Streaming: Das „Foyer-Gefühl“ lässt sich digital nicht reproduzieren
Theater ohne Theater
Es ist früher Samstagabend. Ich sitze auf dem Sofa, alleine. Meine Freundin hat wegen des schönen Wetters abgesagt, „Ist ja eh nur online, und die fünf Euro sind auch kein grosser Verlust“, hat sie gemeint. Eingewickelt in die Kuscheldecke, neben mir eine angebrochene Chips-Packung und ein leeres Rotweinglas. Die Zoom-Vorstellung ist zu Ende. Ich klatsche, aus Respekt vor der Leistung und Dank für das Engagement, für die Möglichkeit in dieser Zeit Kultur rezipieren zu dürfen. Ein spärlicher Applaus von Kameramenschen und Technik vor Ort ertönt über meine Laptop-Lautsprecher. Um dieser Peinlichkeit entgegenzuwirken, versuche ich noch lauter zu klatschen und komme mir gleichzeitig sehr albern vor. Ich schreibe also in den Chat „Bravo“ und „Danke“. Ich bin nicht die Einzige, alle wollen sich ausdrücken und mitteilen, es regnet Applaus-Smileys und Grüsse aus allen möglichen Städten. Dann klappe ich meinen Laptop zu, mein Theaterabend ist beendet.
Es fehlt so vieles beim Streamen von Live-Kultur. Aber damit müssen wir nun leben. Zumindest vorübergehend. Und es ist okay. Viele sind froh überhaupt Kultur machen und erleben zu dürfen.
Das Netz wird die neue Bühne
Als im März 2020 die Kulturhäuser wegen der Pandemie schliessen mussten, waren die Institutionen sowie Künstlerinnen und Künstler gezwungen neue Wege und Formen zu finden, mit ihrem Publikum in Kontakt zu bleiben. Da selten vor Ort, kreierte man eigene Podcasts, organisierte Online-Lesungen und Zoom-Workshops. Es fanden virtuelle Stadtführungen statt, man lancierte ein Sorgentelefon, zeigte alte Stückmitschnitte und bot später vermehrt auch extra konzipierte Live-Streaming-Vorstellungen an. Einige experimentierten mit neuen theatralen Formen im Netz.
Digitales Theater ist nichts Neues. Auch vor Corona hat man Theater gestreamt und mit digitalen Formen gespielt. Wir leben in einer Zeit von digitalen Entwicklungen. Dieser Wandel aber wurde durch die aktuelle Pandemie nun zusätzlich vorangetrieben.
Kopräsenz – von beiden Seiten vermisst
„Unter einer Aufführung versteht man ein Ereignis, bei dem zwei Gruppen, Zuschauer und Akteure, miteinander in Interaktion treten. Dieses Ereignis findet zu bestimmten Zeiten an einem bestimmten Ort statt, der sich nicht zwangsläufig in entsprechend etablierten Räumlichkeiten wie dem Theater befinden muss, und ist ein in besonderer Weise gegenwärtiges und flüchtiges Ereignis.“ – Wikipedia-Eintrag zu „Theateraufführung“
„Das digitale Produkt ist immer etwas Anderes als eine Liveaufführung vor Publikum. Es gibt da mediale und auch kinästhetische Diffrenzen“, sagt Tanzexpertin Prof. Dr. Christina Thurner.
Was in den heutigen digitalen Notlösungen am meisten vermisst wird, ist die Kopräsenz – und damit die Symbiose zwischen Darstellenden und Zuschauern. Vermisst wird sie von beiden Seiten.
Streaming – eine Herausforderung
Wie die Pandemie selbst, so stellt auch die Frage nach der Rezeption von Live-Kultur in diesen Zeiten eine Herausforderung dar – für Kunstschaffende, Produktion und Publikum.
Es war nichts Neues und doch hat die Pandemie ihm Aufmerksamkeit und Aufschwung verliehen; dem Netztheater. Wie Theater ohne Theater, digital und im Netz, funktioniert und welche Erfahrungen damit im vergangenen Jahr gemacht wurden, hierfür wird jetzt an verschiedenen Veranstaltungen Raum zum Austausch geboten.
„Jetzt käme ein grosser Zwischenapplaus , heisst es in Mitte einer Performance am Kleinkunst-Streaming-Festival „Streaming und Digitales Theater“(STREAM21). Für viele Darstellende ist es eine ungewohnte, oft unbefriedigende Situation, vor leerem Saal zu spielen, für ein Publikum, das man nicht sieht, nicht spürt.
