Das etwas andere Männerballett: Der Raiffeisen-Prozess im Zürcher Volkshaus

(dh) Wer sich auf der Suche nach Inspiration, nach Stoff für ein Theaterstück, Ballett oder ein Musical befindet, begebe sich in die Wirtschaftsbranche. Chefetage. Hier gibt es für jedes Genre eine Farce oder ein grosses Drama – Sex and Crime inklusive. Sicher aber bühnenfertiges Material in Hülle und Fülle.

Im Theatersaal des Zürcher Volkshaus spielte sich in den letzten Wochen ein Drama der etwas anderen Art ab. Das Bezirksgericht war zu klein für diesen Mehrakter. Für diese Gruppenszenen. Für die aufwendige Statisterie. Deshalb verlegte man den spektakulären Wirtschaftsprozess hierher auf die grosse Bühne. Die Vorhänge straff nach hinten gezurrt, die Scheinwerfer flackern oft unabsichtlich schrill: der Lichttechniker scheint unterfordert mit der farblosen Banalität der Wirtschaftselite. In mehreren Etappen wurden hier ein ehemaliger Chefbanker, sein Berater und etliche Beteiligte aus der Schweizer Wirtschaft zu ihren Anklagen wegen Betrugs und unlauterer Geschäftsführung befragt und verteidigt. Für Theaterschaffende ein gratis Buffet an Feldforschung und Sozialstudie. Und dennoch stechen zu viele Klischees ins Auge, um sie direkt zu übernehmen. Ein Beispiel.

KING LAWYER’S LIAR – EIN TRAUERSPIEL

 

Bühnenbild

Zwei Rednerpulte stehen mittig unterhalb der Bühne im Zuschauerraum. Links das für Staatsanwaltschaft und Privatklägerin, rechts jenes für Beschuldigte und Verteidigung. Hier sind zwischen den Befragungen und Plädoyers schöne Choreografien und Pas de deux denkbar. Erhöht dahinter hockt, direkt an der Bühnenrampe, das vierköpfige Richtergremium. Ganz rechts aussen tippt unscheinbar, hinter einem Stapel Bundesordnern, die Gerichtsdienerin mit. Dies gerne im Offbeat.

 

Dramatis Personae

DER OBERSCHURKE

Ehemaliger Chef der drittgrössten Schweizer Bank. Netter, hemdsärmeliger Typ. Bündner Dialekt. Weiss von nichts. Hat nichts getan. Geht gerne und oft in Striplokals oder fliegt mit Freund:innen und Kund:innen nach Übersee. Das darf er doch? Aha, nicht auf Spesen? Das wusste er nicht. Aha, er darf nicht Käufer und Anbieter derselben Firma sein? Das wusste er nicht. Aha, das hätte er melden müssen? Usw. usf. Trinkt flaschenweise Cola Zero, ignoriert die Maskenpflicht konsequent, wobei das Sicherheitspersonal ohnehin nur zuschauendes Volk zurechtweist.

SEIN GEHÜLFE

Millionenschwerer Berater des Oberschurken und eigentlicher Drahtzieher. In denselben Punkten angeklagt. Grau meliertes, zurückgegeltes Haar. Mit einer Krücke. Weiche, schmeichelhafte Stimme. Beteuert, dass er nie und nimmer jemals jemandem etwas Böses gewollt habe. Wenn er könnte, täte er sich wohl auf Knien dazu bekreuzigen. Und auch er wusste wirklich, wirklich von überhaupt gar nichts Falschem.

DAS GEFOLGE

Sechs weitere schwerreiche, alternde Geschäftsmänner in grauen Anzügen, mit blossen, für die Jahreszeit etwas zu braungebrannten Fussgelenken. Hemden und Zähne dafür blendend weiss. Güldener Schmuck und Manschetten, gülden auch das Schreibgerät. Allesamt der Komplizenschaft angeklagt. Nach abgehaltenem, gut einstudiertem Tänzchen am Rednerpult besteht ihre Hauptbeschäftigung einzig noch im Begutachten und Swipen von leichtgekleideten Damen oder Luxuswagen am Tablet.

Anm. d. Redaktion: Um das literarische Niveau des Stücks einigermassen zu halten und dem Anspruch des Publikums gerecht zu bleiben, empfiehlt es sich, Verhalten und Reden der Protagonisten nicht eins zu eins zu übernehmen, sondern diese hie und da etwas zu verfeinern. Die gegebenen Attituden und Klischees erschienen auf der Bühne doch allzu plump und unglaubwürdig.

DIE WEIBLICHE ENTOURAGE

Zum Gefolge kommen die wenigen weiblichen Darstellerinnen dazu: Gattinnen, Dolmetscherinnen und sonstige Entourage der Beschuldigten. Zierlich, blond, Füsschen massierend, Blümchen auf Zettelchen malend, ab und zu ein Kleckschen Handcrème auftragend. Nicht für Sprechrollen geeignet. Eher empfiehlt es sich, daraus einen lasziv-betörenden Damenchor zu gestalten. Bitte auch hier augenfällige Klischees vermeiden.

DIE ANWÄLTE

Hier böten sich zur Kostümierung abwechslungshalber Tiermasken an. Diese reichten von Füchsen über Marder und Echsen, hin zu Geiern und durchaus auch Karpfen. Als Meta-Ebene stünde den Staatsanwälten und Verteidigern – nach hitzigen Monologen und emotionalen Ausbrüchen – ein zärtliches Pas-de-deux oder ein inniger Tango gut an.

DER CHOR

Die Medienschaffenden: Auch sie in – weniger modischem – Grauschwarz, der Teint allerdings blass. Unbeeindruckt bleibt ihr Blick auf zwölf Zoll beschränkt. Zuverlässig fallen sie in regelmässigen Abständen – auf Zeichen des Richters, oder sonstig absehbarer Pointen – in hysterisches Zehnfingerhacken ein. Ihr Fokus liegt ganz beim Aufregerpotenzial.

DAS VOLK

Das zuschauende Volk unterscheidet sich in Auftritt und Gebaren deutlich vom Rest derSzenerie. Mit viel Distanz darf es von weit oben dem Geschehen zuschauen, dies allerdings nur an einzeln ausgewählten Prozesstagen. Hier oben wird sich deutlich mehr amüsiert, wobei das juristische Verständnis mitunter gen Null strebt. Ab und zu isst einer heimlich eine Banane. Taktgenau wird das Volk vom Sicherheitspersonal auf korrektes Tragen der Masken und Verbot von elektrischem Gerät hingewiesen.

DAS SICHERHEITSPERSONAL

Hier dürfen Klischees bedient werden. Es gibt wenig Alternativen.

