehs einer Szene die Grenzen der Schauspieler nicht überschritten werden und dass sie während des gesamten Drehs sowohl körperlich als auch emotional sicher bleiben
  • Bereitstellung einer sicheren Umgebung, in der die Schauspieler ihre Arbeit verrichten können
  • Sicherstellen, dass die Richtlinien für geschlossene Sets und SAG-Nacktheit eingehalten werden
  • Als Fürsprecher und Verbündeter für LGBTQIA+-Darsteller am Set fungieren
  • Choreografieren von simulierten Sexszenen, um die Glaubwürdigkeit zu erhöhen
  • Koordination mit Abteilungen wie Kostümen und Make-up, um sicherzustellen, dass die Schauspieler mit angemessener Nacktheitskleidung, Barrieren und Prothesen ausgestattet sind

Weitere statistische Informationen, als auch weiterführende Informationen zur Ausbildungsmöglichkeit in Deutschland, erteilt das „kmbk“ – Beratung und Netzwerk für Künstler*innen, Kreative, Kultur- und Medienschaffende aus München.

In Wirklichkeit ist gar nichts spontan oder sexy. Sexszenen sind harte Arbeit, physisch und psychisch.

Amanda Blumenthal

 

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