„Bei einem Livestream muss man sich nicht nur vorstellen, was für eine Figur in welcher Geschichte man ist, sondern auch, dass jemand zuschaut und es somit überhaupt Sinn macht, dass man spielt.“, meint der Schauspieler Matthias Neukirch, der am Schauspielhaus Zürich „Frühlings Erwachen“ sowohl vor Publikum wie auch für den Live-Stream gespielt hat.
Schwierig wird es vor allem bei Bühnenformen, die auf nonverbale Kommunikation mit dem Publikum angewiesen sind: Wie zum Beispiel in der Comedy, wo man Gags und Timing an die Stimmung des Publikums anpasst und so den jeweiligen Abend individuell gestaltet. „Pointen reiben sich ja daran, wie das Publikum reagiert. Und das macht etwas mit dem Timing. Ist da niemand im Publikum, weiss man nicht mit wem man das Timing abgleichen könnte“, sagt Benjamin von Blomberg, Co-Intendant vom Schauspielhaus Zürich am STREAM21-Talk.
Flüchtiges Ereignis
Wenn das Publikum schon nicht im selben Raum wie die Darstellenden ist, kann man durch Gleichzeitigkeit (live) immerhin eine Empfindung des gemeinsamen Erlebens herstellen. Mit Live-Stream bleibt auch das Gefühl, dass in jedem Moment immer noch etwas Ungeplantes passieren, etwas schief gehen könnte.
Interaktion – Gaming als Vorbild
„Was immer die Akteure tun, hat Auswirkungen auf die Zuschauer und was immer die Zuschauer tun, hat Auswirkungen auf die Akteure und die anderen Zuschauer.“ – Erika Fischer-Lichte
Abwesendes Publikum könne in einem Stream auch etwas bedeuten, wenn es live sei, meint von Blomberg. Wenn man sich anschaue, wie Gaming funktioniere, in welchem die Zuschauer ja nie nur zuschauen würden, sondern immer in irgendeine Art von Partizipation gerieten. Und so stellt sich für das Theater die Frage: Wie kann man über Format, ein Publikum, das nicht anwesend im Raum ist, über konkrete Aktion trotzdem präsent machen? Indem es eben die Handlung mitgestalten darf.
Von Blomberg glaubt auch, dass es da noch Dinge zu entdecken gäbe: „Aber die müssen weiter gehen, als nur das Medium zu nutzen – wie das zum Beispiel im Gaming schon benutzt wird.“ Er glaube daran, dass es eben nicht funktionieren würde, wenn man einfach das bewährte Format streamen und darauf hoffen würde, dass es sich ähnlich anfühlen würde. Da müsste man schon einen Schritt weitergehen.
Judith Ackermann, Forschungsprofessorin für Digitale und Vernetzte Medien in der Sozialen Arbeit an der Fachhochschule Potsdam meint: „Man muss Theater ganzheitlich denken und dann die Besonderheiten der digitalen Kanäle angucken und überlegen, wie kann ich die bestmöglich als Elemente davon denken. Wie kann ich diese Inszenierung als Erfahrungsraum erweitern und zugänglicher machen?“
Die Kamera – eine neue Perspektive
Die Kamera ist schon länger auf der Bühne präsent als inszenatorisches Mittel. Nun aber wird sie zum Auge des Zuschauers, lenkt den Fokus und ermöglicht es, die Vorstellung aus verschiedenen Perspektiven zu erfahren. Brian Petchers (Kamera- und Schnittregie am Irish Repertory Theatre) meint: „Es ist einzigartig, ein Theaterstück auf die Leinwand zu übertragen. Komödiantisches und dramatisches Timing, visuelle Blickwinkel und Übergänge bekommen auf der Leinwand ein ganz anderes Leben und eine andere Rolle als in der Live-Show.“ Und das ist Herausforderung und Chance zugleich.
Aufwand, Kosten und Ticketpreise
Anfangs boten viele Theater ihre Produktionen und digitalen Angebote gratis an. Noch heute werden Streamings unter ihrem Wert verkauft. „Ist ja nur online.“ Aber auch digitale Formate kosten Geld, wenn sie aufwändig gemacht sind. Alleine für den Stream mussten am Schauspielhaus vier Kameramenschen und eine Live-Schnitt-Regie engagiert sowie Spezial-Technik dazu gemietet werden.
Engagement und Aufwand für Produktionen, werden durchaus ästimiert. So sind Zuschauer für Formate, die mehr als nur ein Mitschnitt aus dem Archiv sind, auch gerne bereit, dies im Ticketpreis zu honorieren. Gemäss einer Umfrage am STREAM21 sind sogar über die Hälfte bereit, gleichviel für einen Streamabend, wie für eine Vorstellung im Theater zu zahlen.