DER RICHTER

Seine Rolle ist auch für Schauspiellaien leicht zu bewerkstelligen: stellt er den Beschuldigten zwar eine Handvoll Fragen, die auf seinem Zettel stehen, verkündet er doch hauptsächlich die Dauer der Bio- und Mittagspausen sowie den weiteren Verlauf des Prozesses. Hin und wieder flüstert er einem Richterkollegen etwas ins Ohr. Dieser flüstert ihm eine Antwort zurück. Am Fuss seines Tisches steht täglich sein Znünisäckli vom Beck Stocker. Auch er ein in die Jahre gekommener Herr, werden seine Augenlider öfters schwer.

Wie im letzten Aufzug des Stücks am Zürcher Volkshaus schliesslich über Betrug, Arglist und Mittäterschaft befunden, wie erfolgreich die beteiligten Akteure sich gebärdet und inszeniert haben werden und wer am Ende wen an die Wand gespielt haben wird, ist zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses dieses Magazins noch nicht bekannt. Finales Urteil und Vorhang fallen voraussichtlich im April. Die Hoffnung auf weiteres Inspirationsfeld aus der Finanzbranche soll sich dadurch aber nicht zerschlagen: man verfolge getrost die Tagesthemen dieses Landes.

Kulturschaffende für Kulturschaffende

(dh) Suisseculture Sociale ist zuständig für die Ausrichtung der Corona-Nothilfe. Diese unterstützt Kulturschaffende aller Sparten, die aufgrund der Pandemie ihre Lebenskosten nicht mehr aus eigener Kraft decken können. Wie sieht die Lage nach zwei Jahren aus? Wird noch Nothilfe beansprucht? Das „Ensemble“ hat dazu eine freischaffende Musicaldarstellerin, Etrit Hasler, den Geschäftsführer von Suisseculture Sociale und Salva Leutenegger, Geschäftsleiterin von „SzeneSchweiz“ befragt.

Adrienne* ist freischaffende Sängerin und Musicaldarstellerin. Das „Ensemble“ hat die 35-Jährige in Rapperswil* getroffen, wo sie gerade einen Stadtrundgang für Touristen durchgeführt hat. Seit Anfang der Pandemie bezieht Adrienne von Suisseculture Sociale alle zwei Monate Nothilfe. Es ist kühl, doch wir spazieren dem Zürichseeufer entlang. Wegen Corona und weil ein Chai Latte 5.90.- kostet.

Adrienne, Du hast gerade Touristen durch die

Altstadt geführt. Wie kommts? Das mache ich

schon lange, es hat zwar wenig mit meinem Beruf

zu tun, aber es liegt mir eben, vor Leuten aufzutreten.

Und ich bin froh, dass sich jetzt wieder Gruppen

angemeldet haben und ich arbeiten kann.

 

Wieviel verdienst Du pro Führung? 180 Franken.

 

Hast Du sonst noch ein weiteres Einkommen? Ich gebe Kindern von Freunden private Gesangsstunden und seit diesem Jahr arbeite ich am Empfang einer Bibliothek. Das ist ganz in Ordnung und gibt mir monatlich etwa 2000 Franken. Und wenn alles gut läuft, kann ich im Sommer vielleicht ein Kindermusical anleiten.

Reicht das? Ich habe wenig Ausgaben. Aber um die Nothilfe von SCS bin ich sehr dankbar.

 

Wie bist Du auf SCS gekommen und wie sind

deine Erfahrungen mit den Anträgen? Über den SBKV –  äh Tschuldigung – über „SzeneSchweiz“. Am Anfang habe ich mich gesträubt und dachte, ich schaffe das schon selber irgendwie (sie lacht) – und esse einfach nur noch Rüebli und Darvida. Ausserdem graute es mir vor diesen elektronischen Anträgen, ich bin so schlecht darin. Immer diese automatischen Antworten, man kann nirgendwo anrufen oder mal persönlich nachfragen.

Und? War es so? Nein, eben nicht. Das hat mich so überrascht! Ich konnte zwar nicht anrufen, aber eine Person – sie hat mit *Joli unterschrieben – hat immer persönlich und so nett geantwortet und mir geholfen. Ich erinnere mich an einen Sonntag spät abends während des Lockdowns. Ich war den ganzen Tag allein zuhause und sehr deprimiert. Da hat *Joli mir tatsächlich noch auf meine Mail geantwortet und mir geholfen. Als ich mich bei ihr bedankt habe, hat sie noch zurückgeschrieben, dass sie jetzt gleich mit ihrem Hund einen Abendspaziergang mache. Ich erinnere mich genau daran, weil es mich in dem Moment irgendwie berührt hat.

Wieviel Geld an Nothilfe bekommst Du? Das variiert. Je nachdem, wieviel ich selber verdiene. Bis jetzt waren es alle zwei Monate zwischen 1’100 und 2’200 Franken.

Wirst Du dieses Jahr weiter Geld beantragen? Ja. Ich habe überraschenderweise viele Arztrechnungen zu zahlen. Da ist mir die Nothilfe von SCS eine riesige Erleichterung.

Warum willst Du nicht, dass wir hier Deinen richtigen Namen nennen? Naja, ein bisschen unangenehm ist es mir schon. Ist ja fast sowas wie Sozialhilfe. Mittlerweile ist es richtig kalt geworden und wir erheben uns von der Parkbank, auf die wir uns währenddessen gesetzt haben. Nicht, dass es ihr noch weitere Arztrechnungen beschere, scherzt Adrienne und verabschiedet sich in Richtung Bahnhof.

*Namen und Ort von der Redaktion geändert.

Etrit Hasler ist seit Januar 2020 Geschäftsführer von Suisseculture Sociale und seit Beginn der Covid-Krise Projektleiter für die Nothilfe des Bundesamtes für Kulturschaffende.

Herr Hasler, im Bericht über Arienne lesen wir, wie die Nothilfe von Suisseculture Sociale von einer betroffenen Künstlerin dankbar genutzt wird. Sie betonte ausserdem, wie überrascht und erleichtert sie war zu merken, dass sie es beim Erstellen ihrer Gesuche nicht mit einem Computer, sondern mit – sympathischen – Menschen zu tun hatte. Wir wären froh, wenn wir persönlicher sein könnten, aber ausser mir und meinen zwei Stellvertreterinnen tritt niemand mit Namen auf. Der Grund dafür ist, dass die meisten Mitarbeiter:innen meines Teams selber Kulturschaffende sind. Das war ja vom Bund so gewollt – wir sind nicht eine  klassische  Verwaltungsinstanz, sondern Kulturschaffende, die (hoffentlich) mehr Ahnung, Einsicht und Verständnis für den Alltag von Kulturschaffenden haben.

Trotzdem gab es nicht nur Lob und Blumen bei SCS. Nein und nicht zuletzt deshalb, weil wir auch keine telefonische Beratung bieten können. Dafür fehlt uns schlicht die Kapazität und die entsprechende Ausbildung. Personen in Notlagen betreuen zu können, ist nicht trivial. Da gab es durchaus auch unzufriedene Reaktionen.

Welcher Art? Wenn Gesuche abgelehnt wurden, beispielsweise. Da gab es schon böse Mails, Briefe an den Bundesrat und ans BAK – und ganz selten auch eine Beschwerde. In den meisten Fällen konnten diese aber bereinigt und die Gründe für die Ablehnung erklärt werden. Wir versuchen wirklich unser Bestes, die Hintergründe darzulegen, auch wenn es nur per Mail ist. Denn es geht bei der Nothilfe ja wirklich nur darum, Kulturschaffende zu unterstützen, die ihre Existenz nicht mehr alleine sichern können.

Es gab auch Stimmen, die behaupteten, mit der Nothilfe von Suisseculture Sociale bekämen Künstler:innen mehr Geld, als sie davor verdient hätten. Sie bräuchten sich also nicht mehr aktiv um Jobs zu bemühen. Dass es Menschen gibt, die plötzlich ein bisschen mehr Geld zur Verfügung haben als vor der Pandemie, mag in einzelnen Fällen sein, ja. Dazu muss man sich allerdings vor Augen führen, dass kein geringer Prozentsatz aller Kulturschaffenden schon vor Covid unter dem Existenzminimum lebte und längst Anspruch auf Sozialhilfe hätte.

Sie selber sind Slam Poet und treten seit rund zwanzig Jahren regelmässig auf. Sie kennen die Szene also auch. Die Freuden und Leiden. Das ist richtig, ja. Deswegen weiss ich: kein einziger Sänger, keine Schauspielerin, kein Slam Poet möchte lieber Geld vom Staat kassieren, als zu arbeiten.

Die Lage scheint sich gerade zu entspannen. Wie wird es Ihrer Meinung nach in der Schweizer Kulturbranche weitergehen? Ich befürchte, es wird sowas wie eine  Flurbereinigung  eintreten.

Eine Flurbereinigung? Ja. Es wird diejenigen geben, die vom ewigen Kampf ums knappe Einkommen genug haben. Die müde sind von der latenten Unsicherheit und sich umorientieren werden. Das ist ein Verlust für die Branche, aber ich kann das durchaus nachvollziehen.

Was raten Sie also? Auch wenn es hässlich klingt: Professionalisiert euch! Kümmert euch um eure Altersvorsorge und Versicherungen. Tretet den Berufsverbänden bei, die unterstützen euch. Solidarisiert euch mit euren Kolleg:innen und teilt euch die Arbeit auf, wo es geht. Nicht alle müssen alles können. Aber vor allem: hört auf, vom Big Break zu träumen.

Aufhören vom Big Break zu träumen? Ja. Den Traum vom „Oscar“, vom „ganz grossen Durchbruch“ loszulassen. Professionelles Kulturschaffen bedeutet harte Arbeit und das während sehr langer Zeit. Das ist professionell. Die Vorstellung, irgendwann werde man mit seinem Talent Millionen verdienen, verstellt den Blick vor der Realität.

Die Nothilfe für Kulturschaffende wird bis zum 31. Dezember 2022 weitergeführt. Die Gesuche können bis zum 30. November 2022 bei Suisseculture Sociale eingereicht werden.

Etrit Hasler ist seit Januar 2020 Geschäftsführer von Suisseculture Sociale und seit Beginn der Covid-Krise Projektleiter für die Nothilfe des Bundesamtes für Kulturschaffende. Er gehört zu den Pionieren der Schweizer Poetry Slam Szene und tritt seit 2000 als Poet wie als Moderator regelmässig auf Bühnen in der ganzen Schweiz auf. Zwischen 2005 und 2021 war er Mitglied des Stadtparlaments in St.Gallen sowie acht Jahre parallel Mitglied des St.Galler Kantonsrates als Vertreter der SP. Seit 2021 lebt und arbeitet er in Zürich.

Fragen an Salva Leutenegger

Als Geschäftsleiterin von „SzeneSchweiz“ ist auch Salva Leutenegger regelmässig damit beschäftigt Mitglieder des Verbands mit Beratungsgesprächen zu unterstützen.

Salva, mit welchen Fragen der „SzeneSchweiz“- Mitglieder bist Du neuerdings häufig konfrontiert? Es gibt viele Mitglieder, die sich aufgrund von abgelehnten Unterstützungsgesuchen an uns wenden. Wir beraten, unterstützen sie bei den Einsprachen und notfalls lösen wir Rechtsschutzfälle aus. Auch in Bezug auf RAV-Verfügungen nimmt die Zahl der Mitglieder zu, die Unterstützung brauchen.

Steht der Verband im Austausch mit Suisseculture Sociale? Wir bekommen regelmässig Informationsbulletins von Suisseculture Sociale und der Taskforce Culture. Und es gibt immer mal wieder Umfragen, an denen wir teilnehmen oder die wir an unsere Mitglieder weiterleiten. Die Arbeit der SCS mit der Nothilfe und unsere Beratung der Mitglieder nimmt uns so in Anspruch, dass wir keine Zeit hätten für zusätzlichen Austausch.

Hat sich die Situation der Branche in der letzten Zeit denn wieder verbessert? Ob sich die letzte Aufhebung der Massnahmen vom 17. Februar 2022 positiv auf die Kulturbranche auswirkt, muss sich erst noch zeigen. Ginge es nach dem Bundesrat, wäre die Kulturbranche schon länger in der Lage, wieder mit vollen Sälen und ausgebuchten Veranstaltungen zu arbeiten. Doch die Kulturbranche lässt sich nicht so schnell wieder hochfahren. Und das Publikum ist immer noch vorsichtig oder es hat sich an die „kulturlose“ Zeit gewöhnt. Was Mitglieder uns berichten, sieht auch nicht nach voller Auslastung aus. Vor allem die Einkommensverhältnisse der freischaffenden darstellenden Künstler:innen haben bei weitem noch nicht das Niveau der vorpandemischen Zeit erreicht. Auch wenn wir froh sind, dass der Bund die coronabedingte Unterstützung für Kulturschaffende bis Ende 2022 verlängert hat, zeichnen sich tiefergehende Veränderungen ab. Eine Studie von Ecoplan stellt fest, dass 60% aller Kulturschaffenden im Corona-Jahr 2021 weniger als 40’000 Franken verdient haben. Wir stellen auch fest, dass sich mehr freischaffende Mitglieder bei uns melden, die Probleme mit dem RAV haben. Demnach muss auch die Zahl der arbeitslos gemeldeten Künstler:innen zugenommen haben. Laut der Kulturstatistik hat aber auch die Anzahl Kulturschaffenden in den Jahren 20/21 um 5% abgenommen. Das heisst, dass sich einige Künstler:innen in andere Berufe umorientiert haben. Wir können nur hoffen, dass nicht nur der Bund, sondern auch private und öffentliche Kulturförderer die Kulturschaffenden in ihrer künstlerischen Tätigkeit fördern.