Da es an Erfahrung von Ticketrichtpreisen noch fehlt, und einige Zuschauer gegenüber dem Digitalen Theater noch etwas skeptisch sind, hat sich die Methode „Pay what you want“ als gute Möglichkeit erwiesen, einen ersten Eindruck zu bekommen, was das eigene Publikum zu zahlen bereit ist. Ausserdem gibt es Skeptikern eine Chance etwas Neues auszuprobieren.
Digitale Grenzenlosigkeit – eine Chance
Seit Jahren wird darüber debattiert, wie man Theater, auch für jüngere Generationen, zugänglicher machen kann. Digital Natives nun mit Netztheater da abzuholen, könnte eine Möglichkeit sein, sie für dieses Medium zu interessieren und vielleicht gemeinsam weiterzuentwickeln. Auch die Intendantin Annemie Vanackere, die am Berliner HAU die Online-Sparte „HAU 4“ aufbaut, sagt, das digitale Angebot könne die Chance sein, mit dem Klischee von Theater aufzuräumen – immer sitzen zu müssen, nichts zu verstehen und nicht auf das Handy gucken zu dürfen. Digitales Theater vermag aber nicht nur neue Publikumsschichten anzusprechen, wie solche, die sich zuvor eher scheuten, ins Theater oder in die Oper zu gehen, es erlangt auch geographisch eine grössere Reichweite. Ortsungebunden, ermöglicht es auch Menschen am Erlebnis teilzunehmen, die vielleicht nicht (selber) ins Theater kommen könnten.
Mit der Fusion von theatralen und digitalen Mitteln, sind auch die Spiel- und Erzählmöglichkeiten schier grenzenlos. Einige Theater haben bereits damit experimentiert, gewisse sind noch einen Schritt weiter gegangen: Das Augsburger Theater hat Virtual Reality für sich entdeckt und unterdessen bereits fünf 3D-Produktionen im Angebot.
Was bleibt, wenn die Theater wieder öffnen?
Auch wenn für gewisse Veranstalter „Corona-Nischenformate“ solche Nischen bleiben sollen, so hat eine Umfrage unter den grossen Häusern gezeigt, dass jene in den vergangenen Monaten durch das Experimentieren-Müssen Formate entdeckt haben, die sie gerne auch nach der Öffnung weiterführen wollen. Einige wollen sich sogar auf weitere Erkundungstour im digitalen Feld begeben, in welchem die Grenzen des klassischen Theaters überschritten werden.
Hybridvorstellungen werden als mögliche Übergangslösungenfür April und Mai gesehen. Bettina Auge vom Opernhaus Zürich meint aber, auf die Dauer seien diese nicht finanzierbar. Das Schauspielhaus Zürich möchte, wenn Live-Streams, wieder eigene Formate dafür entwickeln. Auch für das Luzerner Theater gilt es noch die neuen Formate weiter zu erforschen, mit viel Ausprobieren und Kreativität. „Ob diese Angebote weiter einen Platz im Theater finden, wird sich zeigen“, meint die stellvertretende Intendantin Sandra Küpper und fügt abschliessend hinzu: „Wir freuen uns aber natürlich vor allem darauf, das Publikum möglichst bald wieder bei uns in unseren Räumen vor Ort begrüssen zu dürfen, denn das Theater lebt vom Livegedanken und der Versammlung von Menschen zur gleichen Zeit im gleichen Raum.“
* Silja Gruner, Dramaturgin vom auawirleben Theaterfestival Bern in einem Interview für STREAM21
Wer sich etwas tiefgreifender mit der Entwicklung von Netztheater befassen will: NETZTHEATER – Ein Sammelband in dem Praktiker/innen des Theaters sowie Beobachterinnen die neuesten Tendenzen beschreiben, spannende Experimente, veränderte Arbeitsweisen und wegweisende Produktionen vorstellen: Das Theater wird digital, wird Netztheater.
Herausgegeben von der Heinrich-Böll-Stiftung sowie Nachkritik in Zusammenarbeit mit Weltübergang.
Theater finden Notlösungen, neues Publikum wird generiert, es tun sich Grenzen auf. Was aber macht Streaming mit unserer Psyche? Hierzu hat Ensemble mit dem Medienforscher Dr. Matthias Hofer gesprochen.
Dr. Matthias Hofer ist Oberassistent am Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung der Universit t Zürich (IPMZ), Abteilung „Media Psychology & Effects“.
Herr Hofer, welche emotionale Bindung gehen Schauspieler und Zuschauer bei einer normalen Live-Vorstellung miteinander ein?