Gibt es Unterschiede zwischen Theaterhäusern mit festem Ensemble und der freien Szene? Die Pandemie geht an niemandem spurlos vorbei. Doch die festangestellten Mitglieder haben trotz Einbussen und Schliessungen die grössere soziale und finanzielle Sicherheit als Freischaffende.

Wie sieht es in den verschiedenen Sparten aus? Alle Sparten haben gelitten und leiden weiter. Doch scheint mir aufgrund der Rückmeldungen, dass vor allem die Tänzer:innen mit den Schutzmassnahmen am meisten zu kämpfen haben. Ballett/Tanz ist Hochleistungssport – mit Masken zu trainieren und zu proben, hat einige an ihre psychische und physische Leistungsgrenze gebracht.

Hat sich sonst etwas Wesentliches ver ndert im Vergleich zu vor der Pandemie? Ja, bei uns allen ist das Nervenkostüm wohl etwas anfälliger geworden.

Wie ist die moralische Grundstimmung in der Szene? Ich glaube, nicht besser oder schlechter als in anderen Branchen (mit Ausnahme der ITBranche, die zur Gewinnerin der Pandemie gehört).

Die letzte gedruckte Ausgabe des „Ensembles“

Anfangs des Jahres 2016 durfte ich die Verantwortung für unser Mitgliedermagazin „Ensemble“ übernehmen. Zusammen mit dem Layouter Christian Knecht hatte ich mir das Ziel gesetzt, diesem Heft einen neuen Stempel aufzudrücken, es inhaltlich wie gestalterisch bunter zu machen und die Arbeit unseres Verbandes ins Zentrum der Berichterstattung zu rücken. Sechs Jahre später gebe ich diese Verantwortung weiter an Linda Bill – und erneut wird sich das „Ensemble“ stark verändern.

Angetreten war ich, um die breite Palette der darstellenden Kunst im „Ensemble“ besser abzubilden. Nachdem ich dem Heft als einfaches SBKV-Mitglied fast zehn Jahre lang zugestellt bekam und ihm – ich muss es leider zugeben – kaum Beachtung geschenkt hatte, fing ich irgendwann an, es genauer zu studieren. Ich wunderte mich, dass mir die Leute, die im Heft interviewt und vorgestellt wurden, kaum jemals bekannt waren. Mein berufliches Umfeld, die freie Theater- und Musicalszene in Zürich, war im „Ensemble“ praktisch nicht vorhanden. Das wollte ich ändern.

Bezug zu den festen Häusern

Als neuer „Ensemble“-Redaktor musste ich schnell merken, dass ich umgekehrt leider keine Ahnung hatte von den Arbeits- und Anstellungsbedingungen an den festen Häusern. Ich stellte fest, dass es kaum Berührungspunkte gab zwischen meiner Lebenswelt als freischaffender Darsteller und der eines Opernsängers oder einer Balletttänzerin. Und offenbar ging das nicht nur mir so.

Berlin oder Zürich

Für meine allererste „Ensemble“-Ausgabe organisierte ich ein Gespräch mit vier Theaterdirektorinnen. Das Schauspielhaus Zürich, das Casinotheater Winterthur, das Bernhardtheater und das „Millers“ im Zürcher Seefeld standen damals alle unter der Leitung von Frauen, die sich untereinander kaum kannten. Ich war überrascht, dass Barbara Frey, die damalige Intendantin des Schauspielhauses offen zugab, dass sie kaum jemals als Zuschauerin ein anderes Zürcher Theater besuchte. Die grossen Bühnen in Berlin, München und Wien waren ihr viel näher als das Theater am Hechtplatz oder das Theater Rigiblick, und ich fing an zu begreifen, dass es den angestellten Schauspielerinnen und Schauspielern am Schauspielhaus wohl nicht anders ging.

Die Schweizer Theaterlandschaft entdecken

Meine Arbeit an den Texten fürs „Ensemble“ waren für mich eine Entdeckungsreise in die Welt der unterschiedlichsten Theater der Schweiz. Ich besuchte sämtliche Häuser mit festangestelltem künstlerischem Personal, ass in Kantinen, stolperte durch Garderoben, durfte bei Chor- und Ballettproben zuschauen und mit den unterschiedlichsten Menschen Gespräche führen. Ich erfuhr erstaunliche Dinge über Probe- und Ruhezeiten, über Gagen und Gesamtarbeitsverträge, über Besetzungslisten, Nachwuchsförderungen und Ausfallregelungen.

Den eigenen Verband kennengelerntT üröffner waren jeweils die SBKV-Mitglieder an den jeweiligen Häusern. Obleute oder auch Vorstandsmitglieder unseres Berufsverbands, die für ihre Ensembles als Sprachrohr fungierten, Interessen bündelten, den Kontakt zur künstlerischen Leitung suchten und stets im Austausch mit dem SBKV standen. Auf diese Weise lernte ich nicht nur die Schweizer Theaterlandschaft besser kennen, sondern vor allem auch unseren Verband – meinen SBKV, die heutige „SzeneSchweiz“.

Die Arbeit der Geschäftstelle

Im Austausch mit der Geschäftsleiterin Salva Leutenegger erfuhr ich allmählich, welch immense und wichtige Arbeit unser Verband alltäglich für seine Mitglieder leistet, um welche Anliegen er sich kümmert, wie er sich darum bemüht, das individuelle Problem einer einzelnen Person zu lösen und gleichzeitig für gerechte Arbeits- und Anstellungsbedingungen einsteht, die der gesamten Branche zugutekommen. Ich erfuhr über das Spannungsfeld zwischen Politik, Öffentlichkeitsarbeit und Behördenbürokratie, in welchem sich der Vorstand von „SzeneSchweiz“ bewegt. Von all dem hatte ich zuvor als einfaches Mitglied nicht die geringste Ahnung.

Es gibt keine Bühnen-Community

Als neuer Redaktor des „Ensembles“ wollte ich über all dies berichten. Ich wollte die Mitglieder untereinander vernetzen, auf die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von festangestellten und freischaffenden Darsteller:innen hinweisen, ein Gemeinschaftsgefühl kreieren, das über unseren Verband hinausgehen sollte (die seltsame Konkurrenz zu den anderen Berufsverbänden wie „t.“ oder dem SSFV war und ist mir bis heute ein Rätsel). Allerdings musste ich bald feststellen, dass ein kleiner Bericht im „Ensemble“ weder unseren Verband noch die Schweizer Theaterlandschaft verändert. Die Bühnen-Community, von der ich träumte, gibt es nicht, und ich bin sechs Jahre nach meinem Antritt als Heftli-Macher immer noch weit davon entfernt, zu ihrer Entstehung beigetragen zu haben.

DV taugt nicht als Gemeinschaft stiftendes Element

Ernüchternd war auch mein erster Besuch an einer SBKV-Delegiertenversammlung. Ich hatte mir vorgestellt, dass die Zusammenkunft von so vielen hochtalentierten Künstlerinnen und Künstlern ein aufregendes und spannendes Ereignis sein würde. Aber natürlich geht es an einer solchen DV weder um den Austausch unter den Mitgliedern noch um die Ausrichtung der Verbandsarbeit, sondern um Jahresrechnungen, Budgets, Statuten und Wahlen. Die vom Verband organisierten Netzwerk-Apéros an den Solothurner Filmtagen und an den Filmfestivals von Locarno und Zürich sind in jeder Hinsicht interessanter und generieren ein viel besseres Gemeinschaftsgefühl.

Solidarität ist das Fundament

Dennoch glaube ich weiterhin unbeirrt an die Kraft des gemeinschaftlichen Gedankens und an die Solidarität als Fundament unseres Berufsverbands. Ich bin überzeugt, dass wir beispielsweise den schleichenden Zerfall der Gagen in der Werbefilmindustrie nur aufhalten können, wenn wir uns geschlossen als Branche dagegenstellen. Das individuelle Feilschen um hundert Franken mehr Gage ist ein Witz im Vergleich zu dem, was wir erreichen könnten, wenn wir uns zusammentun und alle gemeinsam anständige Mindestlöhne fordern würden.

Überführung ins digitale Zeitalter

Das digitale Zeitalter, so herausfordernd und bedrohlich es in mancher Hinsicht sein mag, kann uns beim Herausbilden einer gut vernetzten und schnell handelnden Community helfen. Deshalb unterstütze ich es von ganzem Herzen, dass sich das „Ensemble“ von seiner gedruckten Form verabschiedet und zukünftig als Online-Version daherkommt. Es wird nun keine Redaktionsschlüsse mehr geben, keine fixen Erscheinungsdaten, dafür Kommentarfunktionen, Links zu weiterführenden Informationen und einen viel direkteren Zusammenhang mit der Homepage von „SzeneSchweiz“, die auf diese Weise zusätzlich aufgewertet wird.

Dank für die Unterstützung

Ich übergebe die Verantwortung für das „Ensemble“ nun an Linda Bill und wünsche ihr für diese Aufgabe ganz viel Erfolg und Vergnügen. Gleichzeitig möchte ich mich beim Verband, bei der Geschäftsstelle und vor allem bei Christian Knecht, unserem grossartigen Grafiker, von ganzem Herzen für die Unterstützung in den letzten sechs Jahren bedanken. Es war mir eine Ehre für meinen Berufsverband tätig zu sein und ich bleibe dem „Ensemble“ und seiner Leserschaft weiterhin herzlich verbunden.

Herzlich,

Ihr Rolf Sommer

Linda Bill: Willkommen im ENSEMBLE online

Liebe Mitglieder des Verbands, liebe Interessierte

Als eure neue Online-Redaktorin von „SzeneSchweiz“ möchte ich euch herzlich im neuen „Ensemble-Online“ begrüssen und mich gleichzeitig als auch eure Ansprechpartnerin für Anregungen und Ideen vorstellen.

Was gibt es über mich zu sagen? Aktuell schliesse ich meinen Master im Bereich Medien und Kunst an der Hochschule der Künste in Bern ab und habe davor an der Universität Bern Theaterwissenschaften studiert. Ich freue mich sehr, in Zusammenarbeit mit unseren zahlreichen Autorinnen und Autoren spannende Inhalte zu vermitteln. Das neue „Ensemble-Magazin“ ist ausschliesslich online verfügbar, somit können wir euch mehr Flexibilität als auch Aktualität bieten.

Wir freuen uns besonders, dass ihr jetzt online und direkt die Möglichkeit habt, aktiv die Inhalte mitzugestalten, zu kommentieren und uns wertvolle Inputs zu geben. Gemeinsam gestalten wir ein Mitglieder-Magazin mit relevanten Beiträgen rund um das Verbandswesen und zum kulturellen Geschehen in allen Sprachregionen der Schweiz, wie dies schon unsere geschätzten Vorgänger Rolf Sommer und Christian Knecht getan haben. An dieser Stelle nochmals ein grosses Dankeschön für ihre Arbeit.

Herzlich,

Linda Christa Bill

Verantwortliche Redaktorin Online

Von Tauben und blinden Flecken

(dh) Theaterpädagogik. Ein Begriff der weit mehr beinhaltet als das Anleiten von Schul- und Laientheater. Das „Ensemble“ hat Vertreter:innen dieses vielfältigen Bereichs getroffen, dabei Kombucha geext und fast Cappuccino verschüttet.

Seraina Dür hat in Zürich Theaterpädagogik studiert und unterrichtet dies mittlerweile auch im Master an der ZHdK. In ihrer Küche bietet sie mir ein selbstgebrautes Getränk an. Es riecht und schmeckt säuerlich –  sicher gesund, denkt sich die wohlerzogene „Ensemble“-Redakteurin. Das Gebräu ist schnell geext, schnell vergessen: denn nun erzählt mir die Theaterpädagogin und Künstlerin von Bruno, Vinciane, Iris und Camille. Sie sind die Mitbegründerinnen der Compagnie von Seraina Dür und dem freischaffenden Dramaturgen Jonas Gillman. Kennengelernt, angenähert, befreundet und schliesslich verwandt haben sie sich anfangs in der Chorgass – der Nebenspielstätte des Theater Neumarkt – in Zürich. Während sieben Monaten haben sie hier Lesungen gehalten, performt, den Raum belebt und beflattert. Haben sich beringt, haben zusammen Porridge und Sauerkraut gegessen. Milben und Zecken wurden mittels Nackentröpfchen vermieden. Milben und Zecken? Ja. Denn die Mitbegründerinnen des „Parlament der Dinge, Tiere, Pflanzen und Algorithmen“, wie sie sich seither nennen, waren vier Tauben. Vier Zürcher Stadttauben. Mittlerweile wurde das sechsköpfige Ensemble ins Theater Basel, ins Zürcher Helmhaus und die Gessnerallee eingeladen.