Die Schauspielerinnen sind wohl in erster Linie damit beschäftigt, ihr Schauspiel aufzuführen oder mit eventuellen Nervositäten zu kämpfen (wobei ich hier niemandem zu nahetreten will). Bei besonders emotionalen Szenen erhalten sie bisweilen auditives Feedback aus dem Publikum. Solche kollektiven Emotionsausdrücke lassen die Darstellerinnen des Publikums gewahr werden und können mitunter ihren eigenen Ausdruck intensivieren – bewusst oder unbewusst. Da gibt es also ein Wechselspiel zwischen Publikum und Bühne.
Die Zuschauerinnen gehen wohl in erster Linie mit dem Stück (Plot, Bühnenbild, Inszenierung etc.) mit, empfinden Emotionen der Darstellerinnen nach oder identifizieren sich gar mit ihnen. Aber auch der soziale Kontext, bzw. das Mitpublikum spielt beim Erleben des einzelnen Zuschauers und bei der Bindung zwischen Publikum und Schauspielerinnen eine Rolle. Ein weiterer Prozess, der sich abspielt, ist die sogenannte parasoziale Interaktion. Nehmen Sie das Beispiel eines Kasperl-Theaters, bei dem die Kinder Kasperl vor einem nahenden Krokodil warnen. Solche Interkationen sind einseitig, d.h. sie werden von den Schauspielerinnen in der Regel nicht erwidert; daher wird die Interaktion auch als parasozial bezeichnet. Es fehlt das direkte Feedback von der Bühne auf das Interaktionsangebot aus dem Publikum. Man könnte sagen, dass die Bindung auf beiden Seiten nur implizit vorhanden ist; aber sie ist vorhanden.
Wie könnte man mit Streaming eine ähnliche Wechselwirkung erzeugen? Wie sieht das mit dem Gemeinschaftsgefühl aus? Reicht da Interaktion mittels Chatfunktion?
Denkbar wären Hologramme eines Publikums, aber das ist wohl eher Zukunftsmusik und es fragt sich, ob sich der Aufwand lohnen würde. Ein Gemeinschaftsgefühl über eine Chatfunktion, wie wir das bei YouTube oder Facebook-Live-Streams kennen, reicht da wohl nicht aus, um gleiches Erleben zu erzeugen. Buchstaben und Emojis können die Körperlichkeit kaum ersetzen und die soziale Präsenz nur unzureichend andeuten. Zudem haben wir bei solchen Chats das Problem der Ablenkung vom Geschehen auf der Bühne.
Ja, auf diese Ablenkung möchte ich noch eingehen: Nun sitzt man auf dem Sofa statt still in den Stuhlreihen, holt sich noch was aus dem Kühlschrank oder schreibt eine SMS. Wie wirkt sich diese Unverbindlichkeit und Unkonzentriertheit auf das Erlebnis und auf die Wertschätzung gegenüber der Produktion aus?
Solche Unterbrechungen stören natürlich die aufmerksame Rezeption. Die Ablenkung kann sich letztlich negativ auf das Unterhaltungserleben und die Wertschätzung auswirken.
Glauben Sie, dass es nach einem Tag voller Zoom-Meetings / intensiver Bildschirmzeit noch einem Ausgleich dienen kann, einen Theater-Stream zu schauen? Oder sind diese Einflüsse allenfalls zu ähnlich, als dass der Geist dabei entspannen kann?
Das ist eine gute Frage, auf die letztlich empirische Forschung eine Antwort geben könnte. Wenn wir aber davon ausgehen, dass ein Theater-Stream eher ruhig ist, könnte man hier schon von einer entspannenden Wirkung ausgehen. Auf der anderen Seite verbleiben wir vor dem Bildschirm; was darauf gezeigt wird, ist meines Erachtens unerheblich. Ein Spaziergang dürfte da mehr Entspannung bringen als ein Theater-Stream.
Was halten Sie selbst von Theater-Streams? Schauen Sie sich diese selber auch an?
Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich mir noch nie ein solches Streaming angeschaut habe. Ich finde es aber eine tolle Sache und zwar nicht nur in Zeiten einer Pandemie. Denken Sie etwa an Menschen, die in ihrer Mobilität eingeschr nkt sind und trotzdem gerne ein Theaterstück geniessen.
Auf SPECTYOU stehen Aufzeichnungen von Theaterstücken und neue Formate an der Schnittstelle zur Digitalität zu fairen Preisen zur Verfügung. Theater, Gruppen oder Solodarstellende können hier ihre Produktionen kostenlos hochladen oder als Livestream und Limited Stream anbieten und diese auf der Plattform mit den eigenen Profilen verknüpfen.
Illustrationen von Ch. Knecht aus
„Tellspiele 2020 – TELLEVISION“
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