Gummihandschuhe gegen den Ekel

Aber der Reihe nach. Als Theaterpädagogin versteht sich Seraina Dür auch als Kunstschaffende an der Schnittstelle zwischen Theater, Performance und Bildender Kunst. Oft gehe sie dabei der Frage nach, wie Gemeinschaften anhand künstlerischer Prozesse gestärkt werden können. Wie und wo könnte eine Art Verständigung, eine Art lustvollen Zusammenlebens, eine Art Kunst zwischen den verschiedenen Akteur:innen stattfinden? In diesem Falle zwischen Stadtmensch und Stadttaube? Über diesen Fragen wurde das Projekt „Theater als Taubenschlag“ ins Leben gerufen. Seraina Dür und Jonas Gillman setzten sich zuvor intensiv mit Biologinnen und Wildhütern, mit Philosophinnen und Taubenzüchtern auseinander, bis sie schliesslich vier noch nackte Jungtauben in einer Kartonschachtel im Neumarkttheater willkommen hiessen. Von nun an erklären sie die Chorgasse zum Taubenschlag. Der Raum gehört erstmal ganz Bruno, Iris, Vinciane und Camille. Sofort wird eine Flugklappe gebaut, damit die Tauben rein- und rausfliegen können. Seraina und Jonas allerdings werden erstmals viel putzen, viel Taubendreck wegkehren.

„Proben bedeutete für uns putzen. Ohne Reinigungsarbeiten liesse sich unser Projekt gar nicht erzählen. Es bedeutete für uns stets einen verantwortungsvollen Umgang zu halten, mit dem, was uns umgibt“, erinnert sie sich. Natürlich habe sie sich anfangs auch geekelt. Gerade vor dem vielen Ungeziefer. Doch später habe sie es verletzt, wenn sie bemerkte, dass andere Menschen auch sie eklig fanden, weil sie mit Tauben zusammenlebte.

Auch Würmer und Asseln waren Teil des Miteinander

In der Tat wurde das Zusammenleben immer inniger: Gemeinsam mit vier Tauben machten Dür und Gillman das Theater zum Übungsfeld um ein Zusammenleben mit „mehr-als-menschlichen Kompliz:innen“ zu erproben. Aus Taubendreck und Bioabfall entstand ein Komposthaufen. Diesen beherbergten sie mit 7000 Würmern und Asseln, die den Kompost in feinsten Humus umwandelten. Darauf wiederum zogen sie Spinatsetzlinge, welche sie gemeinsam mit Gästen und Tauben spiesen.

Ok. Aber was hat das alles mit Theaterpädagogik zu tun?

Eine Nachbarin hat’s verstanden und bringt Sauerkraut mit. Auch hier arbeiten sich Milchsäurebakterien fleissig für uns durch den Weisskohl. Ausserdem wird Kombucha und Kefir angesetzt, der mit Gästen und dem – selbstverständlich gesamten – Ensemble geteilt wird. Unser Alltag sei eine ständige Interaktion zwischen den Arten. Es gehe ihnen darum in Beziehung mit der Umwelt zu treten, erklärt Seraina Dür. Den Blickwinkel zu ändern, hin zu einem liebevolleren Miteinander. Wegzukommen von der Illusion Mittelpunkt zu sein. Weg von dominanten Verhaltensweisen, die trennten und Grenzlinien schafften, die so nicht existierten.

Wie waren die Reaktionen?

Jeden zweiten Dienstag wurden Zuschauer in den Theater-Taubenschlag der Chorgasse geladen, um gemeinsam Texte über Tauben zu lesen. Währenddessen flogen Iris, Bruno & Co. durch die Luke rein und raus, setzten sich auf Bücher oder Stellwand, taten, was Tauben eben so tun und schienen sich sichtlich wohl zu fühlen. So entwickelten sich zwei Monate performatives Zusammenleben. Nach einem weiteren Schluck -aha, Kombucha also- muss die Frage gestellt werden:

Aber Seraina. Tauben sind nun mal Tauben und Menschen Menschen. Ihr habt Euch beringt, habt zusammen mit den Tauben Sauerkraut und Porridge gegessen, damit Eure Mägen die gleichen Bakterien beheimaten um Euch miteinander verwandt zu machen. Hand aufs Herz: Habt Ihr Euch nicht ab und zu auch der Lächerlichkeit preisgegeben?

Sie lacht: „Klar haben wir das! Wir sind auch anständig naiv. Die Basler Zeitung hat geschrieben, es habe uns wohl von der ganzen Taubenkacke das Hirn verätzt. Die NZZ hingegen nannte uns „Science-Fiction im Alltag“.

Nun zeigt mir Seraina ein Video: Taube Camille pickt auf einem Tisch immer wieder eine Löwenzahnblume aus einer Vase und wirft sie Seraina hin. Wieder und wieder blickt sie sie danach auffordernd an. Wie ein Hund, der ein Stückchen apportiert. Seraina Dür: „Niemand kann mir erzählen, dass die Taube hier gerade kein Spiel mit uns erfunden hat! Wir haben einfach versucht, mit ihnen in Beziehung zu treten. Und den Leuten machts Freude – und uns auch!“ Stimmt. Anständig naiv, aber sehr sympathisch. Ich schenke mir ein weiteres Glas säuerliches Kombucha ein. Irgendwie beginnts mir zu schmecken.

Endlich wieder mit Publikum

Ende Januar fanden die 57. Solothurner Filmtage statt. Traditionell gingen sie mit der Verleihung der Filmpreise zu Ende. Die Gewinnerfilme der drei Wettbewerbe unterstrichen die starke Präsenz der Westschweiz im Gesamtprogramm. Insgesamt konnten für die 57. Ausgabe rund 30’000 Eintritte verzeichnet werden. Eine ausserordentlich starke Werkschau des Schweizer Films fand seinen Abschluss.

„Solothurn live zu erleben hat uns aus der Erstarrung befreit. Das gemeinsame Filmeschauen war wie tief Luft holen und wieder atmen können“, schreibt die Dokumentarfilmerin Heidi Specogna über ihren Besuch an den Filmtagen. Filmemacher Romed Wyder meint: „Quel moment magique de sentir le public de Soleure vibrer et rire devant mon film projet sur grand écran!“ Dies sind zwei von vielen Rückmeldungen von Filmschaffenden, die dieses Jahr ihre Werke an den 57. Solothurner Filmtage gezeigt haben.

Gemeinschaftliches Filmerlebnis

Die Co-Leitung der 57. Solothurner Filmtage zeigte sich erfreut, dass die diesjährige Ausgabe als Präsenzveranstaltung stattfinden konnte: „Unser Ziel waren Filmvorführungen im Kino und Diskussionen mit Filmgästen und Publikum vor Ort. Im Zentrum eines Filmfestivals stehen die Erfahrbarkeit der Filme im Kino sowie die Teilhabe am gemeinschaftlichen Filmerlebnis. Die Rahmenbedingungen waren dieses Jahr erschwert, umso erfreulicher war das Interesse am Programm. Es herrschte eine sch ne und entspannte Stimmung.

Festival der Zukunft

Höhepunkte der Filmtage waren zahlreiche Filmpremieren sowie spannende Rahmenveranstaltungen. Das Spezialprogramm Fokus widmete sich vielfältigen Aspekten und aktuellen Herausforderungen rund ums Thema Publikum. Gut besucht wurden die Diskussionen im „Filmbrunch“ aber auch das Programm „Im Atelier“, wo sich Filmeschaffende zu Workshops und Masterclasses getroffen hatten. Im „Atelier de la pensée“ debattierten Filmverleiher:innen und Festivalveranstalter:innen aus dem In- und Ausland mit einem engagierten Publikum über Festivals in der Endemie und welche Faktoren ein Festival der Zukunft ausmachen.

Die Verleihung der Preise

Am Abschlussabend „Soriée de clôture“ wurden drei Filmpreise verliehen – darunter der höchstdotierte Filmpreis der Schweiz „Prix de Soleure“, der an den Spielfilm „Wet Sand“ von Elene Naveriani ging. Der Spielfilm „Presque“ von Alexandre Jollien und Bernard Campan erhielt den Publikumspreis „Prix du Public“ und die Auszeichnung für Erstlingswerke „Opera Prima“ ging an den Dokumentarfilm „Pas de deux“ von Elie Aufseesser.

Weg von der Kunst!

(dh) Zugang zu Theaterpädagogik erschliesst sich uns in der Begegnung mit Marcel Grissmer. Auch ihm geht es darum, den Blick und das Denken zu erweitern. Vielleicht fällt dabei allerdings mittendrin ein Stern vom Himmel.

Er ist zwar näher dran am *Theater“, doch gegen das „Pädagogisieren“ sträubt er sich vehement: Marcel Grissmer, seines Zeichens Theaterpädagoge, Kunstvermittler, Regisseur. „Der Begriff der Theaterpädagogik hat sich in den letzten zehn Jahren sehr gewandelt. Inklusion, Diversität und Zugänglichkeit sind Themen, die uns heute vor allem beschäftigen – beschäftigen müssen“, meint er. Wir bestellen Kaffee und Kuchen.

Zwei Jahre leitete Marcel Grissmer das „Junge Theater Solothurn“, danach wechselte er nach Zürich an die Gessnerallee. Hier verantwortete er den Bereich „Vermittlung und Community“. Ab nächster Spielzeit wird er zusammen mit Eveline Eberhard die Leitung des „Theater Stadelhofen“ übernehmen. Von Theater zu Theater zu Theater also. Und doch gehe es „weg von der Kunst“ sagt Grissmer. „Schade“, sagt das „Ensemble“. „Weg vom klassischen Literaturkanon“, sagt Grissmer. „Kein Kleist, kein Goethe, keinen klassischen „Faust“ mehr?“ wispert das „Ensemble“ – den Tränen nahe. „Hilfe, nein! Hoffentlich wird kein klassischer „Faust“ mehr inszeniert“, stösst er hervor. „Für wen denn?!“ Fast verschluckt er sich am Kuchen, fast verschüttet das „Ensemble“ seinen Cappuccino. Nun gibt es Erklärungsbedarf.

Wer entscheidet, was gute, was richtige Kunst ist?

Selbstverständlich liebe auch er die klassische Literatur, denn auch er sei damit aufgewachsen. Aber es gäbe doch noch so viel mehr als die zwanzig ewig gleichen Klassiker! Wer entscheide denn, was gute, was richtige Kunst sei? – Die Institutionen! Vertreten durch die gut gebildete, weisse Mittelschicht. Aber dadurch würden so viele Menschen, so viele Gruppen und Communities ausgeschlossen. Vielleicht gäbe es ja aus dem Balkan ein Stück, das auch ganz interessant sei? Und warum nicht mal eines in fremder Sprache aufführen? Begeistert erinnert sich Marcel an ein Projekt mit der „Eritrean Diaspora Academy“ an der Gessenerallee. Unter anderem stellten die eritreischen Akteur:innen dem „üblichen“ Theaterpublikum Fragen. Mit Performances und unterschiedlichsten Mitteln. Das Publikum merkte bald, dass es hier einmal nicht in der gewohnten – etwas verintellektualisierten Weise – antworten konnte, sondern dass man eine gemeinsame Sprache finden müsste, erinnert sich Grissmer. Hier hätten echte Begegnung und Dialoge auf Augenhöhe stattfinden können. Es habe niemand nach der Fluchtgeschichte gefragt und niemand hätte für den anderen gleich eine Expertise parat gehabt. Es sei einzig um den Austausch gegangen. „Wir müssen von diesem arroganten „Pädagogisieren“ wegkommen. Und die Schwellen beseitigen, die die Kulturstätten zu elitären Inseln machen. Die Theater sind von öffentlichen Geldern finanziert und für alle da!“

Zu viele blinde Flecken

Im Juli wird Marcel Grissmer die Co-Leitung im Theater Stadelhofen übernehmen. Einem kleinen Kellertheater, das zum grossen Teil Figuren- und Objekttheater zeigt. Er freue sich sehr darauf, denn gerade als kulturelle Institution könne und müsse man alle Möglichkeiten nutzen, das Theater so präsent wie möglich zu machen. Für Jugendliche, Armutsbetroffene, für unterschiedliche, marginalisierte Gruppen. In Kulturbetrieben gäbe es noch zu viele blinde Flecken, die es zahlreichen Menschen verunmöglichten daran teilzuhaben. Man müsse Theater anbieten, das allen Zugang schaffe und eine breitere Öffentlichkeit anspreche.

Theatertreffen: Leitung entscheidet alleine

Die Vorbereitungen für das Schweizer Theatertreffen 2022 laufen auf Hochtouren. Das diesjährige Festival wird vom 18.-22. Mai 2022 im Theater Chur, in der Postremise Chur und im TAK Theater Liechtenstein stattfinden – so, wie es schon für 2020 geplant war.

Aufgrund der pandemischen Lage musste das damalige Festival abgesagt werden. Letztes Jahr, in Freiburg, gelang eine hybride Version mit alternativen Gefässen. Das neue Wandermobil des Schweizer Theatertreffens machte seine Jungfernfahrt mit einer kleinen Ausstellung über die Stücke und Künstler:innen der Auswahl 2021. Seitdem kurvt das charmante Gefährt quer durch die Schweiz und macht regelmässig Halt vor verschiedenen Partnertheatern.

Julie Paucker kennt die Szene

Hinter den Kulissen werden aktuell die Fäden fleissig neu- und weitergesponnen. Inhaltlich und programmtechnisch hält besonders eine Person diese fest in den Händen: die künstlerische Leiterin Julie Paucker. Die studierte Literaturwissenschaftlerin ist seit vielen Jahren als Dramaturgin tätig, ihr Spezialgebiet ist transnationales und mehrsprachiges Theater. Vor zwei Jahren entschied das Schweizer Theatertreffen, neue Wege zu gehen und setzte anstelle des bisherigen Kuratoriums neu eine Künstlerische Leitung ein. Im ersten Jahr stellte Julie Paucker im Duo mit Thierry Loup die Auswahl zusammen. Für die diesjährige Ausgabe zeichnet sie nun als kreativer Kopf und ausgezeichnete Kennerin der Szene erstmals alleinig dafür verantwortlich.

Salva Leutenegger: «Ensemble» geht in die nächste Runde

SzeneSchweiz-Geschäftsfüherin Salva Leutenegger verabschiedet die Crew von ENSEMBLE Print und erinnert sich an die Anfänge des moderneren Magazins unter der Führung von Rolf Sommer.

Am 5. Januar 2015 trat ich beim damaligen SBKV die Stelle als Geschäftsleiterin an. Gleich zu Anfang erhielt ich Post von einem Mitglied namens Rolf Sommer, mit dem Inhalt einer vernichtenden Kritik zu unserem Mitgliedermagazin «Ensemble». Eine «langweilige Bleiwüste» sei dieses Magazin in schwarz/weiss, meinte er, man würde darin nur mitteilen statt Stellung zu beziehen. Recherche und der journalistische Ansatz habe man sträflich vernachlässigt. Und, man könne das Papier höchstens als WC-Lektüre gebrauchen, mehr nicht.

Eine «langweilige Bleiwüste»

Ich war aber nicht schockiert – weder über seinen Ton noch zur Kritik. Im Gegenteil, ich fühlte mich von ihm bestätigt und angespornt. Rolf Sommer beschränkte sich nicht nur auf die Kritik am bestehenden «Ensemble», er hatte klare Vorstellungen von einem Magazin, das die Leserschaft begeistern sollte. Er skizzierte die inhaltliche Gliederung nach Sparten, eine Schwerpunkt-Recherche und mindestens ein Interview pro Nummer, sowie kleinere Rubriken durften nicht fehlen. Der Bezug zu unseren Mitgliedern und zur darstellenden Kunst musste unbedingt wiederhergestellt werden. Verbandsnews, Kolumnen und das Editorial sollten das Magazin inhaltlich abrunden.

Seit 2016 im neuen Kleid

Also lud ich ihn direkt zu einem Gespräch ein und bemerkte erst bei der Begrüssung, dass ich ihn schon mal gesehen hatte. Als Rolf noch ein Teenager war, traf ich nämlich seine ältere Schwester und seinen Vater oft zum Skifahren auf dem Gemsstock (UR), einmal war auch er bei einer kleinen Skitour dabei. Viele Jahre später sassen wir also in meinem Büro und ich war nach wenigen Minuten hin und weg von seinen Vorschlägen – das waren keine Träumereien, sondern umsetzbare Visionen.

Im Juni 2016 erschien das erste «Ensemble» unter der redaktionellen Verantwortung von Rolf Sommer. Für das Layout konnte Rolf ein weiteres Mitglied gewinnen: Christian Knecht, darstellender Künstler und gelernter Grafiker erfreut uns seit der ersten Nummer mit einer präzisen Gestaltung sowie ausdrucksstarken Bildern. Unsere Mitglieder waren und sind begeistert von der Arbeit, die Christian und Rolf viermal im Jahr mit wenig Geld und grossem Enthusiasmus leisten. In den vergangenen sechs Jahren haben die beiden zurecht viel Lob und wenig Kritik erhalten.

Mit der Umstellung des Print-«Ensemble» auf «Ensemble Online» geben Rolf Sommer und Christian Knecht nun leider die redaktionelle und gestalterische Verantwortung ab. Nein, es ist kein Abschied – beide bleiben uns als Mitglieder von SzeneSchweiz und als schreibende, respektive gestaltende Gäste erhalten.

Als Bewundererin und Geschäftsleiterin sage ich nur: Herzlichen Dank für eure grossartige Arbeit, lieber Rolf und lieber Christian.

EMBODIMENT

Embodiment viene spesso tradotto come incorporazione. Io utilizzo le parole ESSERE CORPO per declinare il lavoro di ascolto profondo verso il proprio essere soma, i suoi messaggi e la sua possibilità di espressione attraverso il movimento.

Per declinare l’embodiment in essere corpo prendo in prestito le parole di J. Toljia e T. Puig dal libro “Essere Corpo”: “Il processo di apertura della coscienza che ci permette di uscire dalla riduttiva identificazione con la mente per riconoscerci in una pi  profonda e tridimensionale col centro del nostro essere   chiamato EMBODIMENT, cioè essere corpo.”

Come risvegliare dentro di noi questa consapevolezza e come attraversare i nostri stati più profondi? Attraverso diverse metodologie riconducibili all’EMBODIMENT e più in generale al campo della somatica è possibile accompagnare il nostro sistema ad una consapevolezza più ampia. Che si tratti di un tema a me caro, di un blocco o di un processo artistico. Attraverso il sentire sensibile somatico, l’ascolto e la percezione ci è data la possibilità di evolvere dentro la nostra umanità, la poesia e la creazione.

L’embodiment rientra nell’ampia area della somatica che definisce un campo di studio del corpo attraverso la prospettiva dell’esperienza personale in cui il soma (corpo) è soggetto e non più oggetto. B.B. Cohen nel meraviglioso libro Sensazione, Emozione, Azione. Anatomia esperienziale nel Body Mind Centering dice: “Quando il corpo fa esperienza di sé dall’interno, mente e corpo non sono separati ma percepiti come un tutto unico.”

Con la pratica dell’EMBODIMENT è possibile esplorare diverse aree: un processo artistico, un desiderio verso di sé, una parola, una tematica difficile, una scelta da prendere, una riscoperta morbida del movimento, una metafora che mi è cara. Nel lavoro di creazione artistica l’embodiment può essere utilizzato in diverse forme e modalità per nutrire i processi e trovare nuove possibilità creative.

Margherita Tassi

perfomer e formatrice. Attualmente ha dato vita al progetto PIANETA SOMA le sconfinate vie del corpo che nasce del desiderio di offrire ascolto, attenzione, dialogo e sensibilità ai corpi che abitiamo. Offre esperienze formative nel campo della somatica, dell’embodiment e dell’ecosomatica.